Julia Wobken

Lebst du?

 
Ich saß an meinem Schreibtisch. Das kleine stickige Büro, in dem er stand, war quasi mein zweites Zuhause. Hier herrschte immer eine besondere Stimmung.
Ein schlichter Deckenventilator kreiste über meinem Kopf und wenn ich aus dem Fenster sah, fiel mein Blick auf den kleinen jüdischen Friedhof an der gegenüberliegenden Straßenseite. Es war nicht so, dass mich der Anblick des Friedhofs missmutig stimmte. Nein, ich schaute immer aus dem Fenster, wenn ich nachdenken musste. Und wenn ich dann das verwitterte Friedhofsschild über dem Eingang beobachtete, wie es leise im Wind an seinen Ketten schaukelte, dann fiel mir immer etwas ein. Fast immer brachte mir der Friedhof eine Idee, die zum Lösen eines Falles führte, doch heute brachte er mir nichts.
Vielleicht lag es daran, dass es kein Verbrechen war, das mich beschäftigte, es war nur eine Frage, die mir ein Kumpel gestellt hatte. Eine einfache Frage, die mir Kopfzerbrechen bereitete.
„Lebst du?“, hatte er mich gefragt. „Natürlich, sonst könnte ich doch nicht hier neben dir sitzen.“, hatte ich verwirrt geantwortet. Mein Kumpel hatte nur den Kopf geschüttelt. „Ich meine, lebst du wirklich? Weißt du, was du willst, was dein Leben für dich bedeutet? Oder bist du nur ein Gefangener deines Jobs, des alltäglichen Lebens?“
Er hatte mir tief in die Augen gesehen und dann gesagt: „Wenn du weißt, dass du lebst, und zwar so, wie ich es meine, dann ruf mich an.“ Danach war er gegangen. War aufgestanden und gegangen. Ich hatte mir keine weiteren Gedanken darüber gemacht. Ich wusste nicht einmal mehr, wie er darauf gekommen war, mir diese Frage zu stellen. Doch jetzt, wo ich wieder in meinem Büro saß und gerade nichts zu tun hatte, kam die Frage wieder in mir hoch, schälte sich aus meinem tiefsten Inneren, bis in meine Gedanken. „Lebst du?“ Was hieß es eigentlich genau? Stimmte es? War ich wirklich ein Gefangener meines Jobs? Dieses Büros? Womöglich dieser Stadt? Seit ich mich erinnern konnte, hatte ich hier gelebt. Seit meiner Geburt hatte ich diese Stadt nicht verlassen. Je länger ich darüber nach dachte, desto mehr wurde mir klar, dass mein Leben zur Routine geworden war. Ich tat nur noch, was ich gewöhnt war. Jegliche Spontaneität war aus meinem Leben gewichen. „Lebst du?“ Mir fiel keine Antwort auf diese Frage ein. Ich beschloss mir ein bisschen die Beine zu vertreten. Vielleicht brachte mich ja die frische Luft ein wenig auf andere Gedanken oder womöglich auf die Lösung.
Ich brauchte nur die Treppe hinunter, durch die Haustür und über die Straße zu gehen, schon stand ich vor dem eisernen Tor des Friedhofes. Es quietschte, als ich es öffnete und dann hinter mir wieder schloss. Ich folgte dem gut gepflegten Sandweg entlang der Gräber. Große Grabsteine von ehemals stolzen jüdischen Familien, geschmückt mit kunstvoll gemeißelten Figuren standen auf breiten Gräbern, auf denen sich Kieselsteine stapelten, hingelegt von den Angehörigen, die um die Verstorbenen trauerten. Einige Grabsteine waren von Efeu überwuchert und verdeckten längst vergessene Namen wie eine grüne Decke. Ein paar Steine waren auch erneuert worden. Im letzten Jahr hatte eine Gruppe von jungen Nazis viele Grabsteine zerstört. Die Täter waren schon längst erwischt und hinter Schloss und Riegel gebracht worden. Nur diese neuen Grabsteine und zwei zerstörte erinnerten noch an diese Gräueltat.
Auf dem Friedhof war es vollkommen still. Kein Vogel war zu hören. Wahrscheinlich hatten sie morgens kurz die Augen aufgeschlagen, den tristen grauem Himmel erblickt und waren gleich in ihrem Nest geblieben. Oder es war die Friedhofstimmung, die die Vögel davon abhielt, sich in die im Winter kahlen Bäume zu setzen und zu singen? Mir machte das nichts aus. Ich liebte diese Totenstille. Ich konnte dabei einfach besser nachdenken.
