Sebastian Wolf

Treibsand

Sie saß da. Wartete. Wie immer. Seine Unpünktlichkeit war nicht gerade etwas Neues für sie, dennoch brachte dieses kleine Zeichen seiner Verachtung ihr gegenüber, sie jedes Mal zur Weißglut. Als hätte er es nicht nötig bei ihr pünktlich zu sein. Bei jedem Anderen war er für seine außerordentliche Unpünktlichkeit bekannt, nur bei ihr verspätete er sich routinemäßig um fünf bis zehn Minuten. Früher hatte sie diese Tatsache nicht gestört, sie hatte alles an ihm so akzeptiert wie es war, doch heute, ja heute, genau an diesem Tag, hasste sie ihn dafür. Dieses kleine, winzigkleine Zeichen der Bösartigkeit, dieses Gefühl in ihr, dass sie es nicht wert war, dass man für sie pünktlich war.

 

Nein, so etwas würde sie nicht länger dulden. Hier saß sie nun, in seinem Zimmer, wie vereinbart. Seine Mutter hatte sie hereingelassen, diese freundliche, alte Frau, die stundenlang in einem kleinen Geschäft in der Innenstadt arbeitete nur um sich und ihren Sohn über den Monat zu bringen und dafür nur Lügen und Verachtung erntete. In diesem Zimmer hatte Jenny schon oft gewartet, jedes Mal hatte sie die Jalousien heruntergelassen und im Dunkeln gewartet. Die Dunkelheit entspannte sie, es war angenehm kühl, sein Duft hing in der Luft. Diesen Duft wollte sie nie wieder riechen, nie wieder den Geschmack seines salzigen Schweißes schmecken oder in seine tiefblauen Augen sehen und immer das Gefühl haben unzulänglich zu sein. Heute würde es soweit sein. Endlich würde sie sich aus seinem Bann entziehen. Lange genug hatte sie es mit angesehen, sich seine kleinen Gemeinheiten gefallen und sich wie eine Sklavin behandeln lassen, die froh sein konnte, dass sie so jemanden wie ihn überhaupt bekommen hatte. Fast so als wäre seine Anwesenheit in ihrer Nähe ein Privileg, als hätte sie etwas viel Schlechteres verdient und müsste für seine Güte dankbar sein.

 

Lange hatte sie dieses Gefühl und diese Lügen akzeptiert und gelebt. Sehr, sehr lange, fast unendlich lange, wie es ihr jetzt vorkam, hatte sie sich genauso verhalten wie er es von ihr erwartet hatte. Schwach, so unendlich schwach. Er hatte alles mit ihr anstellen können, er wusste bestimmt um seine Macht über sie, war sich der unglaublichen Kraft seiner Liebe, wenn man es überhaupt so nennen konnte, auf sie bewusst. Und nutzte das natürlich schamlos aus, schließlich war er ein Schmarotzer und Parasit. Jedenfalls hatte Jennys Mutter ihn so genannt, doch Jenny hatte die Augen und Ohren verschlossen, wollte nichts von den Warnungen und gut gemeinten Ratschlägen hören, immerhin konnte sie so froh sein, ihn an ihrer Seite zu haben.

 

Doch damit war jetzt Schluss. Mit ihm war Schluss. Schon seit Wochen hatte Jenny sich auf diesen Augenblick vorbereitet, innerlich meditiert und sich alle möglichen Szenarien ausgemalt, wie sie es anstellen konnte. Doch sie würde ehrlich bleiben, Lügen hatten bei ihm keinen Sinn, er kannte sie zu gut, viel zu gut. Doch diesmal würde die Situation anders sein, da war sich Jenny sicher, immerhin fühlte sie sich so stark und geschützt, so allwissend und gut vorbereitet, dass nichts schief gehen konnte. Endlich würde sie die Kraft haben ihm die Stirn zu bietet und ihn endgültig aus ihrem Leben zu verbannen.

 

Denn die Magen- und Kopfschmerzen, die stundenlangen Sessions vor dem Spiegel, bei denen sie sich fragte warum sie nur so hässlich sein musste, das ungute Gefühl in der Magengegend, wenn sie ohne ihn unterwegs war, und das Gefühl von ihm abhängig zu sein, all das war sein verdienst. Er war wie Gift. Ein schweres, klebriges Gift, das sich in ihrem Kopf und ihrem Körper eingenistet und jede Pore durchzogen hatte. Sie gelähmt hatte, unfähig normal weiterzuleben, unfähig ihren Respekt und ihre Würde zu wahren. Doch nun hatte sie das Gegenmittel und würde dieses Gift aus ihrer Nähe vertreiben. Insgeheim hatte Jenny Angst. Wie das Leben ohne ihn sein würde, ob sie die Kraft haben würde ohne seine Stärke und seine Willenskraft, die ihr oft zur Seite gestanden hatten, wenn auch nur unbewusst, überleben konnte. Doch sie musste es wagen und hoffte insgeheim, dass dann alles wieder so werden würde wie früher.

 

Wie auf den Kinderfotos. Als sie noch dieses glückliche Lächeln auf dem Gesicht hatte, zufrieden mit sich und der Welt. Und ohne negative Gefühle oder Gedanken, die so schwarz und depressiv waren, dass sie niemals daran gedacht hätte, jemals so eine Leere verspüren zu können. Doch wenn er nicht da war, ging es ihr manchmal so. Wie als wäre sie von ihrer Lebensquelle abgeschnitten worden und nicht alleine fähig irgendetwas zu tun, nicht einmal die einfachsten Dinge.

