Tobias Mai

Ein Grund zum Töten?

Noch immer hockte Christiane vor dem Schlüsselloch des Wohnzimmers. Ungläubig starrte sie hindurch, sie konnte nicht viel sehen, dennoch zitterte sie am ganzen Körper. Der leichte Luftzug am Schlüsselloch streifte ihr Gesicht und lies sie zusätzlich frösteln. Ihr Magen war dabei sich umzudrehen und sie ballte ihre Faust. Verzweifelt schlug ihr Herz immer schneller und sie atmete schnell und flach. Bei der Stille die eingetreten war befürchtete sie schon fast gehört zu werden.



Vor fünf Minuten hatten ihre Eltern sich ins Wohnzimmer verzogen und ihr befohlen auf ihr Zimmer zu gehen und dort zu warten bis sie geholt würde. Christiane hatte ihr Zimmer nicht mal kurz betreten. Sie wusste worüber ihre Eltern sprechen wollten. Es ging um die Ehekrise. Ihr Vater war ein Säufer, der wusste wie schlimm sein Problem war, und das war der erste Schritt zur Besserung, fand Christiane. Ihre Mutter war dafür eine Raucherin. Eine Schachtel pro Tag war da keine Seltenheit und mehr war immer drin.



Christiane beruhigte sich nicht und zitterte immer mehr. Die beängstigende Ruhe raubte ihr die Kraft sich zu beherrschen. Angespannt lauschte sie den Bewegungen im Wohnzimmer und sie begann zu ahnen, was sich ereignet hatte. Vielleicht hatten sie ihren Streit auch plötzlich unterbrochen, weil sie erkannt hatten wie sinnlos dieser Streit war, und lagen sich jetzt schweigend in den Armen. Sicher wusste Christiane das nicht, sie konnte nur vermuten. Durch das Schlüsselloch sah sie nur die Wand, es tat sich nichts.



Geliebt hatten sich ihre Eltern immer. Sie hatten viel unternommen und sich ewige Treue geschworen, schon am Anfang der Beziehung. Dann kam die Zeit in der die Kleinigkeiten nicht mehr stimmten. Die scheinbar belanglosen Dinge blieben weg. Ihr Vater hatte aufgehört mal mit einem Frühstück im Bett auf das Erwachen ihrer Mutter zu warten. Und wenn ihre Mutter ihren Vater mal in den Arm nahm, dann meistens nur sehr flüchtig. Die Diskussionsthemen wurden immer oberflächlicher und eigentlich ging alles in den Keller.



Ein saurer Geruch strömte kaum wahrnehmbar aus dem Schlüsselloch. Christiane verzog das Gesicht und ging in die Küche. Sie rechnete mit dem Schlimmsten und wollte nicht beim Lauschen vor der Tür erwischt werden. Egal was passiert war, es wäre unklug ihren Eltern im Weg zu sein, nachdem sie eine wichtige Entscheidung getroffen hatten. Ein flüchtiger Blick aus dem Fenster verriet, dass der Regen noch lange nicht aufhören würde. Die dicken Tropfen fielen Massenweise vom Himmel und machten ein gleichmäßig klopfendes Geräusch. Das Wetter schien ihre Stimmung auszudrücken.



Das letzte Jahr war das schlimmste gewesen für die Familie. Das Elternhaus war auseinander gebrochen und es war ein letzter Versuch gestartet worden. Ein zweites Baby sollte her, um die Beziehung zu retten. Schon lange vor der Geburt war da aber nichts mehr, das zum Retten da gewesen wäre. Josefine hatte das Gesicht der Welt erblickt und ein paar Tage lang hatte Christiane geglaubt alles sei wie früher geworden. Die Idylle verlor sich über die Tage wieder und ihr Vater verbrachte kaum Zeit zu Hause während ihre Mutter ihr die Hölle heiß machte solange sie schlechte Laune hatte. So war Christiane auch möglichst wenig zu Hause gewesen, aber dennoch zu viel.



Den letzten Monat änderte sich das, Christiane kümmerte sich viel um Josefine. Es sollte ihr nicht schlecht gehen, wegen ihrer Eltern. So verbrachte Christiane zwar sehr viel Zeit zu Hause, und ihre Mutter ließ sie in Ruhe solange sie ihr die Arbeit mit dem Baby abnahm. Christiane war sich sicher eine viel bessere Mutter als ihre eigene zu sein. Insgesamt war das auch nicht schwer. Sie war nicht unbedingt gerne Mutter, viel mehr war sie Mutter aus Pflicht. Sie hatte keine Wahl, wenn sich nicht wollte, dass ihre kleine Schwester vor ihren Augen Tag für Tag mehr verkümmerte.



Das Wetter draußen wurde nicht besser, im Gegenteil die Tropfen wurden dicker und das Licht dämpfte sich weiter. Es war ungewöhnlich dunkel für die Uhrzeit, ganz besonders, weil Sommer war. Aus Verzweiflung, weil sie nichts tun konnte nahm sie eine Flasche Cola und begann zu trinken. Die Flasche war schnell geleert, aber besser fühlte sich Christiane danach nicht. Kein bisschen.



