Sonja Nic Rafferty

Hinter dem Weizenfeld ...

 
... steht ein schneeweißes Haus. Von seinen früheren Bewohnern lebe nur noch ich. Deswegen bin ich die Einzige, die von diesem Theaterstück mit vier Personen berichten kann. Es war eine Szene, die sich irgendwann in den 50er Jahren innerhalb weniger Minuten hinter einem Getreidefeld abspielte. Der Regisseur namens Schicksal gab gnadenlose Anweisungen. Die Darsteller waren meine Eltern, mein Vater und ich. Es handelt sich hier um keinen Irrtum, ich hatte zwei Mütter und zwei Väter, doch erfuhr ich an jenem brütend heißen Sommertage noch nichts davon. Deswegen war mein Mitwirken an diesem Drama, bei dem sich die Erwachsenen so gefasst darstellten, in Wirklichkeit aber aufgeregt waren, am geringsten.

Man stelle sich ein kleines Mädchen im geblümten Sommerröckchen vor. Es spielt Murmeln mit den Nachbarkindern vor dem goldgelben Weizenfeld, wo die Erde so weich ist, dass Löcher für die braunen Tonkugeln „gebuddelt“ werden können. Was denkt es wohl gerade?
Wer ist der Mann, der an unserer Haustür klingelt? Jetzt geht er schon wieder fort, ob er Vertreter ist? Er sieht enttäuscht aus. Bestimmt, weil meine Eltern nichts gekauft haben. Komisch, er klingelt nicht am Nachbarhaus. He, Axel, du schummelst! Ich bin dran mit der Murmel!

Der junge Mann, noch keine 30 Jahre alt, verschwindet hinter dem Weizenfeld, bis nur noch seine auffällig vollen, braunen Locken sichtbar sind.
Auf dem kleinen Heidebahnhof stieg er in einen Zug, der ihn ein Stück seines weiten Weges zurück in die schottische Heimat bringen sollte. Er nahm auf einer Holzbank der 3. Klasse Platz, die damals nichts Ungewöhnliches war und zog ein Foto aus der Jackentasche. Mit feuchten Augen betrachtete er es lange und hing seinen traurigen Gedanken nach.
Sie hat die gleichen Locken wie ich. Mein Gott, sie haben mich nicht einmal herein gebeten, aber sie ist doch meine Tochter! So ein Unglück, dass ich in Hongkong war, als sie zur Welt kam!
Der Zug bewegte sich ratternd Richtung Norden und in der Ferne hob sich nur noch das Weizenfeld leuchtend Gelb vor der untergehenden Sonne ab.

Hinter dem Acker, im weiß getünchten Haus, saßen ein Mann und eine Frau, die bereits jenseits der 30 waren, am Küchentisch. Das waren meine Eltern, die mich aus einem Waisenhaus geholt hatten, als ich drei Jahre alt war. Inzwischen hatte das Weizenfeld ein paar Mal seine Farbe von Grün in Gelb verwandelt.
Meine leibliche Mutter, eine Flüchtlingswaise aus Schlesien, versicherte mir später, man (eine Sachbearbeiterin der Behörden!) habe sie zur Adoptionsfreigabe genötigt. Mein Vater ahnte bis zu diesem Sommer nichts von allem und ich war sogar noch viele Jahre danach unwissend, aber keineswegs ahnungslos. Ein vages Gefühl quälte mich manchmal.

Die Frau und der Mann, deren Hände selten ruhen, denn es gibt in Haus und Garten immer viel Arbeit, reiben ihre Finger nervös im Schoß. Sie bestärken sich gemeinsam in Rechtfertigungen über ihr schroffes Handeln.
Er ist nicht einmal verheiratet und seine Mutter will das Kind aufziehen! Der stellt sich das so einfach vor, was kann er ihr schon bieten? Hoffentlich hat die Drohung gewirkt und er lässt sich hier nie wieder blicken, bringt uns nur die Kleine durcheinander!

Das Haus bekam einen frischen Anstrich und das Feld leuchtete durch die Kraft der Natur immer wieder in neuer Pracht, jahrein, jahraus, über 50 Jahre lang! Was ist aber aus den Menschen geworden? Meine Adoptiveltern erlitten, als sie über 70 Jahre alt waren, Schlaganfälle. Ich habe ihnen auf der anderen Seite des Feldes im Kreise ihres großen Verwandten- und Freundeskreises am schattigen Familiengrab die letzte Ehre erweisen dürfen.
Meine leiblichen Eltern starben auf der anderen Seite des Ozeans. Mein Vater war nur 48 und meine Mutter 66 Jahre alt. Sie lebte allein in einem Cottage an der Südküste Englands. Als Erwachsene besuchte ich sie heimlich. Im Haus am Weizenfeld blieb das Thema Adoption tabu.
Fast alle sind sich in diesem Schauspiel irgendwann über den Weg gelaufen. Mein Vater und ich, wir haben uns vermisst, seit wir voneinander wussten. Obwohl wir beide, er früher, ich später, einige Strapazen auf uns nahmen, um uns zu begegnen, verpassten wir uns doch, manchmal nur um Haaresbreite. Die Fortsetzung des Bühnenstücks wurde nämlich mit Ignoranz und Lügen inszeniert .

Ich bin nach 30 Jahren in das alte Haus zurück gekehrt und sitze in diesem Moment auf meiner Terrasse mit weitem Blick über das Weizenfeld. Es ist wieder August, alles wirkt wie damals und zugleich ganz anders. Ich schließe ein wenig die Augen gegen blendende Sonnenstrahlen und sehe neben den sanft rauschenden Ähren einen Mann mit braunen Locken lächelnd auf mich zu kommen ...

© Sonja Nic Rafferty ~ 3. August 2006















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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.08.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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