Klaus-D. Heid

Die Angst eines Mannes

Da stand ich also – und lauschte andächtig dem Plätschern, das links und rechts von mir bewies, wie dringend auch andere Männer öffentliche Pissoirs aufsuchten. Obwohl ich es zutiefst hasse, in Gesellschaft pinkeln zu müssen, blieb auch mir nichts anderes übrig, als dieses stinkende Häuschen aufzusuchen, in dem sich scheinbar die ganze Stadt versammelt hatte. Während ich noch damit beschäftigt war, meinen Reißverschluss zu öffnen, drängelte bereits ein nächster Pinkelanwärter hinter mir, ich möge mich doch bitte etwas mehr beeilen. Nachdem ich den Drängler mit Ignoranz strafte, schweifte mein Blick zufällig den Genitalbereich meines rechten Pinkelnachbarn. „Grundgütiger...!“ murmelte ich leise vor mich hin, als mir bewusst wurde, dass einer von uns Beiden ein echtes Problem haben musste. Um sicherzugehen, dass ich es war, der ‚normal’ gebaut war, schielte ich unauffällig Richtung linker Nachbar. „Herr im Himmel...!“ schoss es mir durch den Kopf, denn auch dieser Pinkelbursche besaß ein Instrument, das jedem Hengst zur Ehre gereicht hätte. Bislang hatte ich noch keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, ob ich nun ‚besonders gut’ oder ‚besonders schlecht’ gebaut war. Meine bisherigen sexuellen Kontakte verliefen alle so, dass es keinerlei Grund zum Klagen gab. Jetzt aber machte ich mir ernsthafte Gedanken, ob es wohl sein konnte, dass mich meine verflossenen Freundinnen verlassen hatten, weil ich...

Konnte das sein? War ich mit einem minimierten Penis ausgestattet, der – statistisch gesehen – am aller untersten Rang der Größentabelle rangierte? War es wirklich so, dass mein ‚Kleiner’ auch in Zeiten erigierter Größe ein drittel der Größe ausmachte, die links und rechts von mir zu sehen war? Und wenn das so war – hatte ich nun Grund zur echten Besorgnis? Musste ich mich schämen? Oder war es vielmehr so, dass ich ausgerechnet zwischen den beiden bestgebauten Kerlen pinkelte, die es in der Stadt gab?

Nur weitere Vergleiche konnten mir helfen, die Frage zu beantworten!

Der Drängler hinter mir hatte es endlich aufgegeben, auf mich zu warten. Da mein rechter Pinkelnachbar mittlerweile sein monströses Gerät wieder in der Hose verstaut hatte, nahm nun der Drängler seinen Platz ein. Ich selbst versuchte, möglichst langsam zu pinkeln, um mich beim Drängler versichern zu können, dass bei mir alles ‚normal’ sei. Der linke Monsterträger war ebenfalls fertig. Jetzt stand ich also zwischen zwei neuen Betrachtungsobjekten, die mir hoffentlich halfen, meine Minderwertigkeitsgefühle loszuwerden. Beide Reißverschlüsse wurden geöffnet. ‚Jetzt bloß nicht zu auffällig zur Seite schielen...!“ dachte ich, während ich verunsichert Tropfen für Tropfen in mein Pissoir plätschern ließ. Zuerst ein schneller Blick nach links, ohne gleich als Spanner angegiftet zu werden.

„Wahnsinn...!“

Entweder hatte ich es mit dem Gesetz der Serie zu tun, oder ich wurde mit einem Problem konfrontiert, das ich bislang total verdrängt haben musste. Zur vollständigen Sicherheit wanderte mein Blick nach rechts.

„Ich habe ein Problem!“

Die Größe der ersten beiden männlichen Geschlechtsteile war fast lächerlich im Vergleich zu den Dingern, die mich nun einschlossen. Was wäre wohl, wenn ich noch länger verweilen würde, um noch weitere Schockmomente auszukosten? Würde irgendwann ein riesiger Penis neben mir stehen, an dem ein kleiner unscheinbarer Mann hing?

Ich musste aufpassen! Wenn ich noch länger an diesem Pissoir stand, würde man mich wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses anzeigen. Ich würde zwar kontern, dass die Größe der anderen geschlechtsteile viel mehr die Öffentlichkeit erregten – aber trotzdem war es wohl besser, wenn ich nun langsam das Weite suchte.

Suchen? Ich musste dringend einen Arzt aufsuchen, der mir klipp und klar verständlich machte, dass ich unter einem ‚verkümmerten Mäusepimmel’ litt. Zumindest musste ich die Meinung eines Experten hören, der mir nichts von dem üblichen ‚Ist ja nicht so schlimm...!“ erzählte. Ich wollte die Wahrheit hören. Die ganze, nackte und ungeblümte Wahrheit über die Größe meines Penis! Irgendwie würde ich schon damit klarkommen, dass ich extrem unterentwickelt durchs Leben schreiten musste. Vielleicht gab es ja sogar irgendwo auf der Welt eine Frau, die noch nie einen anderen Penis als meinen gesehen hatte? Wenn sie keinen Vergleich hatte, konnte sie mich doch auch nicht vergleichen, oder? Oder gab’s keine Frauen mehr, die noch nie verglichen haben? Musste ich für den Rest meines Daseins auf Sex verzichten? Würde nicht jede Frau spätestens dann, wenn sie mich nackt sah, ganz schnell sagen, dass wir ja ‚gute Freunde’ bleiben konnten?

Der Gang zum Arzt war also unvermeidlich.

Ich hörte mich schon kläglich wimmern, als ich verschämt mein Problem schilderte. Ich sah den Arzt vor meinem geistigen Auge, der sich das Lachen kaum verkneifen konnte, als ich dann mit entblößtem Unterleib vor ihm stand.

„Sex ist ja nicht alles im Leben, mein Lieber...!“ würde er sagen. „Versuchen Sie’s doch mal mit einem hübschen Hobby, das Sie von sexuellen Phantasien ablenkt...!“

Was sollte der Arzt auch tun? Mir vielleicht eine Penisvergrößerung vorschlagen? Vergrößern Sie mal eine Winzigkeit auf ein halbwegs nutzbares Format, wenn Sie dazu die eigentliche Größe mindestens verzehnfachen müssten! Also? Was war zu tun?

So stand ich also am Ausgang des öffentlichen Pissoirs und dachte nach. Jeden Kerl, der an mir vorüberging, beneidete ich um sein garantiert gewaltiges Gehänge, das mir leider nicht vergönnt war. Überall sah ich nur noch riesige Schwänze, die meine lächerliche Männlichkeit mit brutaler Gewalt an die gekachelten Wände des Pissoirs drückten. Zorn kam in mir auf. War es gar ein genetischer Defekt? Hatte ich das Miniding von meinem Vater geerbt? War Papa schuld? Warum gerade ich? Warum ich? Wieso...?

„Ich kann doch nichts dafür, dass er so klein ist...!“

..schrie ich in meiner Verzweifelung, als ich plötzlich eine Hand spürte. Ich spürte die Hand genau dort, wo ich mein Problem vermutete.

„Du hast geträumt, Schatz. Und übrigens ist er im Moment alles andere als klein...!“

Die dann folgenden 60 Minuten genoss ich ganz besonders. Trotzdem nahm ich mir fest vor, irgendwann einmal ein öffentliches Pissoir aufzusuchen. Sicher ist sicher.

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