Guido J.F. Gdowzok

Grüne Tomaten

Eben habe ich in der U-Bahn diese schöne Frau mit dem schwarzen T-Shirt gesehen. "Nachtschattengewächs" stand darauf in einfachen, weißen, bestens lesbaren Buchstaben. Sie kam die Treppe hinab. "Nachtschattengewächs" las ich. Offenbar war es ihr wichtig, als Nachtschattengewächs identifiziert zu werden, möglichst schon von Ferne. Ich konnte nicht ausmachen, ob es sich bei den weißen Lettern gar um Leuchtbuchstaben handelte, die auch bei Nacht und bei Schatten sichtbar wären.
 
Da ich in der U-Bahn kein botanisches Lexikon zur Hand hatte, musste ich mein zugegeben Halbwissen über Nachtschattengewächse bemühen. Meines Wissens zählen die Tomate und die Kartoffel zu den Nachtschattengewächsen. Während nun die Tomate mit ihren roten, süßen Früchten und ihrem würzigen Duft durchaus zum Aphrotisiakum taugt und ich so in dem T-Shirt durchaus eine erotisch Anspielung vermuten könnte, versagt diese Vorstellung bei der Kartoffel, für die ich mich bestenfalls in Stifte geschnitten und fritiert erwärmen kann, die mich als Pürree aber kalt lässt.
 
Zudem, so erinnerte ich mich, zeichnen sich Nachtschattengewächse dadurch aus, dass ihre Früchte erst reif zu genießen sind, weil sie im unreifen, grünen Zustand noch giftig sind. War das T-Shirt also eine Warnung: "Vorsicht, unreif, grün und giftig"? Oder ein süßes Versprechen: "Hallo, demnächst genießbar und saftig"? Doch waren ihre Lippen nicht zu rot, um noch grün zu sein? Vielleicht gehörte sie auch zu der Sorte, die je reifer, umso giftiger würde? Nein.
 
Sie trug einen schwarzen Rock, so lang, dass sie ihn beim Hinabgehen der Treppe etwas heben musste, um nicht unabsichtlich, unfreiwillig die staubige Treppe damit aufzuwischen oder etwa auf den Rocksaum zu treten. Nur ganz kurz wurden ihre Fußknöchel sichtbar. Mir fiel auf, dass ihr Rock und das Anheben nicht nur vornehm aussahen, sondern auch einem sonst häufig unbeachteten Vorzug weiblicher Anatomie zu Ansehen verhalfen, der Fessel nämlich. Wo ein kurzer, sich der Bikinizone nähernder Rock diesen Anblick geradezu verramscht und manche Minirockträgerin durch ein Fußkettchen oder eine Tätowierung oder eine Hennamalerei dem entgegenzuwirken versucht, verlieh ihr langer, schwarzer Rock dieser Körperpartie einen ganz besonderen Wert. Nämlich den einer nur kurz und nur sehr selten zu bestaunenden Kostbarkeit, so wie die Reliqien des Doms zu Aachen, die nur alle sieben Jahre den Blicken der Pilgerer preisgegeben werden.
 
Eine interessante Frau also, die ihre Fußknöchel unter Verschluss hält wie der Aachener Dom seine Monstranzen und sich botanisch wohl der Tomate verwandt fühlt. Ich hätte sie gern dazu befragt, doch sie verschwandt, so schnell wie sie Treppe hinab kam, mit der U2 in Richtung Messestadt Ost.

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