 

Doch diese schreckliche Zeit sollte nun endlich vorbei sein. Jenny war sich nicht sicher ob sie die Beziehung beenden würde, wenn da nicht die Fotos gewesen wären. Fotos von einer kleinen Party in der Stadt. Er war da gewesen, mit irgendeiner blonden Schnepfe statt mit ihr. Die Fotos waren eindeutig und fremdes Rumgeknutsche war zuviel, selbst für Jenny. Zunge in Zunge sozusagen.

 

Als sie die Fotos gesehen hatte, blieb die Welt für sie stehen. Ihr war klar gewesen, dass er ihre Liebe nie erwidert hatte, doch dieser unbarmherzige Beweis seiner Kälte ihr gegenüber hatte ihr für Stunden die Fähigkeit klar zu denken geraubt. Später kam der Schmerz und die Demut, tief in ihr, wie Tumore bohrten sie sich durch sie, zerfraßen ihre optimistischen und positiven Gedanken, zogen sie immer tiefer in eine Spirale aus Schmerz und Angst.

 

Dies war der Auslöser gewesen. Und nun war sie hier. Zum letzten Mal, denn schon bald würde sie nicht mehr, nun schon 8 Minuten, in seinem Zimmer auf ihn warten. Jenny fragte sich was sie dann machen würde. Vielleicht konnte sie ihre früheren Freundschaften erneuern, die sie hatte abblitzen lassen müssen, da ihr zu der Anfangszeit der Beziehung alle Warnungen wie Neid vorgekommen waren. Immerhin sah er gut aus, war charmant, witzig und intelligent. Wer würde da nicht neidisch sein?

 

Doch im Grunde hatte Jenny keine Ahnung was sie tun sollte. Ihr ganzes Leben war auf ihn ausgerichtet, selbst wenn sie nicht bei ihm war, drehte sich alles um ihn. Um den Schmerz wegen ihm, der Sehnsucht, der Angst, der Demut. Doch mit diesen Gefühlen konnte Jenny nicht mehr leben. Sie musste endlich lernen wieder normal zu leben, gesund zu leben, frei zu leben.

 

Nun war der Moment gekommen. Sie hörte den Schlüssel im Schloss, einen kurzen Dialog mit seiner Mutter, ohne jegliche Bedeutungen, nur das besorgte Geschwätz von ihr und seine abfälligen, abweisenden Gegenworte.

 

Die Tür zum Zimmer öffnete sich, das helle Licht blendete Jenny und für einen Moment kam er ihr vor wie ein Engel, eingerahmt in helles Licht und von so unglaublicher Schönheit, dass es ihr an manchen Tagen nur genügt hatte ihn zu beobachten und jede seiner Bewegungen und Gesten wunderbar zu finden.

 

„Hey Süsse, tut mir leid, dass ich mich verspätetet habe, aber mein Bus kam zu spät.“, kam es aus seinem Mund und Jenny wusste, dass es eine Lüge war. Wie alles von ihm, wie alles was von ihm kam, wie er selbst und vor allem wie ihre Beziehung. Sie stand auf, wollte gerade zu einem Anfang ihrer Rede, die sie stundenlang vor dem Spiegel geübt hatte, ansetzen, als er sie küsste.

 

Seine Lippen schmeckten nach Erdbeeren, allerdings nicht wie Echte, sondern vielmehr wie Lippenstift. Ein dumpfer Schmerz durchzuckte sie, doch Jenny erwiderte seinen Kuss. Erst sanft, dann immer verlangender.

 

Gut, genau das hatte sie gebraucht. Jetzt fühlte sie sich wieder besser. „Ich bin so froh, dass du endlich da bist.“, erklärte sie mit zittriger Stimme, wohl wissend, dass auch das eine Lüge war, doch wenn man mit Lügner verkehrt ist es egal ob man selbst die Wahrheit spricht. Denn Wahrheit hat keine Bedeutungen, wenn sie ungenutzt bleibt. Er küsste sie wieder und Jenny ließ sich in seine Arme fallen.

 

Zwar ihr klar, dass sie eigentlich etwas Anderes vorgehabt hatte. Doch nun wusste sie auch, dass sie nur wirklich glücklich und entspannt war, wenn sie hier war, sich an seine starken Schultern kuschelte, seinen Geruch einsog und wenigstens für eine kurze Zeit alles perfekt schien.

 

Manche Beziehungen sind wie Treibsand, dachte Jenny. Man wird in ihn hineingezogen und es gibt keine Chance mehr aus dem Treibsand zu entkommen. Wenn man erst einmal tief genug in der matschigen Falle ist, fällt man. Man fällt und fällt, immer tiefer. Und das unendlich lang. Aber nur wenn man Glück hat. Denn was noch viel schrecklicher als der kräfteraubende Treibsand und das beängstigende Fallen ist, ist der dumpfe Aufschlag, die Erkenntnis, dass man auf dem dunklen Boden ganz alleine ist. Dieses Risiko konnte Jenny nicht eingehen. Und so fiel sie weiter.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.07.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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