Du sitzt da und weißt, dass es vorbei ist. Dein Blick ist auf den Boden gerichtet, während du aus den Augenwinkeln wahrnimmst, wie ich mich wieder anziehe. Aus den Lautsprechern der Stereoanlage dröhnt Musik. Trotzdem ist das Schlafzimmer erfüllt von Stille. Du erinnerst dich daran, wie wir in einer Bar in Manhattan waren und dort genau dasselbe Lied lief wie jetzt gerade und wir uns unglaublich betranken und nach hause getragen werden mussten. Einen kurzen Moment lang lächelst du und willst mir von dieser Erinnerung erzählen. Dann wird dir wieder bewusst, dass es nichts mehr zu sagen gibt. Du beisst dir auf die Zunge, um nicht zu schreien. Nach einiger Zeit fühlt sie sich wunderbar taub an und führt dich zu der Frage, ob das mit deinem Herzen auch funktionieren würde. Du glaubst es nicht. Wenn der ganze Schmerz, von dem es gerade erdrückt wird, es nicht betäuben kann, dann werden es banale körperliche Schmerzen auch nicht fertig bringen. Stunden scheinen zu vergehen, auch wenn das Weiterlaufen der CD das Gegenteil beweist. Du schließt deine Augen in der verzweifelten Hoffnung, der Situation entkommen zu können. Natürlich funktioniert es nicht. In deinem Kopf sind Bilder von meinem aufgeklappten Koffer, meinen zusammengefalteten Kleidungsstücken, den halbleeren Regalen, die jetzt die ganze Wohnung erfüllen. Die Vorstellung, wie leer alles sein wird, nachdem ich aus der Tür gegangen bin, lässt dich hochfahren. Ich sehe auf und unsere Blicke treffen sich. Keiner bringt ein Wort über die Lippen. In einem Film würden wir jetzt aufeinander zu stürzen, uns in den Armen liegen und erkennen, dass wir ohne einander nicht leben können. In der Realität senke ich den Blick und räume meine CDs in den Koffer. Du hältst es nicht mehr aus und verlässt das Schlafzimmer. Im Gang begegnest du dem Poster, das uns beide am Strand zeigt. Wir liegen im Sand und geben uns einen innigen Kuss. Ich habe immer Witze darüber gemacht, dass es aussieht, als wäre es aus einem Urlaubsprospekt. Auf einmal ist die Frage, was mit diesem Poster passieren wird, unglaublich wichtig. Du überlegst dir, dass du es wirklich an ein Reisebüro verkaufen könntest. Oder an ein Magazin, das einsame Singles in den Selbstmord treiben will. Hinter dir hörst du Geräusche, aber du versuchst, es zu ignorieren. Selbst als du meinen Atem im Nacken spürst, richtest du weiterhin deine ganze Aufmerksamkeit auf das Poster. Mit einer einzigen Bewegung habe ich es von der Wand gerissen. Ich lasse es auf den Boden fallen, nehme wieder meinen Koffer hoch und schleppe ihn zur Wohnungstür. In jedem Zimmer steht noch mindestens ein Karton, in dem Sachen von mir sind. Ich weiß nicht, wie ich sie alle die Treppe hinunter zum Auto tragen soll. Auf einmal fühle ich mich total überfordert. Die ganze Welt stürzt auf mich ein, zertrümmert mich. Ich sacke auf dem Boden zusammen und fange an, zu weinen. Ich wollte es mit Anstand hinter mich bringen, aber ich versage auf ganzer Linie. Mein Herz zerbricht in mir und die Scherben bohren sich tief in mein Fleisch. In diesem Moment bin ich davon überzeugt, dass ich an inneren Blutungen sterben werde. Es wird keinen Morgen mehr geben und meine Sachen werden von meinen Erben abgeholt werden. Der Gedanke gefällt mir. Du stehst hinter mir und betrachtest meinen Körper, der von Weinkrämpfen geschüttelt wird. Deine Augen füllen sich mit Tränen, während du dich am Türrahmen festklammerst. Du konntest es noch nie ertragen, mich leiden zu sehen. Früher hast du mich immer in den Arm genommen und mir Don`t cry vorgesungen, bis es mir besser ging. Wie gern würdest du das jetzt wieder tun. Aber es ist zu spät. Wir beide wissen das und doch können wir es immer noch nicht ganz glauben. Was ist passiert? Was haben wir falsch gemacht? Wo war die Kreuzung, an der wir die falsche Abzweigung gewählt haben? Wie hätten wir es verhindern können? Es gibt keine Antworten auf all die Fragen, die in uns kämpfen und nicht zulassen wollen, dass wir aufgeben. Die CD ist zu Ende und mein Schluchzen wird ohrenbetäubend laut. Ich will nicht hier sitzen und heulen. Ich will dich nicht verlassen. Wie alt war ich, als ich gelernt habe, dass es keine Rolle spielt, was ich will? Zu alt. Ich kann es ja noch nicht mal jetzt akzeptieren. Du hast dein Gesicht mittlerweile zwischen deinen Armen vergraben und weinst stumm hinter mir.
Irgendwann stehe ich auf, nehme meinen Koffer und verlasse die Wohnung. Die Tür fällt hinter mir ins Schloss und ich weiß, dass es vorbei ist.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.07.2006.
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