Die letzte Woche war die schlimmste. Ihr Vater hatte begonnen nicht nur in Kneipen zu trinken. Er war die ganze Zeit zu Hause und trank von einem riesigen Vorrat Bier, den er vorher hergeschleppt hatte. Ein ständiger Konflikt mit Christianes Mutter war so unvermeidlich. So völlig breit hatte ein Streit noch weniger Sinn, als die sinnlosen Streitereien, die sie sonst austrugen. Christiane war in dieser Woche jeden Tag mit Josefine und ihrem Kinderwagen spazieren gegangen. Unter drei Stunden dauerte keiner dieser Ausflüge. Nur zu lange konnte sie auch nicht mit ihrer kleinen Schwester draußen bleiben. Sie war einfach zu jung dafür.



Noch immer war es völlig still im Haus und der Regen ließ kein Stück nach. Jetzt wo die Cola leer war, versuchte Christiane sich mit etwas anderem zuzuschütten. Sie fand einige Liter Milch im Kühlschrank und begann wieder zu trinken. Frust und Angst konnte sie sich leider nicht aus dem Kopf trinken. Nicht mit Milch und Cola. Dazu hätte sie Bier gebraucht. Bier war auch immer noch genug da. Der Vorrat ihres Vaters war vielleicht zur Hälfte aufgebraucht. Nur eventuell würde sie einen klaren Kopf brauchen in den nächsten Stunden und sie wollte nichts riskieren.



Das Gespräch war anfangs sehr vernünftig gelaufen. Die beiden Erwachsenen waren nicht laut geworden und hörten einander sogar zu. Mehr oder weniger aufmerksam. Ihr Vater war für einen weiträumigen Kompromiss gewesen, in dem beide erst mal ordentlich zurückstecken würden, um wieder normale Verhältnisse herzustellen. Obwohl er blau war, hatte er die Sache sehr nüchtern gesehen und vernünftig. Nicht so vernünftig, wie er nüchtern dazu in der Lage war.



Ihre Mutter war kaum mit dem Kompromiss einverstanden. Sie war nicht bereit gewesen für die Ehe zurückzustecken. Selbst Christiane und Josefine waren ihr dafür nicht wichtig genug. Sie stellte sich auf Stur. Geschickt reizte sie ihren Mann. Sie wusste, er war blau. Genauso wusste sie, wie sie ihn dazu brachte gewalttätig zu werden. Da hatte sie ihn bald und er schlug zu. Christiane hatte dieses Geräusch gehört. Sie hatte ihre Mutter heftig stöhnen und zu Boden fallen gehört. Am liebsten hätte sie laut aufgeschrieen.



Ihre Mutter war schnell wieder aufgestanden und hatte ihrem Mann ein Messer in den Hals gerammt. Ohne einen Laut von sich zugeben war er umgefallen und mausetot. Danach war nichts geschehen und die beängstigende Stille war eingetreten. Während Christiane in der Küche saß, hatte ihre Mutter begonnen die Leiche in einen Plastiksack zu stecken. Christiane konnte das Knistern, zum Teil weil sie in der Küche war und zum Teil weil es noch so stark regnete, nicht hören.

Verhängnisvoll.

Noch hatte sie nicht die leiseste Ahnung, was ihre Eltern im Wohnzimmer getrieben hatten.



Sie saß still da und hatte einen Liter Milch zu dem Liter Cola getrunken. Sie hatte sich auf einen heftigen Streit ihrer Eltern vorbereitet und sich schon Schuhe angezogen, auch Josefine war so weit, dass sie einfach mitgenommen werden konnte, falls es nötig war Hals über Kopf zu fliehen.



Christiane entschloss sich dem Streit ein Ende zu machen. Sie wollte nicht verprügelt werden und nahm deshalb das größte Küchenmesser mit. So würden ihre Eltern ein paar Minuten lang Respekt zeigen, bis sie abhauen würde. Mit Josefine. Sie wollte hier nicht mehr leben.



