Christoph Pohl

Der Ausblick

Was für ein Tag! Solch einen schönen Sonntag hatte er schon lange nicht mehr erlebt. Da stand Erik jetzt schon 3 Minuten auf dem Balkon und genoss die ersten wärmenden Sonnenstrahlen dieses Jahres. Der Frühling hatte seine Arme ausgeworfen und breitete sich nun im Rekordtempo über die Stadt aus. Und so war es Eriks Privileg gewesen, schon mitten im April auf seinem Balkon rauchen zu können. Seine Wohnung lag im obersten Stock und somit lehnte er sich in seinem noch leicht kalten Liegestuhl zurück und genoss den Ausblick.
 
Direkt hinter dem Geländer erhob sich die Skyline der Stadt. Da war dieses wunderbar alte Haus zwei Straßen weiter und die türkische Botschaft zu seiner Rechten. Die deutsche und türkische Flaggen zuckten im Wind und verliehen Erik noch mehr das Gefühl in seiner eigenen Welt zu liegen, wo es kein Wetter, keinen Wind, geschweige irgendwelche anderen Einflüsse auf ihn gab. Er versank immer weiter in den blauen Himmel. Nahe am Horizont waren zwar riesige weiße Wolken zu sehen, aber das würde seine gute Laune nicht mindern. Es war bewundernswert wie die Sonne langsam den Schleier der Dunkelheit aus der Stadt vertrieb.
 Kurz vorher war seine Freundin losgegangen, nachdem sie gemütlich und romantisch gefrühstückt hatten. In seiner eigenen Wohnung waren sie viel ungestörter und konnten ihren Gefühlen viel mehr Platz machen. Zum ersten Mal fühlte er sich richtig unabhängig von Familie. Er war endlich frei und das schlug auch auf seine Freundin über, mit der er noch nie so viel Zeit gemeinsam verbracht hatte wie jetzt, wo er endlich in seiner eigenen Wohnung lebte. Früher hatte er sich immer bei ihr beklagt, dass sie einfach nie Zeit für ihn hatte, doch seinen Annahmen entgegen, hatte sich das schlagartig geändert als er umgezogen war.
 
Doch er konnte die Dinge, die er hatte und mit denen er glücklich sein sollte, nie so richtig wertschätzen. So hatte Erik sich am Frühstückstisch wieder an kleinsten Dingen aufgespielt und sich mit seiner Freundin gestritten. Er warf ihr vor, dass sie nur so selten da sei und niemals Zeit für ihn hätte. Und dann spitzte er das alles natürlich ganz zu, so wie es in seiner Natur lag. Er beschimpfte sie und machte ihr Vorwürfe. Doch am schlimmsten brannten die Unterstellungen in ihrer Seele: Sie würde ihn nicht lieben. Sie konnte ihn noch nie richtig als ihren Freund wertschätzen. Sie zieht alle anderen Dinge vor.
Das war der Moment gewesen, in dem sie weinend aufgestanden war, ihre Tasche vom Bett genommen hatte und mit einem lauten Knall aus der Wohnungstür verschwunden war – sie wurde schon seit 2 Jahren so von ihm erniedrigt.
Er hatte bloß siegessicher dagesessen und in sich reingegrinst. Er wusste, dass sie doch zurück kommen würde. Nicht einen Moment dachte er darüber nach, ob er überhaupt Recht hatte mit seinen ganzen Vorwürfen und Unterstellungen. Er aß noch seine letzte Schrippe zu Ende und begab sich dann langsam und gemütlich raus auf dem Balkon, um seine erste Zigarette an diesem Morgen zu rauchen.
 Sie würde wiederkommen...
 Und so hatte er sich lieber dem Genuss seiner eigenen Welt gewidmet, anstatt über seine eigenen Fehler nachzudenken. Stets versank er lieber in seiner eigenen egozentrischen Welt als sich den wahren Problemen in seines Lebens zu widmen. Stets schob er alles auf seine Mitmenschen, aber sah nie seine eigenen Fehler. Er hinterfragte ja nicht mal seine eignen Taten.
 
Als er seine Kippe in die angenehme Frühlingsluft hinaus wegwarf und die streichelnden Sonnenstrahlen noch im Nacken merkte als er wieder hineinging, merkte er immer noch nicht, dass sich direkt unter ihm eine Traube von Menschen um ein rotes Motorrad gesammelt hatte. Ein Lastkraftwagen hatte das Motorrad an der Kreuzung, an der Erik wohnte, übersehen. Die Fahrerin war direkt in einen Baum geschleudert worden. Eriks Freundin würde nie wieder zurückkommen.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.09.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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