Manfred kam immer mit zwei
Schulranzen zur Schule. In einem waren seine Bücher und Hefte, im anderen war
sein Frühstück. Wenn es zur Pause läutete, nahm Manfred seinen Frühstücksranzen
und ging hinunter zum Schulhof. Na ja, „gehen“ konnte man das nicht unbedingt
nennen, wie Manfred sich fortbewegte, es hatte eher etwas von einer
schnaufenden Dampfwalze, wenn er die Treppe hinunterrollte. Auf dem Schulhof
setzte er sich dann neben einen Mülleimer auf den Boden und begann, sein
mitgebrachtes Essen auszupacken und vor sich auszubreiten. Schon dabei begann
er zu sabbern, deswegen hatte ihm seine Mutter wohl die alte Tischdecke
mitgegeben, die er sich vorher immer in den Kragen steckte. Wenn er dann die
ganzen Brote, Würste, Äpfel, Kuchen, Puddings, Schnitzel, Hühnerbeine,
Käsestücke und was er sonst noch alles mitbrachte vor sich aufgebaut hatte,
begann er, alles durcheinander in einem unglaublichen Tempo in sich
hineinzustopfen. Dabei machte er die außerordentlichsten Geräusche, die ich gar
nicht näher beschreiben möchte. Das alles dauerte vielleicht fünf Minuten, dann
hatte er alles aufgegessen, – gefressen.
Wenn die Schule zu Ende
war, wurde er von seiner Mutter abgeholt, die einen Geländewagen mit Ladefläche
fuhr. Manfred stieg dann mühsam auf die Ladefläche, wo schon sein erstes
Mittagessen auf ihn wartete, das er während der Fahrt in sich hineinschaufelte.
Zuhause gab es dann den nächsten Gang, und so ging es weiter bis zum Abend. Die
Leute in unserer kleinen Stadt waren geteilter Meinung darüber, wer an Manfreds
Fettleibigkeit schuld war. Die einen sagten, es war die Schuld seiner Mutter,
die ihn von Geburt an gemästet hatte. Schon als Baby soll sie ihm immer, wenn
er schrie (er war nicht nur ein sehr dickes, sondern auch ein sehr lautes Baby),
zu essen gegeben haben, anders ließ er sich nie ruhig stellen, behauptete sie.
Andere waren der Ansicht, dass die Mutter keine Schuld traf, sondern dass es
einfach Manfreds Natur war, die ganze Zeit Hunger zu haben. Er schien nur
zufrieden zu sein, wenn er aß, und welche Mutter wollte nicht, dass ihr Kind
zufrieden war?
In dem Sommer, in dem ich
in der sechsten Klasse war und Manfred in der fünften, gab es am letzten Tag vor
den Ferien ein großes Schulfest. Es war wunderbar, alles war bunt geschmückt,
es gab Karussells, Schießbuden, Popcorn und Zuckerwatte und jede Menge andere
Attraktionen. Kinder von Schulen aus allen umliegenden Städten kamen zu Besuch.
Es wurden Wettrennen, Ratespiele und Fußballturniere veranstaltet, bei denen
Mannschaften von den verschiedenen Schulen gegeneinander antraten. Am späten
Nachmittag fand dann noch ein weiterer Wettbewerb statt, der der Höhepunkt des
ganzen Festes werden sollte: Es gab ein großes Wettessen, an dem drei Kinder
von unterschiedlichen Schulen teilnahmen. Wir schickten natürlich Manfred ins
Rennen.
Die Drei saßen nebeneinander
an einem langen Tisch, auf dem eine hellblaue Decke lag. Manfred saß in der
Mitte. Rechts neben ihm saß ein blonder Junge in einem grün-gelb gestreiften
T-Shirt, links saß ein Mädchen mit Zöpfen und Brille, die eine weiße Bluse
trug. Die beiden sahen neben Manfred geradezu schlank aus, doch wenn man sie
einzeln betrachtete, waren sie trotzdem dicker als alle anderen, die auf dem
Fest waren. Praktisch alle Besucher hatten sich jetzt vor dem Tisch versammelt
und warteten neugierig darauf, dass es losging.
Das Spiel war ganz
einfach: Es musste alles, was einem vorgesetzt wurde, gegessen werden. Wer
aufgab oder sich
übergab, schied aus.
Wer am Ende übrig blieb, war Sieger und gewann eine Medaille und einen Korb mit
Delikatessen.
