Alexander Petrovic

Lazy Sunday Afternoon

Alles stimmte. Es war ein heißer Sonntagnachmittag im Juli und es versprach, ein ruhiger Badeausflug mit der Neptun 22 zum Ostteil des Steinhuder Meeres zu werden. Auf dem Boot in der Sonne liegen, ab und zu zur Abkühlung ins Wasser springen und ansonsten höchstens noch einmal Energie aufbringen, um sich ein Sandwich zu Gemüte zu führen.

Das hatte ich mir schon lange Zeit gewünscht und jetzt hatten wir es realisiert. Da ich mit Segeln nicht viel Erfahrung hatte, aber haben wollte, hätte ich es zwar schon begrüßt, wenn wir ein bisschen Wind gehabt hätten, damit ich mir die Be- und Handgriffe wieder alle in Erinnerung rufen konnte, aber so war es eben ein Ausflug nach dem Geschmack der Frauen, die eher nicht verstehen, warum man das Fahren in einem schief liegenden Boot als unterhaltsamen Sport bezeichnete. Sie nutzten die Gelegenheit, um sich in Ruhe unter sich zu unterhalten und die warme Sonne und die Ruhe zu genießen, während die Männer fachsimpelten. Sie haben insofern Recht, als ein schräg liegendes, stampfendes Boot für einige Verrichtungen während eines komfortablen und unaufgeregten Sonntagnachmittagsausflugs tatsächlich unpraktisch ist.

Ich war auf jeden Fall gut gestellt. Es war schön, mal wieder auf dem Wasser zu sein. Priorität hatte für mich an diesem Nachmittag der Erholungsgedanke, also eine gute Weile faul herumzuliegen und sich gelegentlich zu erfrischen. Deshalb war ich dann auch ohne Wind rundum zufrieden, als wir die Leinen vom Steg losmachten. Schließlich konnte man so einen Törn bei Erfolg ja wiederholen. Und irgendwann würden sicher ein paar Beaufort herausspringen, um das Gefühl des sanften, zischenden Gleitens auf einer Naturgewalt erleben zu können, durch eine weitere Naturgewalt angetrieben und diese wiederum gezähmt und dosiert durch ein paar Quadratmeter Leinwand, ein paar Taue, ein paar kräftige Hände und die angesagten Gewichtsverlagerungen.
Jedenfalls gab es soviel Luftbewegung, dass wir von der Stelle kamen, dabei aber die seemännischen Verrichtungen mit aller Gelassenheit angehen, ja sogar diskutieren konnten.

Ich hatte ein paar Wochen vorher Günther, den Freund von Helga, einer Freundin meiner Frau, kennen gelernt. Nachdem wir in unserem Gespräch beim Wassersport gelandet waren und ich erfuhr, dass er ein Wochenendhaus an und ein Kajütboot auf dem Steinhuder Meer hatte, dauerte es nicht lange, bis wir vier den heutigen Törn verabredet hatten.

Die Frauen saßen die meiste Zeit auf dem Vorschiff, während der Skipper mir Einzelheiten vom Boot erklärte. Höchstens einmal unterbrochen durch: „Schatzi, soll ich dich eincremen?“ “Oh ja, gerne.“
Manöver waren nicht nötig. Bei Nordwest von knapp einer Windstärke schlichen wir von Mardorf aus vor dem Wind. Die Dreiviertelstunde, die wir bis zum Bade-Ankerplatz benötigten, verging ansonsten durch allerlei Geklön, gelegentliches Nassspritzen und Juchzen.

Wir fanden einen schönen Ankerplatz in Rufweite von einigen anderen Booten entfernt und haben dann eine halbe Stunde um die Ankerstelle herum geplanscht. Wieder auf dem Boot wurde es richtig gemütlich. Es gab Kaffee aus der Thermoskanne und Schnittchen wurden aus der Kombüse gereicht. Wenn auch die Hitze leicht drückend war, wir genossen eine entspannte und zufriedene Atmosphäre. „Lazy Sunday afternoon“ in Reinkultur. Das hatten wir uns verdient.

