Judith Beiten

The Song I

 
Sarah kam verwirrt aus dem ehrwürdigen Gebäude. Sie bemerkte nicht, dass es schon dunkel geworden war, als sie durch die engen Gassen irrte. Der Saum ihres langen Mantels sog sich langsam voll Wasser, während die Regentropfen wie Tränen an ihrem blassen Gesicht herunterströmten. Ihr war heute offenbart worden, dass sie nicht für das von ihr so ersehnte Kunststudium angenommen worden war. An einer Ecke blieb sie stehen und schaute verträumt in den Vollmond. Sie war grade dabei, sich etwas zu beruhigen und wollte sich umdrehen um nach hause zu gehen, als sich auf einmal eine Hand von hinten auf ihre Schulter legte. Sie drehte sich erschrocken um und starrte ihn mit ihren von Tränen verschleierten Augen an „Hi Sarah, was machst du so spät abends noch alleine hier?“ „Oh, hast du mich erschreckt. Ich bin nicht angenommen worden und brauchte frische Luft.“ Sie war froh, dass es Jay war, der sie so erschreckt hatte. Er war ein Freund von ihr, den sie sehr gern mochte, weil sie das Gefühl hatte, dass sie auf derselben Ebene waren. „Wenn es dich nicht stört, würde ich dich gerne zu deiner Wohnung begleiten, da es für dich doch nicht ganz ungefährlich ist hier alleine Rumzulaufen.“ Er schenkte ihr ein freundliches Lächeln. Sie nahm sein Angebot gerne an. Er versuchte sie etwas abzulenken, indem er ihr Neuigkeiten von seiner Band erzählte. Sie hatten endlich einen Plattenvertrag bekommen und würden demnächst in einigen Clubs spielen. Als er bemerkte, dass sich vor ihren Augen wieder ein leichter Schleier legte, fragte er sie, was sie denn jetzt Alternatives machen wollte. Sie schaute ihn traurig an, „Darüber hatte ich gar nicht nachgedacht, da ich mir dieses Studium so sehr gewünscht habe und eigentlich auch soviel Vertrauen in mich selber hatte, dass ich es schaffe. Ich muss jetzt wohl gucken, dass ich schnell Arbeit finde, sonst fliege ich noch aus meiner Wohnung raus.“ „Hmmm, sieht im Moment leider nicht ganz so gut aus mit Arbeitsplätzen, aber ich wünsche dir viel Erfolg.“ Als sie vor ihrer Haustür angekommen waren, nahm er sie in den Arm und wünschte ihr danach eine gute Nacht. Als Jay alleine durch die Strassen lief, musste er die ganze Zeit über Sarah nachdenken. Wie konnte er ihr helfen? Er wusste, dass Sarah zu zart war und nicht genug Lebenserfahrung um sich gegen die grosse Konkurrenz durchsetzen zu können. Dann kam ihn der Gedanke, dass sie am Merchandiseshop auf ihren Konzerten aushelfen könnte. Als er die Haustür aufschloss hatte sich die Idee schon in seinem Kopf festgesetzt, aber er hatte Angst, dass sie ihn auslachen würde, wenn er ihr den Vorschlag machen würde. Er konnte sich kaum was Schlimmeres vorstellen, als dass sie sich über ihn lustig machte. Und doch nagte es an ihm es ihr anzubieten. Er redete sich selber ein es wäre nur um ihr zu helfen und doch flüsterte sein Unterbewusstsein ihm fortwährend zu, dass er sie in seiner Nähe wissen wollte. Sarah lag noch lange wach in ihrem Bett und dachte nach, warum sie die Aufnahmeprüfung nicht bestanden hatte. Doch immerzu schweiften ihre Gedanken ab und vor ihren Augen entstand das Bild von Jay. Seine langen, schwarzen, verwuschelten Haare, seine durchdringenden Augen, seine starken Hände. Schon lange hatte sie das Gefühl, mehr für ihn zu empfinden, als für einen normalen Freund, aber sie konnte ihre Gefühle nicht einordnen. War es eine aufkeimende Liebe oder die besondere Art von Seelenverwandtschaft? Sie kannte keinen Mann, der gleichzeitig so stark und so sanft war. Abgelenkt durch ihre Zweifel schlief sie endlich ein. Am nächsten Tag wurde sie durch ein Klopfen an der Tür wach. Nur mit ihrem Nachtkleid bekleidet, ging sie im Halbschlaf zur Tür. Nachdem sie diese geöffnet hatte blickte sie in das Gesicht ihres Ex-Freundes, Mike. „Was willst du hier? Ich habe dir deutlich gesagt, dass ich dich nicht mehr sehen möchte.