Monika Klemmstein

Das Wiedersehen

Als der Herr ihn rief, mußte er gehen. Damals konnte sie ihm nicht folgen. Der Herr ließ sie noch nicht. Der Herr schaute nach ihrer Kerze. Nein, noch war sie nicht abgebrannt. Ein kleiner Stummel war noch übrig. So holte er nur ihn.
Ein alter, weiser Mann stand nun ganz allein vor dem großen Tor und bat um Einlaß.
"Wie lange wird es noch dauern, bis ich meine Anna wiedersehe", fragte er den Herrn.
"Hab Geduld mein Freund", antwortete der Herr mit freundlicher Stinmme.

Und jeden Tag ging der Alte in den Kerzensaal und sah nach der Kerze. Schon wieder ein Stück mehr heruntergebrannt.
"Ob ich vielleicht ...? Nur so ein ganz klein wenig anhauchen? Dann würde sie verlöschen. Bestimmt wird's niemand bemerken", dachte er so bei sich.
"Untersteh dich, mein Freund", hörte er die Stimme des Herrn hinter sich.
Der Herr schmunzelte: "Ich weiß ja, das Warten fällt dir schwer. Doch laß dir gesagt sein, greif mir nicht in mein Handwerk. Das kann ich besser als du. Noch lenke ich die Geschicke der Welt. Hab doch Geduld und vertrau mir. Sieh doch mal, es geht ihr doch gut."
Und der Alte blickte hinunter auf die Erde und ward beruhigt.

Doch seine Sehnsucht wuchs, jeden Tag ein Stück mehr.
Er bat den Wind um Hilfe: "Du Wind, kannst du nicht mal eben so ein klein wenig über den Kerzensaal ziehen? Nur einen ganz kleinen Hauch?"
"Wie stellst du dir das denn vor, Alter" entrüstete sich der Wind, "dann gehen doch alle aus. Und wenn nicht, dann vielleicht eine falsche."
Das wollte der Alte auch nicht.
So blieb ihm nur, jeden Tag in den Kerzensaal zu gehen.

Dann endlich war es soweit. Keine lodernde hellgelbe Flamme mehr. Nur noch ein winziges blaues, flackerndes Flämmchen. Das Wachs war ein flüssiges Pfützchen.
Aufgeregt lief der Alte zum Herrn: "Herr, Herr, mach das große Tor auf. Die Kerze ist gleich aus."
"Ich weiß, mein Freund", sprach der Herr, "geh schon mal. sie kommt gleich."

Als der Alte zum Tor kam, waren alle Engel des Himmels schon dort versammelt. Sie waren in ihre festlichsten Gewänder gekleidet. Viele hatten ihre Instrumente dabei. Aufgeregt sprachen alle durcheinander.
Dann kam der Herr. Er legte den großen Riegel nach hinten und stieß beide Flügel des großen Tores weit auf. Die Instrumente erklangen, die Sonne glitzerte und tauchte alles in ein goldenes Licht. Da stand sie.
Der Herr ließ sie eintreten, die Engel bildeten ein langes Spalier und hießen sie willkommen.
Der Alte breitete seine Arme aus: "Ach Anna, da bist du ja endlich. So lange läßt du mich aber nicht mehr allein."

Monika Klemmstein

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