Boote mit Verbrennungsmotor-Antrieb sind auf dem Steinhuder Meer nicht zugelassen. Aus gutem Grund. Wenn in der Saison guter Wind herrscht, kann man am Wochenende den See beinahe trockenen Fußes überqueren. Man glaubt nicht, wie viele Leute hier Boote liegen haben. Die Vorfahrtsregeln unter Sportbooten sind es dann, womit man sich pausenlos auseinandersetzen muss. Eine Sekunde gezögert und die Vorfahrt muss neu bewertet und darauf reagiert werden. Da bleibt selten Zeit, sich einmal in das Trapez zu hängen.

Wenn man sich dann noch vergegenwärtigt, dass das Wasser fast überall nur um einen Meter tief oder besser gesagt flach ist, lässt sich erahnen, wie schnell diese geringe Wassermenge von ein paar hundert Motorbooten mit Ruß-, Öl- oder Benzinrückständen gesättigt wäre. Besonders ältere Motoren sind nicht so dicht geschlossene Systeme, wie man es auf den ersten Blick meint. Neuere Motoren sind in dieser Hinsicht schon optimiert, aber mit geringen Rückständen ist auch bei ihrem Betrieb zu rechnen.

Von dem echten Steinhuder Rauchaal wird zwar schon etwa die vierfache Menge dessen verkauft, was theoretisch im See Platz hätte, sodass man zumindest unsicher ist, ob es den „Echten“ überhaupt noch gibt, aber der Naturpark Steinhuder Meer geht davon aus und muss deshalb unter anderem ihn mit gewissen Restriktionen schützen.

Motorboote müssen zwar grundsätzlich Booten unter Segeln Vorfahrt einräumen, aber wer mit seiner Jolle oder dem Kanu schon einmal das Vergnügen hatte, einem PS-starken Bayliner mit 5 angetrunkenen jungen Männern zu begegnen, weiß, wie unangenehm und manchmal auch gefährlich der Schwell eines solchen Bootes sein kann. Von der Unhöflichkeit einmal ganz abgesehen. Und auch davon abgesehen, dass auf Binnengewässern strenge Geschwindigkeitsbeschränkungen und Mindestabstände bei Manövern gelten. Und ganz zu schweigen von den Auswirkungen, die das unruhige Wasser auf die seltenen, meist gefiederten Bewohner des Schilfs im Naturpark zeitigen würde.

Das sind Argumente genug, diesen Wassersport-Ballungsraum weitestgehend von Verbrennungsmotoren freizuhalten. Schließlich hat es auch in Anbetracht des Erholungsgedanken eine Menge für sich, dass man auf dem Wasser nur die ortsüblichen Naturgeräusche und höchstens noch menschliche Stimmen hört.
Einige Bootseigner setzen deshalb kleine, nahezu geräuschlos laufende Elektromotoren als Flautenschieber ein. Dagegen verzichtet die „richtige“ und sportliche Seemannschaft auf derlei Hilfsmittel und verlässt sich grundsätzlich nur auf die Windkraft, auch und gerade bei den Ab- und Anlegemanövern. So auch Günther, unser Skipper.

Natürlich gibt es einige Motorboote mit Ausnahmegenehmigungen wie von der DLRG-Rettungswacht oder von den Segelschulen. Auch der so genannte „Sheriff“ hat ein Motorboot. Ich weiß nicht, ob der Mann wirklich von der Wasserschutzpolizei ist oder was seine offizielle Berufsbezeichnung ist, aber man kann sagen, dass er für die Ordnung auf dem Wasser zuständig ist.