Ich bog in einem Quergang ab. Etwa zehn Meter vor mir kniete ein Mädchen auf dem Boden. Sie schien etwa fünfzehn Jahre alt zu sein. Von ihrem Gesicht war nichts zu erkennen, denn sie verbarg es in ihren Händen. Und ihr langes rotes Haar verdeckte den Rest. Ab und zu waren kleine Schluchzer zu hören. Ich wollte hingehen und sie trösten, doch ich hörte etwas. Etwas, dass mich stutzig machte. In meinem Beruf ist es normal, auf jedes Geräusch, dass nicht an einen bestimmten Ort passte misstrauisch zu reagieren. Das, was ich hörte, gehörte eindeutig nicht hierher. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass jemand auf das Mädchen zu ging. Ein Mann kam mit großen Schritten durch die Bäume und bahnte sich seinen Weg durch die Grabsteine. „Marie“, rief er, „komm zu mir.“ Erschrocken sah sich das Mädchen um, schüttelte den Kopf. „Nie, nie komme ich zu dir zurück.“, schluchzte sie
„So soll es sein. Kündige dich deinen Eltern schon mal an, du wirst gleich bei ihnen sein.“
Ich hatte keine Ahnung, was dieses Gespräch sollte. Keiner von beiden schien mich zu bemerken. Ich sah erst, wie das Mädchen zitternd die Lippen bewegte, als flüsterte sie etwas und dann, wie es den Kopf flehend zum Himmel bewegte.
Und dann wusste ich, welches Geräusch mich eben verwirrt hatte. Das Laden eines Gewehrs. Der Mann hielt eines in der Hand, hob es langsam, legte an, zielte. Ohne nachzudenken lief ich auf den Mann zu, um ihn aufzuhalten. Ich kam in die Schusslinie, er drückte ab. Ich spürte wie mich eine Welle von Schmerzen durchflutete, fiel auf die Knie, sah, wie der Mann fluchte und erneut das Gewehr hob. Ich warf einen Blick zurück auf das Mädchen. Sie hatte den Blick von den Wolken abgewandt und starrte jetzt auf die Mündung des Gewehrs und dann auf mich. Schon war ich wieder auf den Beinen, beachtete den Schmerz in meinem linken Arm nicht und stürmte auf den Mann zu. Bevor ein er zweites Mal abrücken konnte, holte ich mit der rechten Faust aus  und schlug ihm ins Gesicht. Er fiel zu Boden, das Gewehr immer noch in dem Hände. Ich trat danach, bis er es losließ, packte es mit meiner unverletzten Hand und schleuderte es in die Büsche. Schon stand der Mann wieder vor mir. Erst jetzt viel mir auf, was für ein Hüne er war. Ich sah mich um. Hinter mir stand die Schubkarre des Friedhofgärtners. In ihr steckte ein Spaten. Eine nützliche Waffe. Der Mann hob schon die Faust zum Schlag, während ich blitzschnell hinter mich griff und den Spaten trotz der Schmerzen in beide Hände nahm. Ich dreht mich zur Seite und ließ den Spaten auf das Haupt meines Gegners fallen. Er fiel bewusstlos zu Boden. Eine weitere Schmerzenswelle durchzuckte mich.
Mit einem Schmerzensschrei ließ ich den Spaten fallen und sank auf die Knie. Blut strömte aus meiner Wunde am Arm und färbte mein Jackett rot. Schwer atmend legte ich mich auf den Boden neben meinem Gegner. Ich schloss kurz die Augen und als ich sie wieder öffnete, sah ich in die Augen des Mädchens. Sie waren braun. „Hast du ein Handy, Marie?“, fragte ich sie leise. Sie nickte und gab es mir. Ich wählte die Nummer meines Kumpels. Als er sich meldete sagte ich erschöpft: „Ich weiß jetzt was du meinst.“
„Und? Lebst du?“
„Ja, ich lebe“
Dann gab ich Marie das Handy zurück. Sie starrte mich an. Ich lächelte ihr zu, dann wurde mir schwarz vor Augen und ich kippte zur Seite.
Das nächste an das ich mich erinnern konnte, war ein grelles Licht und das lächelnde Gesicht des Mädchens vom Friedhof, neben einem Blumenstrauß.
Und ich fragte sie: „Lebst du?“
 

Wieder mal ein Schulaufsatz. Ich geb's zu, nicht gerade realistisch und auch sehr unlogisch. Aber es ist alles drin, was vorgegeben war:). Ein Gewehr, ein Friedhof und eine komische (ich hab das als "seltsame" interpretiert) Frage. Wer will kann die letzten beiden Sätze auch weglassen, dann ist es vielleicht ein bisschen spannender ;)Julia Wobken, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.07.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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