Jessica Idczak

Die Welt ist eine Lüge

Schwarze Nacht. Kein Stern ist am Himmel zu sehen. Völlige Stille. Kein Wind weht. Alles liegt ruhig und friedlich zu meinen Füßen. Ich stehe hier an dieser Klippe, scheinbar endlose Weite unter mir. Die Lichter der Stadt schimmern in der Ferne, ein leichter Nebel hängt über den Dächern. Langsam gehe ich einen Schritt vor und beuge mich leicht nach vorne. Ich gerate ins Wanken, fange mich aber schnell wieder. Die Flasche Rotwein in meiner Hand ist fast geleert. Trockener Rotwein. Etwas, was ich sonst nie trinke. Ich schaue an mir herab. Ein bodenlanges weißes Kleid schmiegt sich eng an meinen Körper. Weiß steht für Reinheit, Unschuld. Ich muss lachen. Kein Wunder, dass ich so selten Weiß trage. Es passt einfach nicht zu mir. Schwarz steht mir besser.
Mit einem Kopfschütteln leere ich die Flasche und werfe sie weit von mir Richtung Stadt. Es dauert eine Weile, bis ich ein leises widerhallendes Klirren höre. Ich drehe mich um und gehe die wenigen Schritte zu meinem Rucksack, der im Dunkeln liegt. Noch während ich mich ins Gras fallen lasse, ziehe ich die nächste Flasche heraus. Schnell ist der Deckel abgeschraubt. Billigwein aus dem Supermarkt um die Ecke, mit Schraubverschluss. Zum Betrinken immer gut. Andererseits, wann soll ich den guten Wein trinken, wenn nicht jetzt? Eine Flasche italienischen Riserva habe ich mir zum krönenden Abschluss mitgebracht. Abschluss. Ein seltsames Wort. Klingt nach Schule oder Ausbildung. Aber es wird ein Abschluss sein. Ein Ende. Das Ende eines Lebens. Eine leise Stimme ertönt in meinem Kopf.

„Du hast ja doch nicht den Mut, dein Leben zu beenden, du erbärmlicher Feigling.“
Ich ignoriere sie. Natürlich habe ich den Mut, diesem Leben ein Ende zu setzen. Was gibt es denn hier auch für mich? Freunde? Trocken lache ich auf. Was bedeutet Freundschaft in dieser Welt? Hat sie überhaupt noch einen Wert für die Menschen? Nach meinen Erfahrungen kann ich diese Frage klar mit einem Nein beantworten. Und was ist mit Liebe? Wieder will ich auflachen, doch das Lachen bleibt mir im Halse stecken. Tränen brennen in meinen Augen. Ich blinzele sie weg.
„Nur keine Schwäche zeigen.“
Da ist diese leise Stimme wieder, und diesmal kann ich sie nicht ignorieren.
„Du weißt, dass Weinen eine Schwäche ist.“
Wut packt mich, Wut über die Gehässigkeit dieser Stimme, und ich balle die Hände zu Fäusten, sage stumm, dass die Stimme verschwinden soll. Doch sie hört nicht auf mich. Wispernd und zischend spricht sie weiter auf mich ein.
„Du Schwächling. Ja, heul nur, du bist erbärmlich.“
Sie lacht böse, während heiße Tränen über meine Wangen fließen. Ich lasse den Kopf sinken, das Kinn berührt meine Brust. Langsam entspanne ich meine Hände, öffne die Fäuste und falle auf die Knie.
„Ganz genau, runter in den Dreck mit dir, wo du hingehörst, du erbärmliches Stück. Schau dich doch an. Wie du da kauerst und heulst wie ein kleines Gör, dem sein Spielzeug weggenommen wurde.“
„Hör auf“, schluchze ich leise. „Nicht Spielzeug hat man mir genommen, sondern eine Chance. Die Chance auf mein Leben.“ Ein höhnisches Lachen erklingt. „Dein Leben ist eine einzige Lüge!“
„Ich weiß“, flüstere ich, „ich weiß.“