Ich aalte mich gerade kopfunter und –über an der Wasseroberfläche. Als einmal ein Ohr von mir aus dem Wasser ragte, vernahm ich eine quäkige Stimme: „...Sturm...“ „...zum Steg zurückzufahren...“ Ich merkte auf. In etwa einhundert Metern Entfernung stand der Sheriff mit einer Flüstertüte in seinem Boot. „...erwarten Windstärke 8, in Böen 10. Bitte fahren Sie zu Ihren Stegen zurück!“

Das kann doch nicht sein, sagte ich mir. Auf dem Atlantik ja, aber hier im Hannöverschen? Doch dann sah ich aus Südwesten die schwarze Wolkenwand über das Weserbergland angekrochen kommen. Sie quoll in Richtung Rehburger Berge, also genau auf uns zu. Da blieben vielleicht noch 20 Minuten, maximal eine halbe Stunde, dann wären wir mitten drin.

Die Lust, bei Windstärke 8 meine Segelkenntnisse aufzufrischen, hielt sich in Grenzen. Bei der Vorstellung wurde mir doch etwas mulmig.  Jedoch wie sollte ich dem entgehen, wie sollten wir bei dieser Flaute, beziehungsweise Ruhe vor dem Sturm, hier wegkommen? Deshalb schwamm ich schleunigst zum Boot, um mit den anderen die Lage zu besprechen.

Der Skipper blieb ganz gelassen. Er meinte, dass wir die Segel stehen lassen und mit dem aufkommenden Wind einen Schlag in die Mitte des Sees und dann einen weiteren rüber zum Steg machen würden.

Ich war das eine oder andere Mal bei 4 bis 5 Windstärken mit einer Jolle gesegelt. Das war alles und ich hatte nicht die Erfahrung, um die Situation hier und mit dem Dickschiff verantwortlich einzuschätzen. Da hatte ich genug Vertrauen zu unserem Skipper, einem langjährigen Steinhuder-Meer-Segler.

In der Zwischenzeit hatte der Sheriff alle am Ostufer liegenden Boote gewarnt und fuhr zurück nach Steinhude. Von dort und von Mardorf sah man jetzt die Sturm-Warnlichter herüberblinken. Die Elektro-Flautenschieber hatten nun Oberwasser und zogen von dannen. Einige Bootsbesatzungen begannen zu paddeln, um von der Stelle zu kommen, und einige hatten mit dem Verholen begonnen und hievten sich an der Ankerleine in Richtung Heimatsteg. Es war klar, dass sie es so nicht schaffen könnten. Mit genug Kraft und Ausdauer vielleicht bis zur Moorhütte, aber die dortige Steganlage würde schnell voll sein.

Hier am Ostufer bestand bei westlichem Wind die Gefahr, dass der Anker in dem morastigen Grund nicht hielt und man dann in das Schilf geworfen wurde. Das wäre zum einen ein unzulässiger Eingriff in die geschützte Natur und zum anderen bekäme man das Boot da nur unter großem Einsatz von Mensch und Material wieder heraus.

Mich beschlich doch eine gewisse Unruhe, während sich alle anderen Boote entfernten. Auf meine Frage, ob wir nicht wenigstens soweit verholen sollten, dass wir weit genug vom Ufer wären, wiegelte der Skipper ab.
Von meinem Segelunterricht hatte ich noch dunkel in Erinnerung, dass man bei zu erwartendem Sturm möglichst wenig Tuch zeigt. Ein Sturmsegel wäre eine kleine Fock und sonst nichts, oder alternativ ein mehrfach gerefftes Großsegel. Aber wir hatten von der Hinfahrt fast mit ohne Wind noch das Groß und die Genua stehen – ungerefft. Das war das Maximum an Segelfläche für dieses Boot.

