Michael Mews

Der Nebel

 

 

Es war noch sehr früh, als ich mich Anfang Mai an den Tisch vor dem Haus setzte. Der Tisch bestand aus einer groben, grauen und großen Granitplatte und auch die Bank, auf der ich saß, bestand aus dem gleichen Stein. Vor mir fiel das Gelände steil ab und hinter mir, gleich hinter dem Haus, gab es eine, von Pflanzen begrünte Wand, von scharfkantigen Felsen durchdrungen, die steil in die Höhe ragte.

 

 

Vor einigen Tagen war ich neugierig, ich wollte wissen, was sich hinter der grünen Wand verbarg und kletterte den Berg hinauf. Der Auf- und Abstieg kostete mich sechs Stunden, aber er wurde auch mit einer wundervollen Aussicht belohnt. Nun genoss ich die Aussicht, die ich von meiner Bank aus hatte. Gleich hinter mir das Steinhaus, umgeben von saftigem grün und vor mir, tief unten das Tal mit dem kleinen Dorf Cognasto. Gegenüber von mir, weit weg die mächtigen, aufsteigenden Berge, am Talende der glitzernde Lago Maggiore und über mir der strahlend blaue Himmel.

 

 

Das Steinhaus hinter mir wurde, vor über dreihundert Jahren, als das Tal noch aus einem großen Sumpf bestand, in den steilen Hang eingebaut. Die Wände bestehen aus behauenem Felsgestein und das schräge Dach aus großen Granitplatten, ähnlich wie mein Tisch und die Bank, auf der ich saß.

 

 

Die Sonnenstrahlen wärmten mich. Seit zwei Wochen wohne ich schon in diesem Haus, alleine und alle paar Tage steige ich den Berg hinunter, um im Dorf einzukaufen und meine geringen italienischen Sprachkenntnisse anzuwenden.

 

 

Das Haus gehört den Eltern eines sehr guten Freundes von mir und als er zu mir vor zwei Wochen sagte:

 

„Unser Ferienhaus bei Cognasto ist schon seit vielen Monaten unbewohnt, wenn du Lust hast, kannst du dort gerne deinen Urlaub verbringen.“, schaute ich ihn freudig an.

 

„Aber gerne, vielen Dank“, sagte ich ihm. „Gleich Morgen werde ich losfahren“. Mit Ungeduld packte ich am Abend meine Reisetasche und stieg am nächsten Tag in den Zug nach Frankfurt. Die Zugreise dauerte von Berlin bis Bellinzona fast 24 Stunden. Als ich in Frankfurt umsteigen musste, hatte ich wenig Zeit, den Zug nach Milano zu erreichen, ich stieg gerade ein und schon fuhr er los. Als ich aus dem Fenster sah, sah ich ein großes Reklameschild: „Hin und her – im Schnellverkehr“. Ich musste schmunzeln und suchte mir einen Platz im Zug.

 

 

Bald, nach Freiburg sah ich staunend und bewundernd die Schweizer Berge und als der Zug in Bellinzona hielt, nahm ich meine Reisetasche und stieg aus dem Zug in ein Taxi, um nach Cognasto zu fahren und anschließend auf einem schmalen Pfad den Berg zu besteigen, bis zu dem Steinhaus. Ich kannte mich hier gut aus, da ich schon vor einem Jahr hier war.

 

 

Und nun sitze ich wieder auf dieser Steinbank, wie vor einem Jahr.

 

 

Gleich, dachte ich, werde ich mir einen warmen Tee und das Frühstück zubereiten, mir meine Mal- und Zeichenutensilien holen und vielleicht auch noch ein Buch, das mich besonders interessiert? Ich bewunderte die vielen Tautropfen auf den Blättern, verteilt, wie lauter kleine, funkelnde Diamanten. Ein Salamander lag auf einem Stein und wärmte sich.

 

Der blaue Himmel leuchtete noch immer über mir und ich warf noch einen Blick in das Tal.