Dann ging es los. Der erste
Gang bestand aus einer riesigen Schüssel Spaghetti mit Tomatensoße, wovon jeder
der drei eine vorgesetzt bekam. Die Teilnehmer rollten erwartungsvoll mit den
Augen. Unser Direktor sagte: „Achtung, fertig, los!“, feuerte den Startschuss
ab und die drei begannen, die Spaghetti in sich hineinzuschaufeln. Dabei
schnauften und schmatzten sie genüsslich. Das Mädchen musste bald seine Brille
ablegen, die voller Tomatensoße war, genau wie die Gesichter und Kleider von
allen. Nach wenigen Minuten waren die Schüsseln leer, und die drei reckten
neugierig die Hälse, um zu sehen, was ihnen als nächstes gebracht wurde.
Nach je fünf tellergroßen
Schnitzeln, vier Pizzas, einem Eimer Frikadellen, zehn Leberwurstbrötchen (der
Junge im grün-gelben T-Shirt begann langsam gequält zu stöhnen), zwanzig
Fischstäbchen und einem halben Dutzend Brathähnchen war es so weit: der Erste
musste aufgeben. Zwar unfreiwillig – er war ohnmächtig vom Stuhl gekippt – aber
Regeln sind Regeln, schied der Junge, der links von Manfred saß, aus. Manfred
grinste darüber nur herablassend, während dem Mädchen mit der Brille, die es
abgesetzt hatte, nicht so recht ein siegessicheres Lächeln gelingen wollte. Als
dann ein Teller mit einem dreißig Zentimeter hohen Stapel Pfannkuchen gegessen
werden musste, gab das Mädchen zwischendurch immer wieder unanständig klingende
Würgelaute von sich.
Das Publikum schien
komplett auf Manfreds Seite zu sein. Wir feuerten ihn lautstark an, und nach
jedem Würgen des Mädchens wurde der Jubel noch lauter. Manfred genoss die
Situation sichtlich. Er schaute noch viel zufriedener aus, als sonst, wenn er
beim Essen war.
Schließlich hatte auch das
Mädchen die Pfannkuchen geschafft. Sein Gesicht war jetzt regelrecht grün. Als
der nächste Gang, eine Riesenschüssel Schokoladenpudding, serviert wurde,
musste das Mädchen schon beim Anblick würgen. Während Manfred sich souverän
Löffel um Löffel in den Mund schaufelte, wurde das Mädchen immer langsamer, und
nahm immer weniger Pudding auf den Löffel. Dann begann es wieder zu würgen, und
schließlich ging es nicht mehr. Zum Glück stand unter dem Tisch ein Eimer, so
dass wir das nicht mit ansehen mussten, aber es klang schon äußerst
ekelerregend.
Manfred hatte gewonnen! Er
saß freudestrahlend da, und ich dachte in dem Augenblick, dass dies
wahrscheinlich der glücklichste Moment seines Lebens war. Triumphierend ballte
er die Faust. Dann, als Symbol für seinen überlegenen Sieg, nahm er noch einen
großen Löffel voll Pudding, grinste und schob ihn sich genüsslich in den Mund.
Er behielt den Pudding ein paar Sekunden im Mund, dann konnte man genau sehen,
wie er ihn herunterschluckte. Und dann passierte es. Manfred platzte. Sein
Bauch platzte einfach auf. Dieser eine Löffel Pudding war zu viel gewesen. Und
diesmal blieb nicht alles unterm Tisch. Alles, was er in sich hineingestopft
hatte, spritzte meterweit aus ihm hinaus. Ich war froh, dass ich nicht in der
ersten Reihe stand. Die Leute rannten hysterisch herum und schrieen: „Ih!“,
„Pfui!“, „Was für eine Sauerei!“ Ich sah nur noch, wie der Direktor, der schon
mit den Geschenken unterwegs gewesen war, den Präsentkorb auf dem Tisch
abstellte und dem armen aufgeplatzten Manfred verstohlen die Siegermedaille um
den Hals hängte, um dann ganz schnell zu verschwinden.
Das war also die
Geschichte von Manfred, der fetten Sau. Ich denke noch heute oft an ihn zurück.
Er war immer anders als die anderen gewesen. Vielleicht hätte er manchmal auch
so sein wollen wie wir, obwohl man ihm das nie angemerkt hatte. Aber wenigstens
war er im glücklichsten Moment seines Lebens gestorben. Was kann man sich
Besseres wünschen?