Annika Senger

Von Maden und Schmetterlingen

Sekretärin mit Berufserfahrung sucht neue Herausforderungen. Erst am Wochenende wird ihr verzweifeltes Jobgesuch in allen Berliner Tageszeitungen erscheinen. Im Nachhinein hätte sie ihre Annonce schon viel früher aufgeben sollen. „Es wäre klüger gewesen, mehr auf mein Gefühl zu hören“, denkt sie. Und ihre Vernunft zwingt sie, sich Maden im Salat und fremde Haare in der Dusche vorzustellen. Aber das Bild verblasst so schnell, wie es sich zusammengefügt hat. „Denk an Würmer und Blutegel“, schießt es ihr beinahe über die Lippen. „Spulwürmer und Küchenschaben können ihn dir auch ein für alle Male aus dem Kopf prügeln!“

Vor ihrem geistigen Auge hält sie krampfhaft das Bild des sich windenden und krabbelnden Getiers fest. Fast sechs Jahre ist sie glücklich mit Leon. Nichts konnte das Fundament ihrer Beziehung jemals erschüttern. Kein anderer Mann – nicht, seit sie Leon kennt und liebt. „Wir sehen so gut zusammen aus“, denkt sie. „Und Leon ist auch um Längen attraktiver als Thomas. Was reizt dich jetzt eigentlich an Halbglatze und Bartstoppeln, Marlene?“ Marlene visualisiert eine dicke, schwarze Spinne auf ihrem Kopfkissen, danach eine Traube von Fliegen auf einem Stück Butter, bis sie schließlich bei Maden im Kühlschrank angelangt. Und auf einmal wird ihr klar: „So viele Phallus-Symbole! Hör’ doch endlich auf mit den Maden! Denk’ daran, wie schlimm es wäre, wenn Leon einen Unfall hätte. Das wäre eine wirklich furchtbare Vorstellung!“

Traurigkeit fließt langsam bis in ihre Fingerspitzen. Heute wollen sie den Weg zur Computer-Tastatur nicht so richtig finden. Sie wünschte, Thomas würde aus ihrem Leben verschwinden. Auch wenn sie nie einen angenehmeren Chef hatte. Obwohl sie der Gedanke an Arbeitslosigkeit mit Angst und Schrecken erfüllt. Sie kann ihm nicht mehr in die Augen schauen, denn ihr Gesicht ist ein offenes Buch. Wahrscheinlich weiß er längst, was sie für ihn empfindet. Verbotene Gefühle. Nichts als Lust und niedere Triebe. Sie fühlt sich emotional versklavt, doch manchmal meldet sich ihre Vernunft: „Das geht vorbei, Marlene. Was du gerade erlebst, ist nur eine hormonelle Veränderungen im Körper. Aber mit der Zeit werden auch die Schmetterlinge im Bauch davonfliegen.“

Sie bemerkt nicht, dass Thomas längst die Schwelle ihres Büros überschritten hat. „Guten Morgen, Frau Schneider. Ist Ihnen heute nicht gut? Sie wirken ein wenig abwesend“, reißt er sie aus ihrer verknoteten Gedankenwelt heraus.

Sie würde gerne zu Wasser zerfallen und im Teppich unter ihrem Schreibtisch versickern. „Guten Morgen, Thomas“, antwortet sie gespielt ruhig.

„Frau Schneider, ich habe nachgedacht“, sagt er. „Ich glaube, wir sollten uns besser nicht mehr duzen. Was halten Sie davon?“

Thomas ist frisch rasiert. Keine einzige Bartstoppel verunstaltet mehr sein Gesicht. Irgendetwas in seinen Augen wirkte anziehend auf sie. Vielleicht auch sein Lächeln, aber zu allererst war es der Klang seiner Stimme, der ihre Seele gekitzelt hat. In dem Punkt ist sie sich sicher, obwohl sie am liebsten weinen möchte.

„Nicht mehr duzen… Auf einmal… Nun gut, Sie sind der Chef“, erwidert sie enttäuscht, aber gleichzeitig befreit und ernüchtert. Sie schlägt die Schmetterlinge im Magen mit einer Fliegenklatsche tot. Sie ist kurz davor, die naive Sekretärin, die auf der Betriebsfeier am Wochenende den ganzen Abend mit ihrem Chef Tango getanzt hat, zu ohrfeigen. „Du hast wohl spanisches Blut in deinen Adern“, hört sie ihn immer noch sanft in ihr Ohr flüstern.

„Ja, genau. Ich bin der Chef, und Sie sind die Sekretärin“, sagt er jetzt mit unterschwelliger Strenge. „Ach übrigens, ich habe gerade in Ihren Schreiben einige Tipp-Fehler gefunden. Sie müssen sich mit der neuen Rechtschreibung wohl noch ein wenig vertrauter machen.“

„Ich beherrsche sowohl alte als auch neue Rechtschreibung wie im Schlaf“, gibt sie ihm kühl zu verstehen.

„Es kann ja sein, dass Ihre vorigen Chefs in Sachen Rechtschreibung eine Spur zu nachsichtig mit Ihnen waren, Frau Schneider. Aber ich lege großen Wert auf Genauigkeit. Hier, korrigieren Sie bitte Ihre Korrespondenz. Ich habe sie mit roten Anmerkungen am Rande versehen.“

Thomas scheint einen kleinkrämerischen Zwillingsbruder zu haben. Und der demütigt Marlene, wie es noch kein Chef zuvor getan hat. Ihre Briefe hält er angewidert zwischen Daumen und Zeigefinger, als handele es sich nicht um Papier, sondern um schmutzige Unterhosen.

„Sagen Sie bitte nichts gegen meine ehemaligen Chefs. Die waren alle sehr kompetent und vor allem sachlich“, möchte sie ihn anbrüllen. Stattdessen stammelt sie die Worte mit kleinlauter Stimme.

„Nichts für ungut. Erledigen Sie, was ich Ihnen aufgetragen habe.“

Thomas verlässt ihr Büro so schnell, wie er es betreten hat. Marlene möchte sich zerreißen vor Scham. Noch vor wenigen Tagen waren sie nicht länger zwei hellhäutige, blauäugige Menschen in einem Saalbau in Weißensee. Sie war ein Stück Glut auf einem bunten Marktplatz in Argentinien. Wie Thomas auf der Feier ihre Glut geschürt hat... Nacht für Nacht bebte sie seitdem schlaflos im Zaum der Tangoklänge. Sie wollte sich wieder mit ihm der Musik hingeben, zerfließen bei den Berührungen seiner Hände. Doch nun steht für Marlene ein Entschluss fest: Nach Dienstschluss wird sie als erstes zum Arbeitsamt gehen.

 

Annika Senger

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.08.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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