Susanne Wetzel

Taetliche Auseinandersetzung mit einer Amaryllis

Vor einigen Tagen entdeckte ich sie in einer Buchhandlung. Neben den vielen Büchern über Malerei wirkte sie fast bescheiden und doch: sie zog meinen Blick an, mehr als die anderen Bücher. Es schien, als würde sie mit mir Kontakt aufzunehmen, um mir zu sagen: „Nimm mich mit, ich bin bezaubernd schön. Ich bin so schön, dass ich auf dem Umschlag eines Buches über Blumenmalerei abgebildet bin.“
 
Ich nahm sie mit in unsere Malgruppe, aber nicht wegen ihr alleine, sondern auch wegen ihrer schönen Blumenschwestern, die uns als Vorlage für unsere Malerei dienen könnten. Sie ging seither durch viele Hände, wurde bewundert und wieder zu den anderen Büchern über Malerei gelegt. Malen geht nicht auf Kommando, die Stunde muss stimmen.
Gestern Abend flog eine Muse durch unseren Aufenthaltsraum und verschenkte großzügig Küsse. Die magische Stunde war gekommen, die kreativen Kräfte mussten umgesetzt werden. Ich wählte die Amaryllis als Motiv, ich wollte sie malen, und sie wollte es auch.
Mit meinem Graphitstift begann ich, ihren Umriss und ihre perfekten Linien auf das Papier zu bringen. Doch jedes Mal, wenn ich meine gezeichneten Linien mit ihr verglich, schien sie mir auszuweichen, sich zu drehen und zu beugen. Sie lächelte mich überlegen und kühl an und tanzte aus der Reihe, in die ich sie zwingen wollte.
Endlich, nach vielen verbesserten Strichen gelang es mir, eine Ähnlichkeit mit ihrem Körper zu erarbeiten. Als ich dann zur Farbe griff lachte sie laut und tanzte weiter: „Du fängst mich nicht, du besiegst mich nicht.“ Das konnte und wollte ich nicht zulassen. Ich nahm die weiche Pastellkreide in Rot, um ihre makellose Haut nachzuahmen. Die Amaryllis ließ es zu, dass ich sie studierte. Was ich sah, war ein Teint von einer Reinheit und Samtigkeit, für den ich meine Seele verkaufen würde. Sooft ich es auch versuchte, dieses Aussehen aufs Papier zu bringen, ich konnte diese Schönheit nicht einfangen. Sie lachte weiter, ich wehrte mich gegen sie. Mein Farbauftrag wurde wilder, meine Strich härter, ich wechselte hastig die Farben Rot Schwarz.   Ihr Lachen wurde immer kälter, die Bewegungen zackiger. Hatte ich eine Ähnlichkeit erzielt, bewegte sie sich in eine andere Richtung. Jetzt ging ihr Lachen in ein grässliches Fauchen und Zischen über, ihre Blütenblätter wurden länger, spitzer, verwandelten sich in lange Krallen. Sie tanzte nicht mehr, sondern griff mich an. Ihre spitzen Krallen schlitzten meine Hände auf, rotes und schwarzes Blut spritzte heraus, ich wischte es auf ihrem Bild ab. Ihr Gesicht wandelte sich von der Schönheit in eine grauenvolle Maske.
Wilder und wilder wurde unser Kampf, bis ich die Schmerzen nicht mehr aushielt und zurückwich.
Die hässliche Maske, die mich aus dem Buch heraus fixierte, verwandelte sich wieder in die kühle Schönheit. Sie blickte zu mein Gemälde hin und meinte: „Du hast es nicht geschafft, mich zu kopieren.
„Doch“, erwiderte ich, „ ich habe ein Bild deines wahren Charakters erschaffen.“ Ich schlug das Buch mit dem Originalbild zu und spürte, dass sie darüber heftig erschrak. Mein Gemälde hängte ich an der Wand auf, die Kampfspuren waren deutlich zu sehen. Eine meiner Kolleginnen war vom dem Bild über alle Maßen begeistert. Ich schenkte ihr meine Amaryllis und auch das Buch mit dem Original.
Jetzt ziert sie eine Wand, gebändigt hinter einem Glasrahmen, ungefährlich, besiegte und eingesperrte Schönheit und hofft, dass sie nicht ausgetauscht und entsorgt wird.
 
Mai 2006 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.09.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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