Meine Hand greift wieder nach der angebrochenen Flasche Wein. Ich lege den Kopf in den Nacken, starre mit tränenden Augen in den schwarzen Himmel und leere die Flasche in einem Zug. Zitternd richte ich mich auf und gehe die wenigen Schritte bis zum Abgrund. Ein Blick auf die Lichter der Stadt, die vor meinen blauen Augen verschwimmen. Ich hole weit aus und die zweite Flasche des Billigweins gesellt sich im Abgrund zu der ersten. Wieder lausche ich, bis ich das Geräusch des Aufpralls höre. Das Splittern des Glases hallt ganz leise wider, wirkt unecht, unreal. Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht und mit dem Handrücken fahre ich über meine Wangen, um die Tränen abzuwischen. Unecht, wie mein Leben, wie diese Welt.
Wieder drehe ich dem Abgrund und der Stadt den Rücken zu, gehe langsam zurück zu meinem Rucksack, der verlassen im feuchten Gras liegt. Eine letzte Flasche Wein befindet sich noch darin. Der Riserva, ein italienischer schwerer Rotwein, eine Empfehlung des Weinfachhandels. Ich lasse mich ins Gras sinken und krame nach meinem Korkenzieher. Kein Billigschraubverschluss, sondern edler Korken. Ein würdiger Wein für ein würdiges Verlassen dieser Erde. Sogar ein Weinglas habe ich mitgebracht.
Mit einem leisen Plopp-Geräusch springt mir der Korken entgegen. Die Nase direkt über der Flaschenöffnung atme ich tief ein und sauge den herbsüßen Geruch des Weines in mir auf. Ich gieße das Glas halbvoll, ziehe den Stoff des Kleides hoch und klemme die Flasche zwischen meine Beine. Wäre schade, würde sie umfallen und ich den guten Wein verschütten. Jeder Tropfen ist kostbar. Und der letzte soll auf meinen Lippen verdunsten. Vorsichtig hebe ich das Glas an meinen Mund und trinke einen kleinen Schluck. Sofort merke ich, wie sich eine Wärme in mir ausbreitet, als der Wein den Weg durch meine Speiseröhre zum Magen fließt. Mich schwindelt leicht und wieder verschwimmt mein Blick, was mir aufgrund der Dunkelheit nichts ausmacht. Ich schließe die Augen und ignoriere, dass die Welt sich um meinen Kopf dreht. Meine Gedanken driften ab, ich versinke in Erinnerungen an die wenigen schönen Augenblicke, die ich auf dieser Welt erleben durfte.

Wie ich das erste Mal in Michaels Augen sah, mich das erste Mal in seinem Lächeln verlor. Wie er zum ersten Mal meine Hand nahm und sie sanft drückte, während sein Gesicht sich meinem näherte. Wie mein Herz in diesem Augenblick raste, sich meine Augen wie von allein schlossen und ich ganz ruhig wurde, als sich unsere Lippen berührten. Wie er mich ansah, als er mir das erste Mal „Ich liebe dich.“ sagte.
Und dann fällt mir ein, wie ich ihn mit dieser anderen sah. Wie sie Hand in Hand durch die Stadt liefen, lachten, sich umarmten. Wie er sie ansah wie er mich angesehen hatte. Wie er ihr eine blonde Locke aus ihrem makellosen Gesicht strich. Und wie er sich einfach nicht mehr meldete.

