Gestern Abend
flog eine Muse durch unseren Aufenthaltsraum und verschenkte großzügig Küsse.
Die magische Stunde war gekommen, die kreativen Kräfte mussten umgesetzt
werden. Ich wählte die Amaryllis als Motiv, ich wollte sie malen, und sie
wollte es auch.
Mit meinem
Graphitstift begann ich, ihren Umriss und ihre perfekten Linien auf das Papier
zu bringen. Doch jedes Mal, wenn ich meine gezeichneten Linien mit ihr
verglich, schien sie mir auszuweichen, sich zu drehen und zu beugen. Sie
lächelte mich überlegen und kühl an und tanzte aus der Reihe, in die ich sie
zwingen wollte.
Endlich, nach
vielen verbesserten Strichen gelang es mir, eine Ähnlichkeit mit ihrem Körper
zu erarbeiten. Als ich dann zur Farbe griff lachte sie laut und tanzte weiter:
„Du fängst mich nicht, du besiegst mich nicht.“
Das konnte und
wollte ich nicht zulassen.
Ich nahm die
weiche Pastellkreide in Rot, um ihre makellose Haut nachzuahmen. Die Amaryllis
ließ es zu, dass ich sie studierte. Was ich sah, war ein Teint von einer
Reinheit und Samtigkeit, für den ich meine Seele verkaufen würde.
Sooft ich es
auch versuchte, dieses Aussehen aufs Papier zu bringen, ich konnte diese
Schönheit nicht einfangen. Sie lachte weiter, ich wehrte mich gegen sie. Mein
Farbauftrag wurde wilder, meine Strich härter, ich wechselte hastig die Farben Rot
Schwarz.
Ihr Lachen
wurde immer kälter, die Bewegungen zackiger. Hatte ich eine Ähnlichkeit
erzielt, bewegte sie sich in eine andere Richtung. Jetzt ging ihr Lachen in ein
grässliches Fauchen und Zischen über, ihre Blütenblätter wurden länger, spitzer,
verwandelten sich in lange Krallen. Sie tanzte nicht mehr, sondern griff mich
an. Ihre spitzen Krallen schlitzten meine Hände auf, rotes und schwarzes Blut
spritzte heraus, ich wischte es auf ihrem Bild ab. Ihr Gesicht wandelte sich
von der Schönheit in eine grauenvolle Maske.
Wilder und
wilder wurde unser Kampf, bis ich die Schmerzen nicht mehr aushielt und
zurückwich.
Die hässliche Maske, die mich aus dem Buch heraus fixierte,
verwandelte sich wieder in die kühle Schönheit. Sie blickte zu mein Gemälde hin
und meinte: „Du hast es nicht geschafft, mich zu kopieren.
„Doch“, erwiderte
ich, „ ich habe ein Bild deines wahren Charakters erschaffen.“
Ich schlug das
Buch mit dem Originalbild zu und spürte, dass sie darüber heftig erschrak.
Mein Gemälde
hängte ich an der Wand auf, die Kampfspuren waren deutlich zu sehen.
Eine meiner
Kolleginnen war vom dem Bild über alle Maßen begeistert. Ich schenkte ihr meine
Amaryllis und auch das Buch mit dem Original.
Jetzt ziert sie
eine Wand, gebändigt hinter einem Glasrahmen, ungefährlich, besiegte und
eingesperrte Schönheit und hofft, dass sie nicht ausgetauscht und entsorgt
wird.
Mai 2006