„Wenn es ungemütlich wird, geht Ihr in die Kajüte!“ sagte der Skipper zu unseren Damen. Der Chef wird’s schon wissen. Er saß an der Pinne mit Sonnenbrille und Skippermütze, als der Wind auflebte. Wir nahmen Fahrt auf und die Szenerie verdunkelte sich zusehends. Das Dämmerlicht wirkte bedrohlich auf mich. Es brachte die aufgeregt warnenden Blinklichter noch mehr zu Geltung. Wir waren ziemlich einsam auf weiter Flur. Aber das ist ja angesichts solcher Wetterlage beim Segeln eher von Vorteil.

Der Winddruck erhöhte sich stetig und wir segelten ziemlich hart am Wind Richtung Seemitte. Parallel zum Winddruck erhöhte und verstärkte sich auch mein Pulsschlag. Die Frauen waren unter Deck gegangen. „Jetzt kannste die Genua reffen.“ Weil der Winddruck das Vorstag aber inzwischen zu sehr durchbog, war das Rollreff nicht mehr mit der Winsch vom Cockpit aus zu betätigen. Die Schräglage nahm immer mehr zu. Also hangelte ich mich zum Bug, setzte mich auf die Bootsspitze mit den Beinen außenbords und versuchte, mit beiden Händen die Trommel des Rollreffs zu drehen.

Ich bin ein kräftiges Kerlchen, aber sie ließ sich trotz größter Kraftanstrengung und mehrmaligem Ansetzen nur wenige Zentimeter bewegen und schnappte zurück, sobald ich losließ. Das hatte keinen Sinn. Der starke Wind hatte das Boot jetzt schon um mehr als 45 Grad schräg gedrückt. So ging das nicht weiter, wenn wir nicht in unser Verderben fahren wollten. Die Lage musste neu beurteilt werden.

Ein Blick nach achtern zum Skipper, der sich, mittlerweile ohne Sonnenbrille, an seinen Sitz und an die Pinne klammerte und große Augen machte, sagte mir, dass ich jetzt handeln musste. Wir lagen so schräg, dass ich es in der Kajüte poltern und die Frauen kreischen hörte. Die Segel müssen runter, sonst wird das hier lebensgefährlich, sagte ich mir. Das war jetzt ein ausgewachsener Sturm. Ich hangelte mich zum Mast zurück, um das Groß zu bergen. Ich hörte den Skipper irgendetwas rufen, aber das Geheul und Getöse war zu laut. Es drang nur seine heisere Stimme bis zu mir, die Worte kamen nicht an. Er kann nur dasselbe gemeint haben wie ich. In dem Augenblick drückte der Wind unseren Mast aufs Wasser.

Zum Glück hatte die Neptun eine Seereling, an der ich mich festgehalten hatte. Ich konnte nur vermuten, dass der Skipper noch an Bord war, denn sehen konnte ich ihn nicht mehr. Von einem Kurs war nichts mehr zu erkennen, wir waren ein Spielball des Wettergottes. Es war fast übergangslos stockdunkel wie in einer sternen- und mondlosen Nacht geworden. Die schwarze Wand umhüllte uns. Jetzt waren wir mittendrin in dem Unwetter.

Noch während sich das Boot wieder etwas aufrichtete - Dickschiffe tun das in der Regel aufgrund ihres Ballastkiels - schlang ich meine Beine um den Mastfuß und riss mit wenigen Griffen das Großfall los und das Segel herunter. Der Sturm blies so stark, dass man kaum atmen konnte. Mit einem lauten Knall zerriss die flatternde Genua und das Boot wurde zum zweiten Mal auf die Seite gedrückt, sodass unser Masttop im Wasser war.

Diese Gewalt hätte jedes Boot auch völlig ohne Segel, nur durch den Widerstand der Wanten, der Stagen und des Mastes auf die Seite gedrückt. Dem konnte nichts widerstehen. Zu allem Überfluss ergoss sich eine Urgewalt an Wasser über uns. Von Regen konnte da keine Rede mehr sein, es waren zusammenhängende Wassermassen, die da herunter kamen. Hier und jetzt verband sich das Meer mit dem Himmel. Ich wusste nicht mehr, wo unten und wo oben war, und konnte mich nur festklammern.

