Markus Müller

Manfred



Als ich noch zur Schule ging, kannte ich einen Jungen namens Manfred. Sein Spitzname war „Fette Sau“. Das klingt jetzt gemein, aber auf Keinen hat dieser Name je so gut gepasst wie auf Manfred. Er sah aus wie ein Mastschwein, hatte ein Schweinegesicht mit Schweinenase und Schweineaugen und rechts und links zwei Schweineohren. Man sagte, er sei so dick, dass er gar nicht wüsste, wie viel er wog, denn jede Waage, auf die er sich stellte, brach sofort unter seinem Gewicht zusammen. Seine Mutter kaufte immer gleich zwei Hosen für ihn und nähte daraus eine.
 
Natürlich machten sich die anderen Kinder ab und zu über ihn lustig oder bewarfen ihn mit kleinen Steinchen, wenn er auf dem Schulhof saß, doch er schaute sie dann nur böse an und grunzte eins, zwei mal, das reichte, dass die anderen Angst bekamen und wegrannten. Manfred war zwar eine Klasse unter mir, aber obwohl er jünger war, habe ich mich nie getraut, ihn zu ärgern oder mich auch nur in seine Nähe zu wagen. Er war nicht nur unglaublich fett, sondern auch ein paar Köpfe größer als ich und als alle anderen in der Schule. Irgendwie fand ich ihn aber auch immer faszinierend, manchmal stand ich in der Pause die ganze Zeit da und beobachtete ihn staunend.
 
Manfred kam immer mit zwei Schulranzen zur Schule. In einem waren seine Bücher und Hefte, im anderen war sein Frühstück. Wenn es zur Pause läutete, nahm Manfred seinen Frühstücksranzen und ging hinunter zum Schulhof. Na ja, „gehen“ konnte man das nicht unbedingt nennen, wie Manfred sich fortbewegte, es hatte eher etwas von einer schnaufenden Dampfwalze, wenn er die Treppe hinunterrollte. Auf dem Schulhof setzte er sich dann neben einen Mülleimer auf den Boden und begann, sein mitgebrachtes Essen auszupacken und vor sich auszubreiten. Schon dabei begann er zu sabbern, deswegen hatte ihm seine Mutter wohl die alte Tischdecke mitgegeben, die er sich vorher immer in den Kragen steckte. Wenn er dann die ganzen Brote, Würste, Äpfel, Kuchen, Puddings, Schnitzel, Hühnerbeine, Käsestücke und was er sonst noch alles mitbrachte vor sich aufgebaut hatte, begann er, alles durcheinander in einem unglaublichen Tempo in sich hineinzustopfen. Dabei machte er die außerordentlichsten Geräusche, die ich gar nicht näher beschreiben möchte. Das alles dauerte vielleicht fünf Minuten, dann hatte er alles aufgegessen, – gefressen.  
 
Wenn die Schule zu Ende war, wurde er von seiner Mutter abgeholt, die einen Geländewagen mit Ladefläche fuhr. Manfred stieg dann mühsam auf die Ladefläche, wo schon sein erstes Mittagessen auf ihn wartete, das er während der Fahrt in sich hineinschaufelte. Zuhause gab es dann den nächsten Gang, und so ging es weiter bis zum Abend. Die Leute in unserer kleinen Stadt waren geteilter Meinung darüber, wer an Manfreds Fettleibigkeit schuld war. Die einen sagten, es war die Schuld seiner Mutter, die ihn von Geburt an gemästet hatte. Schon als Baby soll sie ihm immer, wenn er schrie (er war nicht nur ein sehr dickes, sondern auch ein sehr lautes Baby), zu essen gegeben haben, anders ließ er sich nie ruhig stellen, behauptete sie. Andere waren der Ansicht, dass die Mutter keine Schuld traf, sondern dass es einfach Manfreds Natur war, die ganze Zeit Hunger zu haben. Er schien nur zufrieden zu sein, wenn er aß, und welche Mutter wollte nicht, dass ihr Kind zufrieden war?
 
In dem Sommer, in dem ich in der sechsten Klasse war und Manfred in der fünften, gab es am letzten Tag vor den Ferien ein großes Schulfest. Es war wunderbar, alles war bunt geschmückt, es gab Karussells, Schießbuden, Popcorn und Zuckerwatte und jede Menge andere Attraktionen. Kinder von Schulen aus allen umliegenden Städten kamen zu Besuch. Es wurden Wettrennen, Ratespiele und Fußballturniere veranstaltet, bei denen Mannschaften von den verschiedenen Schulen gegeneinander antraten. Am späten Nachmittag fand dann noch ein weiterer Wettbewerb statt, der der Höhepunkt des ganzen Festes werden sollte: Es gab ein großes Wettessen, an dem drei Kinder von unterschiedlichen Schulen teilnahmen. Wir schickten natürlich Manfred ins Rennen.  
 
