Hermine Geißler

Die drei Straßen

Am Ende des Dorfes gingen drei Straßen auseinander: Die eine führte zum Meer, die andere in die Stadt und die dritte führte an keinen Ort.

Früher wäre ich nie auf die Idee gekommen, die Straße zu keinem Ort einzuschlagen, da ich nicht wußte, was mich dort erwartet.
Ich hatte Angst vor dem Ungewissen, und die Aussicht, vielleicht nichts anzutreffen, reizte mich nicht.

Damals schlug ich am liebsten den Weg zum Meer ein.
Von frühester Kindheit an war ich schon immer leidenschaftlich gerne geschwommen. Das Wasser war sozusagen meine zweite Heimat. Wenn ich von den Wellen getragen, auf dem Rücken, auf und ab schaukelte, hatte ich das unvergleichlich glückliche Gefühl, eins zu sein mit der ganzen Welt.
Getragen und geborgen im Kosmos von einer gewaltigen Macht. Vielleicht war es vergleichbar mit dem Gefühl des Säuglings im Mutterleib, obwohl ich mich daran natürlich nicht erinnern konnte.
Wenn ich diesen Weg zum Meer einschlug, unwiderstehlich angezogen vom Glück, was mich erwartete, spürte ich jedesmal wieder eine unbändige Vorfreude in mir wachsen, ein Sehnen nach dem wässrigen Element, wie bei einer Frau, die dem Mann ihrer Träume entgegenfiebert.
Diese Vorfreude steigerte sich noch, wenn sich allmählich das Rauschen des Meeres in meine Ohren schmeichelte und kam zu einer Art Höhepunkt, wenn ich endlich hinter den Büschen und Felsbrocken der Klippen den ersten blauen Fetzen schimmern sah.
Lag das Meer dann vor mir, in seiner gewaltigen Pracht, mit lauter, verschwenderischer Schönheit, war ich jedesmal wieder so überwältigt, daß ich vor Freude hätte weinen können. Manchmal tat ich das auch.

Nach meinem Bad im Meer saß ich immer mit angezogenen Beinen im Sand und schaute über meine Knie auf das leuchtende Blau mit den silbernen Glitzerstreifen. Dann kam ich mir vor wie in der Gemäldegalerie des Allerhöchsten, denn keinem irdischen Maler würde es je gelingen, die Farben so harmonisch aufeinander abzustimmen.

So ist es gewesen mit der Straße, die an das Meer führte.


Die andere Straße, die in die Stadt führte, bin ich damals auch oft gegangen. Immer dann, wenn ich mich vergewissern wollte, daß die Menschen verschieden sind, daß es viele gibt, und daß sie auf die Dauer anstrengend sind.
In der Stadt erschien mir das Leben oberflächlich, es rauschte vorbei wie ein Film, in dem alle nur Statisten sind und jeder meint, die Hauptrolle zu spielen.
Meistens fühlte ich mich einsamer als am Meer, richtig verloren kam ich mir oft vor. Trotzdem hatte es seinen Reiz, sich unter die Menschen zu mischen, die Geschäfte und das Treiben zu beobachten und Dinge zu kaufen, die eigentlich überflüssig waren.
Überflüssig kamen mir auch viele Gesten und Gespräche vor.
Wirkliche Begegnungen waren so selten, wie Perlen in einer Muschel.
Jedesmal kam ich sehr erschöpft und mit der Gewissheit zurück, daß ich diese Straße eine Weile nicht zu beschreiten brauchte.
Dann war ich beruhigt und zufrieden.

Nach all diesen Jahren zwischen Meer und Stadt stand ich vor der dritten Straße, die zu keinem Ort führte, und eine innere Stimme sagte mir, daß jetzt der richtige Zeitpunkt sei, diesen Weg zu nehmen.
Der Gedanke das Ziel nicht zu kennen, und keine Vertrautheit zu fühlen, übte plötzlich einen unwiderstehlichen Reiz auf mich aus.

Der Weg war nicht leicht, denn ich hatte wie immer viel Gepäck mitgenommen.
Am Anfang dachte ich daran umzukehren, denn es gab eine Menge Hindernisse zu überwinden. Oft schwitzte ich vor Anstrengung und ich hatte das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen.
Gleichzeitig wußte ich, daß es kein Zurück gab.

Ich warf nach und nach alle überflüssigen Dinge von mir.
Ständig mußte ich mir überlegen, von welchem Gepäckstück ich mich als nächstes trennen würde.
In solchen Momenten ruhte ich ein wenig aus und schaute mich um. Auf dem zurückliegenden Weg lag alles, was mir in einer anderen Zeit wichtig gewesen war und ich war erstaunt, daß ich mich so lange damit beschwert hatte.
Als ich am Ende nichts mehr hatte, was ich zurücklassen konnte, wurden meine Schritte federleicht.
Fast schwerelos schwebte ich über alle Hindernisse, wie in vergessenen Träumen.

Ich erreichte das Sein an keinem Ort.

Beschreiben kann ich ihn nicht, ich kann nur sagen, daß ich keine Erwartungen mehr habe und alles Sein lassen kann.
Es gibt keinen Vergleich mehr, alles ist vollkommen.
Ich kann jetzt fühlen, ohne etwas zu wollen und die Angst, mich zu verlieren, ist verschwunden.

Das Meer und die Stadt sind Inseln, die ich in der Ferne sehen kann.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.07.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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