Zum Wasser mischte sich Hagel. Ich war nur mit einer Badehose bekleidet und die peitschenden Hagelkörner auf meiner nackten Haut verursachten einen brennenden Schmerz, der mich für eine Zehntelsekunde an den Punkt brachte, wo eine innere Stimme sagte: mehr geht nicht. - Und in der nächsten Zehntelsekunde war mir so klar wie nur was: es geht immer mehr. 

In dem Moment habe ich gespürt, wie es sein muss, wenn sich jemand selbst aufgibt. Einen Sekundenbruchteil spürte ich einen Impuls, loszulassen und mich in mein vermeintliches Schicksal zu ergeben. Und nahezu im selben Moment wusste ich: was kann schon passieren. Mein Körpergewicht kann ich halten und Schmerzen sind relativ. Müdigkeit kann man zumindest kurzzeitig durch Willenskraft überwinden. Ich kann höchstens ins Wasser fallen und davor habe ich keine Angst.

Es war, als würde, ausgelöst durch diesen Impuls, ein Schalter umgelegt, der den Überlebenswillen auf volle Kraft steigerte. Es stieg eine Wärme aus meinem Innersten, breitete sich aus und wirkte wie ein Schmerzschild gegen die prasselnden Hagelkörner. Ich muss einen so hohen Adrenalinspiegel gehabt, ich muss so gebrannt haben, dass der Hagel auf meiner Haut verdampfte. Der anfängliche Schmerz wurde zu einer unbedeutenden Nebensächlichkeit. Wenn schon, dann verursachte der kühle Hagel ein eher erfrischendes Gefühl.

Allein durch die Schräglage klopfte mir das Herz im Hals. Ich hatte einen Angst­reflex wenn sich die Gleichgewichtsebene verlagerte. Es war äußerst irritierend, die Genua nicht bergen zu können. Dazu kam der Verlust des Vertrauens zu unserem Skipper und dadurch die blitzartige Änderung der Sichtweise unserer augenblicklichen Situation. Gefühls-, angst- und verantwortungsmäßig war ich völlig überfordert.
Und genau in einem solchen Augenblick kann man fast sagen, dass sich mein Handeln verselbständigt, und ich automatisch oder besser instinktiv das richtige mache. In einem solchen Moment habe ich einen absolut klaren Kopf, kann blitzschnell abstrahieren und Entscheidungen auf das Wesentlichste konzentrieren. Ich spüre dann eine unglaubliche Kraft, die mich vollends durchdringt, und fühle mich wie unverwundbar. (Jetzt reicht es aber. Willkommen beim Tanz um die goldene Profilneurose!) Dieses Gefühl habe ich schon einige Male in ähnlich gefährlichen Situationen erlebt.

Inzwischen mussten wir weit zurück in Richtung Schilf getrieben worden sein. Ich hielt es für das beste, erst einmal den Anker rauszuschmeißen.

Jetzt zeigte sich mir in aller Deutlichkeit, wie wichtig und nützlich es ist, dass alle wichtigen Manöver und Maßnahmen der Seemannschaft ihren Ausdruck in einfachen Worten oder Sätzen finden. Nur so kann die im Extremfall lebenswichtige Kommunikation eindeutig und effizient sein. Ich bekam auch das tiefe Verständnis dafür, wie essentiell das Bestätigen von Kommandos ist und welche Bedeutung das laut und deutlich gerufene Wort „klar“ in Situationen hat, wo Wettergetöse fast alles übertönt oder wo man keinen Meter weit sehen kann. Allein, dass es einem zeigen kann, da ist noch jemand, gibt ihm schon Sinn.

