Monika Mattig

Der Dolch

Wolfgang Meinert stellte den Motor ab. Seine Hand zögerte, ließ den Zündschlüssel stecken. Er lehnte sich im Sitz zurück. Starrte abwesend durch die Frontscheibe. 
      Meinert rang mit sich. 
      Er könnte den Wagen wieder starten, sich in die Pkw-Schlangen einreihen, anonym, einer von vielen, und nach Hause fahren ... Er schob seine Hand in die rechte Jackentasche, umschloss tastend den dort verborgenen Gegenstand. 
      Na los, bring’ es hinter dich!
     Entschlossen zog Meinert den Schlüssel ab und stieg aus.
     Vom Parkplatz am Zeughausmarkt bis zum Museum für Hamburgische Geschichte war es nicht weit. Doch schon nach wenigen Schritten lag ein feiner Schweißfilm auf seiner Stirn. Die Luft hing an diesem Augustabend gewitterschwül über der Stadt und Meinert wünschte sich, er hätte auf die Krawatte ver-zichtet. Vor dem Eingang des Museums prangte ein großes Plakat: Stadt der Schätze. Sonderausstellung vom 15. August bis 31. Oktober. Heute Abend sollte die Ausstellung mit geladenen Gästen eröffnet werden. Harro von Hartenfels, Mäzen, leidenschaftlicher Hamburger und Organisator der Ausstellung, würde die Eröffnungsrede halten.
     Na los, bring’ es hinter dich! 
     Meinert atmete tief durch und reichte der Frau am Portal seine Einladung.
     Der Raum war gut gefüllt, die Rede in vollem Gange. Meinert hielt sich im Hintergrund. Die Anwesenden lauschten dem stattlichen Mittfünfziger mit der sonoren Stimme am anderen Ende des Saales – Harro von Hartenfels schaffte es auch heute wieder spielend, die Menge in seinen Bann zu ziehen. Neben ihm stand Carla. Glänzendes, schwarzes Haar lag sanft auf ihren Schultern. Das gelbe Kostüm ließ die sonnengebräunte Haut intensiv erstrahlen. Carla war die einzige Frau der Welt, die mit der Farbe Gelb eine perfekte Symbiose einging.
     Carla, die Frau, mit der er über siebzehn Jahre verheiratet gewesen war und Harro –  sein bester Freund. Es schmerzte immer noch, obwohl die Scheidung fast zwölf Monate zurück lag. Es war seine Schuld. Zu viel Arbeit, zu wenig Zeit für Carla. Die übliche Geschichte. Und plötzlich standen sie beide vor den Scherben ihrer Ehe: Sie hatte sich, unbemerkt von ihm, ihr eigenes Leben aufgebaut. Ohne ihn. Mit Harro. Er blieb zurück in einem Gefühlstumult aus Enttäuschung, Wut, Schuld und verletzter Eitelkeit.
     Na los, bring’ es hinter dich! 
     Meinert ließ seine Hand wieder in Tasche gleiten, packte den Gegenstand. Ein italienischer Dolch aus dem 18. Jahrhundert. Vierkantklinge. Reich verzierter Griff. Das wertvollste Stück in seiner umfangreichen Stichwaffensammlung. Seine Finger strichen fast zärtlich über das kalte, glatte Metall und er fuhr vorsichtig an der scharfen Schneide entlang.
     Er musste den richtigen Moment wählen. Musste alles zu einem Abschluss bringen, damit er seinen Frieden fand. Es würde Aufsehen erregen.
     Na los, bring’ es hinter dich! 
     Meinert bahnte sich einen Weg durch die Herumstehenden. Getuschel und Gesprächsfetzen waberten verschwommen durch sein Hirn. "Ist das nicht ...?" "Sie wollte die Scheidung ..." "... waren die besten Freunde ..."
     Carla sah ihn zuerst. Ihre Augen weiteten sich überrascht, bevor sie sich vor Besorgnis verengten. Sie waren sich seit Monaten nicht mehr begegnet – er hatte jedes mögliche Zusammentreffen mit ihr vermieden. Dann bemerkte ihn auch Harro. Nur sekundenlang ein leichtes Stirnrunzeln, ein fragender Blick, und schon strahlte er wieder seine ihm eigene Ruhe aus. Er legte den Arm um Carla.
     Na los, bring' es hinter dich! 
     Der Schweiß trat Meinert aus allen Poren, obwohl es im Saal angenehm kühl war. Sein Hemd klebte wie eine zweite Haut auf seinem Körper. Er hatte Carla und Harro fast erreicht. Das Stimmengewirr schwoll an und brach abrupt ab, als er vor den beiden stehen blieb.
     Totenstille.
     Na los, bring' es hinter dich! 
    "Wolfgang." Alles lag in diesem einen Wort von Harro: Bedauern. Schuld. Freude. Freundschaft.
     Na los, bring' es hinter dich! 
     Meinert zog den Dolch aus seiner Jackentasche. Es folgte der hysterische Aufschrei einer ängstlichen Dame und nervöses Füße scharren von einigen ratlosen Herren. Meinert senkte den Blick auf das kostbare Kleinod in seiner Hand, auf die beeindruckende, kunstvolle Arbeit eines unbekannten Meisters, und nahm jede kleine Einzelheit in sich auf. Ein Waffe, groß genug um zu töten.
     Na los, bring' es hinter dich. 
     "Ich ..." Die Stimme klang rau, als ob sie das Sprechen nicht mehr gewohnt war. Meinert räusperte sich, holte tief Atem und setzte erneut zum Reden an.
     "Ich ... ich dachte mir, du ... ihr würdet euch über ein weiteres Exponat freuen ..."
     Er überreichte Harro mit leicht zitternden Händen den Dolch. Die drei Menschen sahen sich schweigend an. Befreit. Erleichtert. Dankbar.
     Hinter ihnen fing jemand zu klatschen an, dem schnell alle folgten. Plötzlich redeten alle wie auf Kommando gleichzeitig und durcheinander. Verstohlen wurden die Handys gezückt.
     Meinert lächelte leise, wandte sich um und ging auf das Portal zu.
     Es war ein Anfang.
 
© Monika Mattig 2005
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.07.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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