Susanne Fletemeyer

Das Buch

Die Straße war ganz naß. Seine braunen Schuhe spiegelten sich in den Pfützen, die er sorgfältig umging, als er mit staksigen Schritten zum Schaufenster gelangte. Regentropfen perlten von der Scheibe und funkelten im Sonnenlicht. Er lehnte die Stirn gegen das kalte Glas und ließ den Blick über den Inhalt des Schaufensters gleiten, bis er fand , was er suchte. Es war noch immer da. Erleichtert klemmte er den Regenschirm unter den linken Arm, stieß die Tür mit der rechten Schulter auf und stolperte hinein. Drinnen war es warm und dämmerig. Hier schien die Zeit stehengeblieben zu sein.
Minna saß auf der Ecke des alten Rollwagens, auf dem sich die Neueingänge stapelten. Sie hakte die Titel von der Liste ab, nicht ohne zwischendurch immer wieder zu der geblümten Porzellantasse zu greifen und sie geziert an den Mund zu setzen. Sie hob die Brille, die sie seit ewigen Zeiten an der goldenen Kette um Ihren Hals trug , hielt sie kurz vors Gesicht und musterte den Eindringling. "Ach Du", sagte sie leise und lächelte. Sie ließ die Brille baumeln und wandte sich der Liste wieder zu.
Der Junge war ihr ans Herz gewachsen. Sie kannte ihn, seit er mit seiner Mutter vor zwei Jahren in das Haus gegenüber gezogen war. Die hatte es nicht leicht gehabt, nach der Scheidung in einer neuen Stadt, ohne Freunde und Verwandte. Von dem Vater des Jungen hatte sie nur einmal gesprochen. "Ich will nichts von ihm, außer in Ruhe gelassen zu werden" hatte sie ruhig und bestimmt gesagt, den Jungen angesehen und ihm über das Haar gestrichen. Zweimal die Woche kam sie nach der Arbeit und putzte den Laden. Minna mochte ihre freundliche und ruhige Art, wenn sie auch manchmal dachte, der Junge könnte etwas mehr Heiterkeit gebrauchen. Sie blickte von der Liste auf und rückte die Brille auf der Nase zurecht. Der Junge stand noch immer am Eingang, hielt den tropfenden Schirm und musterte sie. "Die hat er von seiner Mutter", dachte Minna, "diese ernsten dunklen Augen, die viel älter wirken als sie sollten".
"Draußen scheint die Sonne. Du solltest hinausgehen, an die frische Luft, anstatt mal wieder hier herumzuhocken" sagte sie laut und runzelte in gespielter Entrüstung die Stirn. "Darf ich?" Seine Stimme war ganz dünn und heiser. Er wies mit dem Kinn auf das Schaufenster, wo das Buch auf dem weinroten Samtkissen ausgestellt war und stieg vor Aufregung von einem Bein auf das andere. "Aber nicht so lange" sagte sie drohend und ließ die Augenbrauen tanzen. Ihre hellgrauen Augen lachten ihn an. Schon lag der Schirm auf dem Boden. "Moment! Erst die Finger!" Der Junge schnaufte unwillig, drehte sich auf dem Absatz herum und hob die Hände. "Eben gewaschen". Sie bekam einen vorwurfsvollen Blick zugeworfen und mußte lachen. Schon kniete er auf dem niedrigen Fensterbrett, langte nach dem dicken Einband und holte ihn vorsichtig hervor. Dann trollte er sich schnurstracks an seinen Lieblingsplatz.
Mit gekreuzten Beinen hatte er schon so manchen Nachmittag in der Buchhandlung verbracht, den Kopf gesenkt und selbstvergessen lesend auf dem Fußboden in der Ecke neben dem Regal mit der Aufschrift Romane A-Z. "Du wirst einen Buckel bekommen" sagte sie stets, wenn sie Ihn dort sitzen sah und schüttelte amüsiert den Kopf. Als Antwort bekam sie höchstens ein abfälliges Grunzen. Er verschlang die Bücher wie andere Kinder Süßigkeiten. Speziell dieses Buch hatte es ihm angetan. Es war antik, mit besonders schön verziertem Ledereinband, in dem funkelnde Halbedelsteine kunstvoll eingearbeitet waren. Fast ehrfurchtsvoll öffnete er es an der Stelle, wo er