Ich leere das Glas mit einem großen Schluck und stelle es ab, greife direkt nach der Flasche. Denke an meine Eltern, meine angeblichen Freunde, den Rest meiner so genannten Familie. Ich denke an die Menschen, denen ich auf der Straße begegnet bin, die umher hasteten, als würde ihnen die Zeit weglaufen. An den Park um die Ecke, indem die Vögel zum Tagesbeginn immer über den kleinen Tümpel fliegen und sich in den Trauerweiden niederlassen, um sich ihr Gefieder zu putzen. Gern habe ich an diesem Tümpel gesessen, stundenlang die Wasserfläche angestarrt, die Entenfamilien beobachtet. Stundenlang einfach dagesessen, bis in die späte Nacht hinein, dem Mond beim Auf- und Untergehen zugeschaut. Sterne gezählt, Sternenbilder gesucht, gefunden und wieder aus dem Gedächtnis gelöscht. Solange, bis der Himmel schwarz war. So wie heute Nacht.
Ich mag schwarz. Schwarz ist Hoffnung, schwarz ist Glück. Die Liebe ist auch schwarz. Schwarz wie geronnenes Blut. In einigen Tagen werden alle schwarz tragen. Außer mir. Ich werde weiß tragen. Ein weißes bodenlanges Kleid. Blutgetränkt.
Ich nehme den letzten Schluck des guten Riserva. Langsam gehe ich in die Hocke und stelle die leere Flasche behutsam neben mich auf die Erde. Aus meinem Rucksack nehme ich mein liebstes Briefpapier und meine geliebte Kaligraphiefeder. Mit ruhiger Hand beginne ich zu schreiben. Es werden die letzten Worte sein, die ich dieser Welt hinterlasse. Ich schreibe einfach drauf los, kann kaum die Gedanken halten, so schnell fliegen sie an mir vorbei. Die Feder gleitet schnell über das Papier und verursacht leise Kratzgeräusche, welche Gänsehaut machen. Die Worte verschwimmen vor meinen Augen, ich nehme nichts mehr wahr, sondern schreibe einfach.

"Es ist meine letzte Nacht in dieser Welt. Jahre der Einsamkeit gehen heute zu Ende. Ein Leben endet. Ein Leben hinter einer Maske. Doch es ist nicht mein Leben. Mein Leben wird erst beginnen. In einer anderen Welt. In einer Welt der Anerkennung. Wo Respekt groß geschrieben wird. In einer Welt, in der die Werte nicht am Geld oder Aussehen gemessen werden. In meiner Welt. Dort werde ich leben. Diese Welt ist eine Lüge." 

Vorsichtig rolle ich das Blatt Pergament zusammen. Ich löse das Seidenband aus meinem rotbraunen Haar und wickele es um die schmale Rolle. Liebevoll verknote ich die beiden Enden und zupfe eine Schleife zurecht. Ein Lächeln zeichnet sich auf meinem Gesicht ab, als ich mein Werk betrachte. Doch schnell verschleiert sich mein Blick wieder. Denn ich weiß, dass niemand die simple Schönheit dieses Pergaments sehen wird. Die Menschen in dieser Welt haben kein Auge für kleine Schönheiten. Ich nehme die Flasche zur Hand, lasse die Pergamentrolle langsam hinein gleiten und stelle sie wieder ab. In einer fließenden Bewegung richte ich mich auf und streiche den Stoff des Kleides glatt. Ob der Kostümverleih viel Geld als Schadensersatz verlangen wird?
Wieder muss ich lachen. Ja, vielmehr als ein Kostüm ist dieses wirklich schöne Kleid nicht. Ein Kostüm, das hervorragend zu der Maske passt, die ich mein Leben lang trug. Die ich heute Nacht ablegte. Jetzt bin ich wirklich ich. In einem weißen bodenlangen Kleid vom Kostümverleih. An einem Abgrund. Vor den im Nebel blinkenden Lichtern der Stadt. Ich fühle mich frei.
Ich breite die Arme aus und atme tief ein. Die Luft brennt in der Lunge. Diese Welt ist schlecht. Schritt für Schritt nähere ich mich dem Abgrund. Die Lichter der Stadt entfernen sich statt mir entgegen zu kommen. Doch es ist mir egal. Wenige Schritte trennen mich von der Erlösung. Es heißt immer, dass man das Leben im Schnelldurchlauf sieht, wenn sich das Ende nähert. Es stimmt nicht. Noch vier Schritte. Vielleicht liegt es daran, dass dies nicht mein Leben ist. Noch drei Schritte. Mein Leben beginnt in wenigen Augenblicken. Noch zwei Schritte. Ich halte die Luft an. Noch ein Schritt. Ich bleibe stehen und atme noch einmal tief durch. Ich bin ganz ruhig. Zufrieden.

Ich lasse mich mit ausgebreiteten Armen nach vorne fallen.
Wie ein Engel ohne Flügel.
Das weiße bodenlange Kleid schmiegt sich an die Konturen meines Körpers.
Als meine Füße den Boden nicht mehr berühren, schreie ich aus tiefster Seele.
"Die Welt ist eine Lüge!"
Und ich falle.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.08.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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