Rosi habe nun andere Verpflichtungen, hieß es. Die einen sagten, ihre Mutter sei schwer krank geworden und auf die Pflege der Tochter angewiesen. Das wollten die anderen aber nicht glauben, schon gar nicht die Mitglieder des Kirchenchores, erst recht nicht nach der Chorfreizeit in Berlin. Kirchenvorsteherin Krause meinte, Rosi sogar singend im Chor der Nachbargemeinde gesehen zu haben und kommentierte ihre Entdeckung mit den Worten: „Das ist doch Fahnenflucht! Aber das ist ja auch wirklich kein Wunder nach alledem, was man so hört…“
„Wie die den Meyer immer angehimmelt hat! Das war ja schon peinlich! Und so was als verheiratete Frau und Mutter von zwei Kindern!“ sagte die Mutter der Organistin. „Also, meiner Tochter ist das natürlich auch schon mehrmals aufgefallen. Zum Beispiel als sie dem Meyer im Sommer einen Eimer von unseren Sauerkirschen angeboten hat, da meinte die Rosi wohl total verliebt zu Meyer: ‚Du kannst mich übrigens mal besuchen und Süßkirschen ernten. Ich weiß auch gar nicht, wohin ich dieses Jahr mit den ganzen Pflaumen soll. Die Bäume quillen nur so über vor Früchten.’ Weißt du, die Frau sollte sich wirklich mal was schämen! Über 20 Jahre ist die schon mit ihrem Stefan zusammen. Die haben sogar zusammen die Schulbank gedrückt! Und dann geht sie einfach so mir nichts, dir nichts mit dem Chorleiter fremd!“
„Und denk’ doch nur an den Meyer. Der hat auch eine sehr nette Frau und drei Töchter. Sollen die jetzt glauben, alle Männer sind Schweine, weil ausgerechnet ihr Vater die Mutter betrügt? Ich war meinem Mann übrigens bis zum Tode treu“, betonte die Kirchenvorsteherin.
„Das Problem ist die Rosi. Das ganze Dorf redet schon. Und dieses Luder hat es mit ihren Blicken forciert! Das ist sogar dem Freund meiner Tochter in der Christvesper aufgefallen“, sagte die Mutter der Organistin.
Andere Zungen behaupteten unabhängig von Frau Krause und der Mutter der Organistin, die Rosi sei immer nur an den Sonntagen, wenn Meyer die Orgel spielte, zur Kirche gegangen. Dann habe sie ganz allein in der hintersten Reihe neben dem Aufgang zur Empore gesessen und in sich hineingelächelt – besonders wenn Meyers Finger in den Tasten schwelgten. Nach dem Orgelnachspiel war sie angeblich immer einen Moment länger sitzen geblieben als der Rest der Gemeinde. Um Meyer mit Lob für sein Spiel zu überschütten, sagten die Leute. Und sie sagten, Rosi sehe seit der Chorfreizeit nur noch traurig und müde aus. Ihr strahlendes Lächeln, mit dem sie Meyer bei den Chorauftritten regelrecht bombardiert hatte, sei herunterhängenden Mundwinkeln und grauen Augenrändern gewichen. Dass sie nur noch mit Blick auf den Bürgersteig durch die Straßen huschte, bemerkte jeder – sogar die wenigen, die nichts von Rosi und Meyer wussten.
Zur ersten Chorprobe nach dem verlängerten Wochenende in Berlin war Rosi nicht mehr gekommen. Meyer soll auch nicht ganz bei der Sache gewesen sein und wiederholt falsche Töne vorgegeben haben, erzählte man. „Da hat das Singen überhaupt keinen Spaß mehr gemacht“, beschwerte sich Frau Schulze aus dem Alt. „So schlecht hat der noch nie geklimpert. Aber wen wundert ’s... An seinem Keyboard hat es auf jeden Fall nicht gelegen.“
Während einer Bootstour auf der Spree sollen sich Rosi und Meyer zweisam an den Bug zurückgezogen haben, sofern man einem ersten und einem zweiten Sopran Glauben schenken mag. „Meyer hat Rosis Arm gestreichelt, und sie hat ihm daraufhin irgendwas ins Ohr geflüstert!“ berichtete der erste Sopran Kirchenvorsteherin Krause.