“ „Meine Süsse, ich kann und will es ohne dich aber nicht aushalten.“ Während er diese Worte sagte schob er sie rückwärts in ihre Wohnung zurück. In Sarah stieg Panik auf, Mike war ein starker Kerl, mit dem sie es nicht länger als eine Woche ausgehalten hatte, aber sie ahnte schon, dass er sehr brutal werden konnte. Sie schlug ihre langen Nägel in sein Gesicht und kratzte so fest sie konnte, während sie ihr Knie mit voller Wucht gegen sein bestes Stück hochzog. Er taumelte zur Seite und sie hatte grade Zeit ihren Mantel zu packen und aus der Wohnung zu flüchten, bis er sich erholte. Vor Panik zitternd lief sie immer weiter ohne zu überlegen wohin eigentlich, bis sie sich vorm Haus wieder fand, in dem Jay wohnte. Sie klingelte und steckte aus Nervosität ihre Hände in die Manteltaschen, sie fühlte ihren Haustürschlüssel, den sie gestern Abend einfach in der Tasche gelassen hatte. Sie schaute sich die ganze Zeit um, ob Mike nicht plötzlich auftauchen würde, sie hatte Todesängste. Jay war total verwirrt. Wer klingelte denn so früh morgens bei ihm? Er ging runter zur Haustür. Dort stand Sarah, in ihren Mantel gewickelt und noch bleicher, als sie es ohnehin schon war. Sie rannte gegen ihn und in ihren Augen konnte er die schiere Angst lesen. Sie warf sich in seine Arme und fing an zu schluchzen. Er war völlig verwirrt. Was konnte ihr passiert sein? Er schloss leise die Türe und strich ihr danach über die Haare. Sie klammerte sich an seine Schultern und dann merkte er wie langsam die Kraft aus ihr wisch und sie zusammenbrach. Er fing sie auf und nahm sie auf seine Arme. Vorsichtig, als ob Sarah aus Porzellan wäre, trug er sie die Treppen zu seiner kleinen Dachwohnung rauf. Er legte sie auf sein Bett und nutzte die Zeit um sie in Ruhe zu betrachten. Als er ihr Gesicht betrachtete kam in ihm der unbändige Wunsch auf sie zu besitzen. Er war sich jetzt sicher, dass er sie liebte. Langsam schlug sie die Augen auf. „Mike, er war in meiner Wohnung, ich konnte ihm grad noch einen Tritt in sein bestes Stück geben und fliehen.“ Sie lächelte gequält und fing lautlos an zu schluchzen. Jay nahm sie vorsichtig in die Arme und hielt sie fest an sich gedrückt. Er genoss es ihren Duft zu riechen, aber in ihm kochte eine unbändige Wut auf Mike. „Du musst hier bleiben, ich kann diese Nacht erstmal auf der Couch schlafen, es ist zu gefährlich für dich zurück in deine Wohnung zu gehen, er weiß genau wo er dich finden kann.“ Sie sah ihn an und er merkte, wie gerne sie in ihren eigenen vier Wänden geblieben wäre, aber das ihre Vernunft zum selben Entschluss gekommen war wie er. Sie nickte traurig. „Leg dich erstmal was hin, dann können wir heute Abend die Sachen, die du am dringendsten brauchst zusammen aus deiner Wohnung holen. Falls du nicht schlafen kannst, du weißt ja wo wir proben, oder lies das Buch hier, ist wirklich gut.“ Er gab ihr schüchtern einen Kuss auf die Wange, zog sich seine Jacke an und verließ die Wohnung.

Ich würde mich sehr über Feedback freuen, da es eine meiner ersten Geschichten ist, die ich veröffentliche. Vielen Dank!Judith Beiten, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.08.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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