Der Satz „eine Hand für den Mann und eine Hand für das Schiff“ stand in großen Lettern vor meinem geistigen Auge. Ich hangelte mich wie blind über das schlingernde Vorschiff zum Ankerluk, legte einen Arm um die Reling und öffnete die Klappe. Ich vergewisserte mich sogar noch, dass das Ende der Leine festgemacht war und schleuderte den Anker dann dem Sturm entgegen.

Das Boot drehte sich sofort in den Wind und wurde etwas ruhiger, als der Anker griff. Auch bei stärkstem Sturm hat der Seegang auf dem Steinhuder Meer seine Grenzen und eine lebensgefährliche Dünung kann sich bei dem flachen Gewässer kaum aufbauen.

In den nächsten Minuten ließ der Sturm merklich nach. Das Schlimmste schien überstanden. Es war, als hätte der Sturm uns zur Ordnung rufen wollen und er jetzt, wo der Anker draußen war und wir ihm keinen großen Widerstand mehr boten, einlenkte. Er hatte uns seine Lektion erteilt. Die Wassermassen, die von oben kamen, hatten sich jetzt etwas aufgelockert und man konnte noch eine Weile von heftigem Platzregen sprechen.

Es drangen langsam wieder einzelne Sonnenstrahlen durch die Wolken und ich konnte das Schiff überblicken. Der Skipper saß noch starr aber ziemlich zerzaust im Cockpit. Ich hatte einen kurzen Moment die Befürchtung, dass er etwas mit dem Herzen hatte – er war so um die 60 Jahre alt -, aber er zeigte jetzt doch Regung. Als wir den Alu-Mast emporblickten, sahen wir einen Flitzebogen. Die obere Hälfte war in eine gleichmäßige Rundung gebogen. Die Saling war abgeknickt und der Rest der Steuerbordwant schlackerte am Mast. Das musste passiert sein, als wir das erste Mal, noch mit dem Großsegel, aufs Wasser gedrückt wurden.

Die Frauen kamen schreckensbleich wieder an Deck, aber sie waren OK bis auf ein paar blaue Flecken. Pött und Pann waren durcheinander gewirbelt worden. Man konnte allerdings schon von Glück sprechen, dass niemand von der Bratpfanne am Kopf erwischt worden war.

Der Wind flaute genauso schnell wieder ab, wie er gekommen war. Es herrschte noch immer Dämmerlicht und es regnete noch Bindfäden, die aber zusehends dünner wurden. Dass der erste Windhauch am Ostufer angekommen war, musste vielleicht eine Viertelstunde her sein. Lass‘ es 20 Minuten gewesen sein.
Der Regen hörte langsam ganz auf und es verbreitete sich eine eigenartige, gedämpfte Ruhe auf dem Wasser. Die Oberfläche war spiegelglatt, als könnte es friedlicher gar nicht sein. Aber zugleich lag etwas Drohendes in der Luft- und Wasser-Stimmung, als wollte der Wettergott uns sagen: Wenn ihr mich ganz verkennt, kann ich auch anders! Ich werde euch den Respekt schon lehren.

Die Wasseroberfläche dampfte. Nach und nach gab der Regendunst die Sicht über den See frei und es tauchten kieloben treibende Boote, Schubladen und allerlei Segelzubehör und Lebensmittel auf, die umher schwammen. Das Bild erinnerte an ein Schlachtfeld, beleuchtet von den blinkenden Sturmwarnlampen in Steinhude und Mardorf.

Die vom Selbsterhaltungstrieb gelenkten und eingeschränkten Gedanken weiteten sich analog zur Zunahme der Sicht auf unsere Umgebung aus. Es tauchten Fragen auf. Was war noch passiert? Konnten wir anderen in der Nähe helfen? Gab es Verletzte, vielleicht Tote? Was war an Land geschehen?