Die Drei saßen nebeneinander an einem langen Tisch, auf dem eine hellblaue Decke lag. Manfred saß in der Mitte. Rechts neben ihm saß ein blonder Junge in einem grün-gelb gestreiften T-Shirt, links saß ein Mädchen mit Zöpfen und Brille, die eine weiße Bluse trug. Die beiden sahen neben Manfred geradezu schlank aus, doch wenn man sie einzeln betrachtete, waren sie trotzdem dicker als alle anderen, die auf dem Fest waren. Praktisch alle Besucher hatten sich jetzt vor dem Tisch versammelt und warteten neugierig darauf, dass es losging.  
 
Das Spiel war ganz einfach: Es musste alles, was einem vorgesetzt wurde, gegessen werden. Wer aufgab oder sich übergab, schied aus. Wer am Ende übrig blieb, war Sieger und gewann eine Medaille und einen Korb mit Delikatessen.
 
Dann ging es los. Der erste Gang bestand aus einer riesigen Schüssel Spaghetti mit Tomatensoße, wovon jeder der drei eine vorgesetzt bekam. Die Teilnehmer rollten erwartungsvoll mit den Augen. Unser Direktor sagte: „Achtung, fertig, los!“, feuerte den Startschuss ab und die drei begannen, die Spaghetti in sich hineinzuschaufeln. Dabei schnauften und schmatzten sie genüsslich. Das Mädchen musste bald seine Brille ablegen, die voller Tomatensoße war, genau wie die Gesichter und Kleider von allen. Nach wenigen Minuten waren die Schüsseln leer, und die drei reckten neugierig die Hälse, um zu sehen, was ihnen als nächstes gebracht wurde.  
 
Nach je fünf tellergroßen Schnitzeln, vier Pizzas, einem Eimer Frikadellen, zehn Leberwurstbrötchen (der Junge im grün-gelben T-Shirt begann langsam gequält zu stöhnen), zwanzig Fischstäbchen und einem halben Dutzend Brathähnchen war es so weit: der Erste musste aufgeben. Zwar unfreiwillig – er war ohnmächtig vom Stuhl gekippt – aber Regeln sind Regeln, schied der Junge, der links von Manfred saß, aus. Manfred grinste darüber nur herablassend, während dem Mädchen mit der Brille, die es abgesetzt hatte, nicht so recht ein siegessicheres Lächeln gelingen wollte. Als dann ein Teller mit einem dreißig Zentimeter hohen Stapel Pfannkuchen gegessen werden musste, gab das Mädchen zwischendurch immer wieder unanständig klingende Würgelaute von sich.
 
Das Publikum schien komplett auf Manfreds Seite zu sein. Wir feuerten ihn lautstark an, und nach jedem Würgen des Mädchens wurde der Jubel noch lauter. Manfred genoss die Situation sichtlich. Er schaute noch viel zufriedener aus, als sonst, wenn er beim Essen war.  
 
Schließlich hatte auch das Mädchen die Pfannkuchen geschafft. Sein Gesicht war jetzt regelrecht grün. Als der nächste Gang, eine Riesenschüssel Schokoladenpudding, serviert wurde, musste das Mädchen schon beim Anblick würgen. Während Manfred sich souverän Löffel um Löffel in den Mund schaufelte, wurde das Mädchen immer langsamer, und nahm immer weniger Pudding auf den Löffel. Dann begann es wieder zu würgen, und schließlich ging es nicht mehr. Zum Glück stand unter dem Tisch ein Eimer, so dass wir das nicht mit ansehen mussten, aber es klang schon äußerst ekelerregend.  
 
Manfred hatte gewonnen! Er saß freudestrahlend da, und ich dachte in dem Augenblick, dass dies wahrscheinlich der glücklichste Moment seines Lebens war. Triumphierend ballte er die Faust. Dann, als Symbol für seinen überlegenen Sieg, nahm er noch einen großen Löffel voll Pudding, grinste und schob ihn sich genüsslich in den Mund. Er behielt den Pudding ein paar Sekunden im Mund, dann konnte man genau sehen, wie er ihn herunterschluckte. Und dann passierte es. Manfred platzte. Sein Bauch platzte einfach auf. Dieser eine Löffel Pudding war zu viel gewesen. Und diesmal blieb nicht alles unterm Tisch. Alles, was er in sich hineingestopft hatte, spritzte meterweit aus ihm hinaus. Ich war froh, dass ich nicht in der ersten Reihe stand. Die Leute rannten hysterisch herum und schrieen: „Ih!“, „Pfui!“, „Was für eine Sauerei!“ Ich sah nur noch, wie der Direktor, der schon mit den Geschenken unterwegs gewesen war, den Präsentkorb auf dem Tisch abstellte und dem armen aufgeplatzten Manfred verstohlen die Siegermedaille um den Hals hängte, um dann ganz schnell zu verschwinden.
 
Das war also die Geschichte von Manfred, der fetten Sau. Ich denke noch heute oft an ihn zurück. Er war immer anders als die anderen gewesen. Vielleicht hätte er manchmal auch so sein wollen wie wir, obwohl man ihm das nie angemerkt hatte. Aber wenigstens war er im glücklichsten Moment seines Lebens gestorben. Was kann man sich Besseres wünschen?  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.09.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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