Katharina Roß
Das Kopfbeben
Du
erlebst im Kopf gerade einen Umschwung, eine Erneuerung sondergleichen. Die
ganze Welt hasst dich und verspottet dich, sie zeigen alle mit dem Finger auf
dich. Deinen Eltern passt du auf einmal nicht mehr in den Kram und andersherum
ist es genauso. Plötzlich wackelt deine ganze Welt und der Boden zittert und
bebt und haut dich einfach um. Du schlägst hart auf dem Boden auf und verlierst
für kurze Zeit das Bewusstsein, sodass du dich ersteinmal fragst wo du
eigentlich bist, als du wieder aufwachst. Plötzlich wird dir schmerzhaft
bewusst, dass du da bist, wovon du immer dachtest es sei dein zu Hause. Selbst
in deinem eigenen Zimmer fühlst du dich auf einmal unwohl, die Wände beengen
dich irgendwie und stellen Grenzen dar, die vorher nie da waren. Die Bilder
sind bei dem großen Beben von der Wand gefallen und liegen nun verstreut auf
dem Boden, das Glas von den Bilderrahmen zerbrochen. Die Möbel sind in sich
zusammengefallen, als wären sie aus Knete. Deine Bücher blieben auch nicht unversehrt.
Sie liegen alle aufgefächert auf dem Boden verteilt, manchen fehlen sogar ein
paar Seiten, die offensichtlich herausgerissen wurden. Jetzt hängen nur noch
die nackten Regale an den Wänden. Gut, dass sie fest in die Wand gebohrt
wurden. Du fragst dich, wie du in deinem Zimmer zurecht kommen sollst und wirst
gleichzeitig von einem heftigen Nachbeben erfasst. Dein Körper wankt und fällt
wieder auf den Boden. Du findest dich in einem Krankenhaus wieder und fragst
dich, was du dort suchst. Wer hat dich denn dahin gebracht?
Und
irgendwie fühlst du dich dort wohler als zu Hause, weil es dort weder Beben
noch Nachbeben gibt. Nichts erinnert dich an das Durcheinander in deinem Zimmer
und du bist sehr dankbar dafür. Du willst auch niemanden sehen, damit sie dich
nicht sehen. Irgendwie ist ihr schlechtes Gewissen eine Genugtuung für dich und
trägt zu deiner Genesung bei. Ist es nicht sehr witzig, dass du in einem Zimmer
schlafen darfst, in dem alles weich ist? Wer würde sich das nicht wünschen,
denn nirgends gibt es eine Möglichkeit sich zu stoßen. Du blutest in letzter
Zeit doch so oft.
Deswegen
bist du auch sehr betrübt als dir die Ärzte sagen, dass du wieder gesund bist
und nach Hause kannst. Zu Hause? Wo ist das?
Eigentlich
ist das Krankenhaus dein zu Hause, denn dort gibt es keine Beben, keine Schule
und nur ab und zu kommt jemand Fremdes vorbei und gibt dir Tabletten. Die sind
wirklich gut und du denkst auch nach deiner Entlassung permanent an diese
Tabletten. Die gibt es nur dort.
Komisch,
da wo neulich noch das Erdbeben war, ist nun alles wieder in Ordnung. Die
Bilder hängen wieder an ihrem Platz mit heilen Glasscheiben, die Möbel stehen
wieder aufrecht und die Bücher liegen an ihrem ursprünglichen Platz. Doch
irgendwie scheint alles seltsam verrückt. Es verschlägt dir so sehr die
Sprache, dass du nie wieder anfangen sollst zu sprechen. So sehr sich alle um
dich bemühen, du kannst einfach nicht antworten. Hattest du das Erdbeben nur
geträumt, die ganze Zerstörung und deinen wankenden Körper? Das ist unmöglich,
sowas kann man sich nicht nur einbilden. Du bist doch nicht krank!
Allerdings
scheinen alle um dich herum dir einreden zu wollen, dass nie dergleichen
passiert wäre. Sie reden in deiner Anwesenheit niemals über das Beben, dabei
hätte dir das sehr geholfen. Sie versuchen dich sogar wieder in die Schule zu
schicken, allerdings kommst du da nicht mehr mit. Oh Gott, wie klug die alle
sind. Sie haben alle das Beben überlebt, es scheint noch nicht mal einer
verletzt worden zu sein. Jedoch geht der Albtraum für dich weiter, denn auch
jetzt fühlst du dich in deinem Zimmer völlig unwohl. Diesmal ist es ein
Vulkanausbruch, der dich mitten in der Nacht überrascht. Die Lava hat mit ihren
feurigen Händen schon nach deinem linken Fuß greifen wollen, doch gerade als es
zu schmerzen beginnt, findest du dich wiederholt in dem Krankenhaus wieder. Du
schaust ihnen dabei zu, wie sie dir das große weiße Gewand anziehen. Inzwischen
suchst du nach irgendwelchen Anzeichen für die Zerstörung durch den
Vulkanausbruch, doch wieder wirst du enttäuscht. Alles in den Räumen ist heil
und funktionstüchtig, außerdem erwähnt keiner der Ärzte oder Schwestern die
Katastrophe. Langsam machst du dir wirklich Sorgen um die Menschen um dich
herum. Ja, kriegen die denn gar nichts mit? Leben die in einer anderen Welt?
Nachdem
sie dir dann auch wieder Tabletten geben, ist dir das dann doch alles egal. Wen
interessieren schon die anderen? Ohne dich zu fragen, verlegen sie dich in eine
andere Klinik, mit Gittern vor dem Fenster und Schnüren an den Betten. Wieder
bekommst du ein Einzelzimmer und einen schönen Ausblick. Inzwischen wissen
alle, dass du gern aus dem Fenster guckst. Es wundert sich auch niemand, dass
du so dünn geworden bist. Nagut, abnehmen wolltest du sowieso schon immer.
Eigentlich gut so, wie es ist.
Du
weißt in dem Moment noch nicht, dass sie dich nie wieder für gesund halten
werden. Du wirst den Rest deines Lebens in dem Krankenhaus verbringen, in dem
du dich aber immerhin sowieso wohler fühlst als zu Hause.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.09.2006.
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