Es war niemand in direkter Nähe, der erkennbar unserer Hilfe bedurft hätte. Wir waren mit einem blauen Auge davongekommen. Wie man es nimmt. Ich kann es im Nachhinein nicht anders sehen, als dass wir verdammt leichtsinnig gewesen waren und ebenso verdammtes Glück gehabt hatten. Auf jeden Fall war es eine extreme und tief greifende Erfahrung. Sie hat mir den größten Teil der Angst vor der Schräglage beim Segeln genommen. Schlimmer als mit dem Großsegel auf dem Wasser konnte es ja nicht kommen.

Mittlerweile ist zwar in raueren Gewässern auch der letzte Rest der Angst weggesegelt worden, aber in der Folgezeit nach diesem Abenteuer hatte ich noch einige Male beim Segeln Herzklopfen bekommen.

Alles, was am Steinhuder Meer ein Motorboot hatte, war jetzt unterwegs, um Hilfe zu leisten. Sei es, um gekenterte Segler aus dem Wasser zu holen, Boote aufzurichten oder sie abzuschleppen. Auf letztere Möglichkeit waren wir auch angewiesen, da wir ohne intakte Segelmöglichkeit herumdümpelten. Wir hatten uns bald mit einem vorbeifahrenden Retter, der eine Jolle im Schlepp hatte, verständigen können, dass er uns als nächstes abholte. Das Retterbild wurde dann etwas getrübt, als die Abschleppgebühr von DM 50,00 fällig wurde.

Aber das waren Nebensächlichkeiten gegenüber dem Eindruck, unter dem wir vier standen. Es war ein ganz schöner Ruck durch unsere Leben gegangen und die Erleichterung über das unbeschadete Überstehen und damit der Abenteuergedanke dauerten noch einige Wochen an.

Günther hat den Alumast mit verschiedenen Hilfsmitteln wieder einigermaßen richten können. Der Mast hält jetzt zwar keinen Sturm mehr aus, aber damit ist nach Auskunft der kundigen Meeresanwohner turnusgemäß auch erst wieder in 6 – 7 Jahren zu rechnen. Sooft soll in einiger Regelmäßigkeit die Seglerhölle über das Steinhuder Meer hereinbrechen.

Dieses Mal war es allerdings auch eine der schwereren und folgenreicheren Varianten. Es wurden 10 Windstärken und in Böen 12 gemessen. Von einer Steganlage in Mardorf wurde ein Katamaran aus dem Wasser auf die Promenade geschleudert. Das komplette Schiff ist 30 – 40 Meter durch die Luft geflogen. Einige Eichen wurden entwurzelt und hatten ein Wochenendhaus zerstört und mehrere Autos in Mitleidenschaft gezogen. Einen Segler, der anfangs vermisst wurde, fand man später beim Bier in der Moorhütte. Menschen waren, soweit wir in Erfahrung bringen konnten, nicht ernsthaft verletzt worden.

Im vergangenen Herbst, als es heftig stürmte, bin ich am späten Sonntagnachmittag auf meinem Weg von Nienburg nach Hannover über Steinhude gefahren. Weil der Wind stark an meinem Auto rüttelte, war ich neugierig geworden und ging dort für eine Weile auf den langen Steg. Von den Rehburger Bergen herunter beschleunigten die Luftmassen, sodass sie auf der ebenen Fläche des Sees zur Höchstgeschwindigkeit auflaufen konnten. Meine 70 Kilo reichten gerade noch aus, mich gegen den Winddruck stemmen zu können, ohne weggeblasen zu werden. Das Atmen fiel schwer, als würde einem die Luft entzogen. Gischtwolken flogen in einem Wahnsinnstempo über das aufgewühlte Wasser. Sie vermittelten eine Ahnung von der Windgeschwindigkeit. Ein faszinierendes und zugleich bedrohliches Schauspiel.