Eine Minute lang lauschte sie ihrem Atem, während sie wieder vor der Wohnzimmertür stand. Es war wieder still. Ihre Mutter hatte aufgehört die Leiche in den Sack zu stopfen, von der Christiane noch nichts wusste. Entschlossen öffnete sie die Tür und machten einen großen Schritt in den Raum. Entgeistert starrte sie ihre Mutter an. Ihre Hände waren blutverschmiert und sie beugte sich keuchend über einen großen blauen Sack. Von ihrem Vater war nichts zu sehen und Christiane schaltete schnell: „Du Mörderin!“ „Ich habe nicht gemordet sondern für ein besseres Leben in der Familie gesorgt. Bei seinem Gehalt haben wir von den Staatszahlungen viel mehr“, entgegnete ihre Mutter. Christiane hob zu ihrem Schutz drohen das Messer und machte einen Schritt zurück: „Glaubst du wirklich wir beide haben als Waisen ein besseres Leben? Alleine mit dir?“ Die Frau, die Christiane nicht mehr als ihre Mutter akzeptierte, richtete sich zu ihrer vollen Größe auf: „Er war ein Säufer und früher oder später hätte er angefangen uns alle zu schlagen. Wir waren in Gefahr. Ich werde seine Leiche verschwinden lassen und das Geld für die Lebensversicherung bekommen.“ „Er war bereit für einen Kompromiss. Ich habe alles gehört. Er wollte aufhören, aber du wolltest in keiner Weise zurückstecken. Er sollte auf alles verzichten und du auf gar nichts. Und deinen lächerlichen Mord an meinem Vater wird man aufdecken. Du wirst keinen Cent sehen, nur das Gefängnis und zwar von innen“, Christiane brach in Tränen aus, die sie bis eben mühsam zurückgehalten hatte. Ihre Mutter kam einen Meter näher: „Du hast ja keine Ahnung, aber ich glaube ich habe schon eine Idee. Du hast deinen Vater erstochen, nachdem ich am Boden lag, weil er mich geschlagen hat. Deine Fingerabdrücke werden an dem Messer zu finden sein!“ Christiane kreischte nur noch: „Du bist krank! Du zerstörst auch noch den Rest der Familie! Wofür?!?“ Die Frau näherte sich immer mehr: „Für mich. Ich tue es für mich und meine Familie. So haben wir alle mehr davon, als von einem Leben lang im Streit.“ Die Stimme klang erschrecken gelassen und kaltblütig. „Monster!“, flüsterte Christiane und wollte auf ihre Mutter losgehen.



Die nächsten Sekunden verliefen endlos lange. Sie überlegte warum sie ihre Mutter töten wollte. Weshalb hatte sie diese Scheißwut auf sie? Weil sie ihren Vater auf dem Gewissen hatte! Sie war eine Mörderin! Damit hatte sie ihr Leben schon verwirkt. Der Tod änderte hier nichts. Außerdem war sie besser als ihre Mutter, wenn sie auch tötete? Sie würde genau wie ihre Mutter für ihr eigenes Glück töten. Und sich mit ihrer Mutter auf eine Stufe stellen war das letzte, was Christiane in den Sinn kommen würde, sie brach den Angriff ab.



Mit aller Kraft warf sie das Messer in ihrer Hand vor die Füße ihre Mutter, die zwei Sekunden stehen blieb. Ohne ein weiteres Zögern tat Christiane, was sie die ganze Zeit plante. Einen schnellen Rückzug. Mit einem Handgriff hatte sie auf dem Weg nach draußen ihre Schwester im Arm die ziemlich eingewickelt, schlafend dalag. Von den Bewegungen wurde sie wach und schrie. Dicke Tränen liefen Christiane die Wangen hinab.



Plötzlich wurde Christiane bewusst, dass sie um ihr Leben lief und ihre Mutter hinter ihr her. Ihre Mutter war völlig krank im Kopf und für jeden eine Bedrohung. Panisch packte sie in ihre Hosentasche und suchte ihr Handy. Schnell Hilfe rufen, ging ihr immer wieder durch den Kopf. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, als sie es nicht fand und sich erinnerte es in ihrem Zimmer liegen lassen zu haben. Verzweifelt lief sie durch den peitschenden Regen. Schützend beugte sie sich über ihre Schwester und begann um Hilfe zu schreien, mit der Luft die sie nicht zum Laufen brauchte.



Niemand schien sie zu hören, obwohl sie genau wusste, dass sie von vielen Leuten gehört wurde. Mit einem Blick über ihre Schulter stellte sie fest, wie nah ihre Mutter kam und sie sah das Messer in ihrer Hand bedrohlich matt schimmern. Hilfe war noch immer nicht in Sicht. Mit einem Mal rutschte sie aus und viel hin. Sie drehte sich auf den Rücken Josefine noch immer fest umschlungen. Ihre Mutter hatte sie eingeholt. Breit grinsend über sie gebeugt holte sie mit dem Messer aus.



„Kann ich helfen?“, rief ein Mann, der mit einem Neupfundländer sein Haus verließ, weil er Christiane um Hilfe schreien gehört hatte. Erschrocken drehte sich die Mörderin einen Moment um und funkelte dann wieder ihr verängstigtes Opfer an. Selbst jetzt bereute Christiane nicht, dass sie ihre Mutter vor wenigen Minuten noch verschont hatte. Sie würde um ihr Leben kämpfen, aber dem Tod unschuldig ins Auge sehen. Noch hatte sie eine kleine Chance da lebend rauszukommen. Der Hund stürmte auf das Kommando „Fass“ wütend los und noch schnellte das Messer nicht los. Christiane schmeckte Blut in ihrem Mund fühlte wie ihre aufgeschlagenen Hände vom Schmerz durchzuckt wurden.



Der Hund stürmte wie ein Besessener los und gleichzeitig begann ihre Mutter mit dem Messer kraftvoll auszuholen. Christiane wollte ausweichen und Zeit gewinnen. Ihr Leben lag in diesem Moment aber nicht mehr ganz in ihrer Hand…

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.07.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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