 

 

Aber das kleine Dorf konnte ich nicht mehr erkennen, über dem ganzen Tal lag eine milchige Dunstwolke. Ich merkte, dass ich weniger weit sehen konnte, die Dunstwolke kletterte mit großer Geschwindigkeit den Berg, auf dem ich mich befand, hinauf.

 

 

Plötzlich befand ich mich mitten in dieser milchigen, grauen Wolke, die von den Sonnenstrahlen nicht durchdrungen werden konnte, die Vögel hörten auf zu zwitschern und es wurde mäuschen still. Schlagartig wurde es düster, kalt und der Nebel war so dicht, dass ich die Umrisse von dem Steinhaus nur wie einen dunklen Schatten wahrnehmen konnte. Soll ich in das Haus gehen, bis der Nebel vorbeigezogen ist? Aber ich getraute mich nicht; nun merkte ich nicht nur die Kälte, sondern auch ein Grauen, das mich ergriff. Ängstlich blieb ich auf der kalten Steinbank sitzen und der Nebel wurde immer dichter und dichter. Von dem Haus war nichts mehr zu erkennen. Plötzlich hörte ich ein Geräusch. Ich zuckte zusammen. Und da, war da nicht ein Schatten, der sich langsam bewegte? War ich doch nicht alleine in dieser Einsamkeit? Waren da noch andere Personen? Und warum haben sie gewartet, bis der Nebel kam, um sich erst dann dem Haus zu nähern? Suchten sie mich jetzt in dem Haus? Wenn sie feststellten, dass ich nicht in dem Haus bin, würden sie mich dann hier, an der Bank suchen? Ich erstarrte vor Angst, denn wenn jemand erst wartet, bis der Nebel kommt, um mich dann zu besuchen, dann ist das bestimmt kein freundlicher Gast. Fliehen, um mich zu verstecken konnte ich auch nicht, denn der Nebel war so dicht, dass ich nur einen Meter weit sehen konnte. Den kleinen Pfad, der in das Dorf führte würde ich nicht finden und ein Fehltritt wäre sehr ungesund, denn an manchen Stellen ging es steil, sehr steil nach unten. In 80 Meter Tiefe floss ein kleiner Bach und an diesem wollte ich mich nicht erfrischen. Das würde dann meine letzte Erfrischung gewesen sein.

 

 

Wieder hörte ich ein Geräusch und ich drehte mich ängstlich um. Es kam von einer Stelle, die zwischen mir und dem Haus lag. Angestrengt schaute ich in diese Richtung und getraute mich kaum zu atmen, denn da war wieder ein Schatten. Er bewegte sich etwas, schien aber stehen zu bleiben. Noch immer war der milchige Nebel so dicht, dass ich nichts deutlich erkennen konnte. Mann sucht mich also nun bei der Bank, dachte ich und kroch leise unter den Granittisch. Warum suchen die mich? Aus Spaß an Grausamkeiten? Auf diesen Spaß würde ich jetzt so gerne verzichten.

 

 

„Sind die Nebelbesucher der Grund, warum das Steinhaus so lange leer stand?“, sagte ich leise zu mir, kniend unter dem Granittisch und ich sehnte mich nach meinen Freunden. „Wenn ich jetzt bloß nicht alleine wäre“, dachte ich, voller Angst.

 

 

Nun drehte ich langsam meinen Kopf in die Richtung, in der ich das Tal vermutete und bemerkte, das der Nebel heller, immer helle und transparenter wurde. Plötzlich löste er sich mit einer großen Geschwindigkeit auf, stieg aber weiter den Berg über mir hinauf. Das Steinhaus konnte ich nun wieder erkennen und die wärmenden Sonnenstrahlen streiften meine Beine.

 

 

Krabbelnd kam ich vorsichtig unter dem Tisch hervor, blickte ängstlich zum Steinhaus, konnte aber keine fremden Besucher erkennen. Waren die Nebelbesucher nur eine Täuschung? Habe ich mir das alles nur eingebildet, war ich das Opfer meiner Fantasie?

 

 

Zuversichtlich streckte ich mich, denn mit dem Nebel verflogen auch das Grauen und die Angst. Nun war alles so, wie es sein sollte. Es war alles gut.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.09.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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