das Lesezeichen - ein dunkelgrünes Seidenband - hinterlassen hatte. Anfangs hatte sie gezögert, Das Buch war selten und wertvoll. Es hatte einige Zeit gedauert, bis er sie überreden konnte. "Warum nicht" hatte sie schließlich gedacht. "Soll es doch noch einmal richtig und mit Staunen gelesen werden, bevor es in einer Sammlervitrine landet, nur um einmal in der Woche abgestaubt zu werden." Außerdem ging das Geschäft mit den antiken Büchern in letzter Zeit nicht mehr so gut, als daß jemand Interesse an so einem Kleinod gehabt hätte. Die Leute kauften lieber die preiswerten Taschenbücher, möglichst die Neuerscheinungen, die gerade "in" waren.
Staunend hatte der Junge über die verschnörkelten Anfangsbuchstaben gestrichen, die kunstvoll farbig und golden unterlegt waren, mal wie eine Blumenranke aussahen oder beim näheren Hinsehen ein verschmitztes Kobold- oder Tiergesicht preisgaben. "So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen!" Die Ehrfurcht in seiner Stimme ließ Minna alle Bedenken vergessen. Fast war es so, als wäre das Buch für den Jungen bestimmt. Wenn er verzückt in seiner Ecke saß, das Buch auf den Knien, schien es von innen her zu leuchten und bunte Reflexe auf das Antlitz des Jungen zu zaubern. Minna seufzte. Am Morgen hatte sich ein älterer Herr für das Buch interessiert. Lange hatte er vor dem Schaufenster gestanden, bevor er in den Laden kam. Ein vornehmer Herr im schweren Mantel und mit eisgrauem Haar. Bedächtig hatten seine lederbehandschuhten Hände mal hier und da in das Regal gegriffen, an dem das hölzerne Schild mit der Aufschrift Antiquariat hing. Er stellte die Bücher nicht wieder zurück, sondern ließ sie achtlos auf das niedrige Podest vor dem Regal fallen, wobei er die linke Augenbraue verächtlich hob. "Das Buch da, im Fenster" hörte sie ihn sagen. "Frühes achtzehntes Jahrhundert?". Er spreizte die Finger seiner linken Hand und wedelte in die Richtung, ohne sich umzudrehen. Zögernd war sie hinter dem Tresen hervorgekommen. "Ein besonders schönes Stück. Enzyklopädie der Tier- und Pflanzenwelt, um 1789. Wollen Sie es näher betrachten?" Sie hatte das Buch aus dem Fenster geholt und auf den Tresen gelegt. Mit Kennermiene hatte er es befingert und die Mundwinkel hochgezogen. "Das sollte wohl ein Lächeln sein" hatte sie gedacht. In ihrem Innern regte sich das unwillig Etwas, daß sie immer überfiel, wenn sie bemerkte, daß jemand die Bücher nicht liebte. "Gut erhalten, ich hätte schon Interesse daran." Er schaute auf die Uhr. "Habe gleich einen Termin, vielleicht komme ich morgen noch mal vorbei." Er ließ den Blick durch den Laden streifen und zwinkerte nervös. "Ich denke nicht, daß ich das Buch zurücklegen lassen muß, nicht wahr?" Die Türglocke war schon längst hinter ihm verklungen, doch Minna hatte noch lange das Gefühl, als hätte er ein Stück Kälte aus seiner Welt bei ihr zurückgelassen. Das Schellen der Glocke riß sie aus den Gedanken. "Wenn man vom Teufel spricht..." dachte sie sogleich, als er wieder vor ihr stand. "Tut mir leid", sagte sie ruhig und lächelte. "Es gab noch einen anderen Interessenten. Das Buch ist leider schon verkauft".

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.07.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Marion Batouche, geb. 1962 in Waren an der Müritz; lebt zur Zeit mit ihrem Mann und ihren beiden erwachsenen Kindern in Lilienthal bei Bremen. Sie arbeitet seit dreizehn Jahren als Sachbearbeiterin in einer Bremer Im- und Exportfirma und füllt ihre Freizeit damit aus, Gedichte zu schreiben.

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