„Bestimmt lauter Anzüglichkeiten!“ ergänzte der zweite Sopran. „So eine Unverfrorenheit, sich einfach von uns abzukapseln!“
In dem Moment enthüllte Frau Schulze ihre Beobachtungen: „Es kommt aber noch besser. Der Meyer hat der Rosi eine private Gesangsstunde gegeben – im Hotelzimmer, stellt euch das mal vor! Da hat er von hinten fest ihren Bauch umklammert und gesäuselt: 'Atme beim Singen gegen meine Hände an. Dann triffst du die hohen Töne viel lockerer. Aber vergiss das Gefühl nicht.' Pah! Die beiden hätten mal vorher die Tür richtig zumachen sollen!“
„Von wegen Anonymität der Großstadt!“ lachte Frau Krause.
„Was rauskommen soll, das kommt eben raus – egal wo.“
Der letzte Abend in Berlin gab dem Chor aber von Tag zu Tag neue Rätsel auf, vor allem der Verbleib von Rosi und Meyer. Noch vollzählig waren sie in ihrem Hotel in Charlottenburg zusammen gekommen, um zu Abend zu speisen. Auch in der U-Bahn hatte das eine oder andere Chor-Mitglied noch ein paar Worte mit Rosi oder Meyer gewechselt. „Aber als wir vor dem Theater des Westens standen, waren die beiden auf einmal spurlos verschwunden“, erzählte Herr Schmidt, der sich im Chor als Tenor versuchte.
„Dabei hatten wir schon alle unsere Karten für 'Die drei Musketiere'. So was lässt man doch nicht einfach verfallen, wenn man schon mal in so einer großen Stadt ist!“ echauffierte sich ein zweiter Sopran.
Am nächsten Morgen hatte Rosi für ihr Verschwinden lediglich die nüchterne Erklärung geliefert, dass sie vor Müdigkeit zurück zum Hotel gefahren sei, und Meyer klagte trotz rosiger Gesichtsfarbe noch Tage später über Übelkeit und Magenkrämpfe.
„Alles Lüge“, sagte Bass-Sänger Bauer, „ich bin doch nach dem Musical noch mit Kalle und Horst um die Häuser gezogen. Und was glaubt ihr, was wir da gesehen haben! Da sind doch Rosi und der Meyer so Arm in Arm durchs Brandenburger Tor spaziert!“
„Das kann nicht sein. An Meyers Hotelzimmertür hing ein Bitte-nicht-stören-Schild. Und was die da drinnen getrieben haben, das könnt ihr euch ja wohl denken!“ erwiderte Frau Schulze.
„Bestimmt lauter Schweinereien! Wenn ich so was meinem Wilfried – Gott hab' ihn selig! - angetan hätte!“ verfiel Frau Krause beinahe ins Schreien.
„Nein, so schlimm war es dann doch nicht. Ich habe sie zusammen mit Bärbel in der Nähe vom Hotel an der Spree stehen sehen. Engumschlungen glotzen die die ganze Zeit nur aufs Wasser. Aber das reicht ja auch schon alle Male!“ antwortete eine Altistin empört.
„Wisst ihr was“, sagte Frau Schulze, „ich bin froh, daß wir die Rosi endlich los sind. Das ist das Beste für alle Beteiligten. Wir brauchen in unserem Chor nun mal keine Ehebrecher!“
Nach dem letzten Satz aus Frau Schulzes Mund hatte die Chorgemeinschaft plötzlich nichts mehr hinzuzufügen. Manche seufzten, bevor sie schwiegen; einige andere starrten betreten zu Boden oder gaben vor, noch Termine zu haben. Nur Frau Krause blieb allein vor der Kirche zurück, nachdem sich die Sänger einzeln oder in Grüppchen auf den Heimweg gemacht hatten.
Annika Senger
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.08.2006.
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