Ich kann nur immer wieder meinen Hut ziehen und mich vor der Natur verbeugen. Wenn sie mit Macht zu uns spricht, gibt es kein Vertun und oft kein Entrinnen. Sie ist die größte Macht in unserem kleinen Leben. Nur durch eine Laune kann sie menschliche Charaktere stärken oder entblößen. Sie ist dabei absolut gnadenlos. Sie setzt die Maßstäbe und legt die Grenzen fest. Wenn wir sie achten und respektieren, belohnt sie mit Schönheit und Vielfalt, mit leckeren und nahrhaften Früchten oder mit kristallklarem Wasser. Wenn wir sie außer Acht lassen, vergessen oder sogar zu beherrschen versuchen, bestraft sie uns grausam. Davon können wir uns heutzutage fast täglich und mit zunehmender Häufigkeit in den Nachrichten überzeugen.

Durch die Begegnungen mit den Naturgewalten werden jedes Mal Verhältnisse wieder zurechtgerückt. Zumindest wird einiges im Bewusstsein der betroffenen Personen neu geordnet. Wenn nicht gerade der Verlust von Menschenleben zu beklagen ist, kann ich sogar eine gewisse Freude nicht verhehlen, wenn die geschundene Natur zurückschlägt und die Menschheit in ihre Schranken weist.

Dann führt sie uns vor, wie anfällig, unstabil und provisorisch die von Menschen geschaffenen Systeme sind. Das vermittelt uns ein Gefühl dafür, wie komplex und umfassend natürliche Systeme beschaffen sind und wie wichtig es ist, diese Systeme in unser Leben und mehr noch unser Leben in sie zu integrieren, sie, soweit der menschliche Geist die Zusammenhänge in ihrer Gesamtheit erfassen kann, als Basis für unsere Systeme zu nutzen, ohne verändernd in sie einzugreifen.
 
Aber wenn man einerseits die menschlichen Systeme in ihrer heutigen Komplexität betrachtet, soweit sie überhaupt noch überschaubar sind und der Mensch nicht rat- und tatlos vor den Folgen und Auswirkungen steht, und man auf der anderen Seite zumindest ein Gespür für die natürlichen Zusammenhänge vom Mikro- bis zum Makrokosmos hat, wird klar, welche Diskrepanzen hier bestehen, wie weit die von Menschen geschaffenen Systeme sich ignorant von der Natur wegentwickelt haben.

Was für eine schwierige Aufgabe ist uns gestellt, wenn wir den menschlichen Alltag und die Gesetzmäßigkeiten unseres Universums wenigstens soweit in Einklang bringen wollen, dass die Häuser unserer Kinder nicht von Stürmen hinweggefegt, die Haut unserer Kinder nicht von den Sonnenstrahlen verbrannt werden, unsere Kinder noch Luft zum Atmen und Wasser zum Trinken haben werden und ihnen nicht schließlich das Wasser der Sintflut bis zum Halse steht?

Wenn ich mich als einen sensiblen Teil der natürlichen Zusammenhänge begreife, spüre ich das Wachsen in mir und um mich herum, die stetige Veränderung, das Erblühen und Verblühen, fühle ich die Natur in mir pulsieren. Ich spüre ihre als meine Kraft und fühle mich durch sie am Leben. Ich habe die unerschütterliche Gewissheit, auf der richtigen Seite zu stehen. Im weitesten Sinne ist die Natur im Laufe des Lebens zum Zentrum meines Glaubens und meiner Religiosität geworden.

Es gibt unzählige Ansätze in die richtige Richtung. Es gibt viele und immer mehr Menschen, die sich auf bestem Wege zu einer ganzheitlichen Sichtweise befinden und versuchen, ihr Leben entsprechend einzurichten. Trotz zahlreicher Rückschläge und teilweise übermächtiger Gegenspieler gibt es Erfolge, die uns Mut machen können.

Ich will nicht sagen, dass da ein Zusammenhang bestünde, aber Helga hat sich nicht viel später von Günther getrennt. Ich weiß nicht wie, aber irgendwie ist mein Kontakt zu dem Skipper auch eingeschlafen.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.08.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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