Florian Wichert

Mendastin

MENDASTIN

Der Blick zur Straße gab mir nur ein Gefühl der Ungewissheit. All die grauen Verkehrswege verschlingen die letzten Tropfen Fröhlichkeit in dieser Welt. Doch als ich mit einem Fuß bereits im Gange war die Straße zu überqueren, da erfassten meine Augen schon die Quelle aller morgendlichen Arbeitsanfänge, die Bäckerei “mit Café”, so lautete die Aufschrift über der Eingangstür.

Die gepflegte, junge Dame an der Brottheke servierte mir auch umgehend eine Tasse schönen, heißen Kaffee, dazu ein halbes Käsebrötchen mit einer Gurke, genau das richtige für mich.

Einen Tisch weiter, möglicherweise, nein höchstwahrscheinlich ebenfalls der nächtlichen Stille entflohen, um den Arbeitswahn eines Workaholic nachzuahmen, saß eine Frau, Mitte zwanzig, vielleicht Anfang dreißig.

Ihr gelocktes, braunes Haar bedeckte etwas ihre Augen, doch noch auffälliger als ihr nicht gerade schlechtes Aussehen, war ihre überaus freundliche Art.

Schon beim Betreten der Boulangerie erwartete mich ein nettes “Guten Morgen”, das entweder an meiner Ausstrahlung oder, wie gesagt, an ihrer freundlichen Art lag.

Zumindest dauerte es keine Tasse Kaffee später, ich las gerne Zeitung dabei und wenn ich das Blatt noch nicht fertig gelesen hab, folgt eine Tasse nach der anderen, da fragte sie mich auch ihre sympathische Art.

„Sind Sie schon lange in der Stadt? Ich hab sie hier noch nie    vorher gesehen.“

Na ja und obwohl ich so vertieft in einem Artikel über das Paarungsverhalten sibirischer Eisbären war, konnte ich ein Gespräch mit ihr nicht so einfach ablehnen.

      „Ohh, ich. Nein, nein. Ich bin erst ein paar Tage hier. -
      Geschäftlich. Was man nicht alles für seine Arbeit macht.“

      „Hab ich mir fast gedacht, und ich muss sagen, sie haben ein
      Gespür für gute Bäckereien. Ich bin hier auch fast jeden   
      morgen.“

Obwohl ich die Bäckerei doch nur rein zufällig entdeckt habe, überlegte ich mir zweimal, ob ich ihr es so erzähle wie ich sie gefunden hab, oder...

      „Ja, die Bäckerei machte von außen einen ordentlichen Eindruck     
      und als ich dann noch ihr freundliches Gesicht durch die
      Fensterscheibe gesehen hab, da waren alle Zweifel beseitigt.“

      „Oho, ein Guten-Morgen-Flirt, schmeichelhaft.“

      „Immer wieder gern!“

      „Ich bin Mendastin.“

      „Hübscher Name, woher stammt der?“

      „Ukraine, meine Mutter stammt aus der Ukraine und mein Vater ist
            halb Pole, halb Deutscher. Und wie heißen sie?“

      „Ich bin...“

Nun gut, wir unterhielten uns noch eine Weile – vergaßen völlig die Zeit. Ich fragte mich öfters, wann uns nicht mal die Themen ausgingen, aber offenbar ergänzten wir uns so gut, dass das Ende der einen Geschichte an eine neue erinnert.

So häuften sich die Tassen Kaffee und ich konnte spüren wie mein Herz anfing zu rasen.

Irgendwann zwischen Christentum und dem Tod ihrer Großmutter vor zehn Jahren, entschuldigte ich mich für die anfängliche Unwahrheit über den Aufenthalt in der Stadt.

Eigentlich war ich ja gerade erst mit dem Zug angekommen und wollte mich nach einer Kaffeepause auf die Suche nach einem Hotel machen.

Sie, offenbar berühmt für ihre Stadtkenntnis, konnte mir auch sofort das nächste Hotel, zwei Straßen weiter, empfehlen.

Den Vorschlag dankend annehmend, bemerkte ich, dass sich das Gespräch zu mehr Vertrautheit entwickelte und das es unvermeidlich zu einem zweiten Treffen im Cafe kommen wird, denn...

      „Das ist ja unglaublich, was sie schon alles erlebt haben. Wie
      wär’s, wenn wir uns morgen wieder hier treffen. Wie sieht’s bei
      ihnen aus, haben sie Zeit?“

      „Na ja, ich werde sehen, was sich machen lässt. Sofern ihr
      Hoteltipp positiv ausfällt.“

      „Wunderbar, dann also gleiche Zeit, gleicher Platz“

      „Gleiches Lächeln.“

      „Wie sie wünschen.“

Daraufhin verließ sie die Bäckerei.

 

Am nächsten Morgen fand sie die Überwindung mich zu fragen, warum ich eigentlich im Sommer noch Mäntel trage.

      „Als Kind kann ich mich noch an eine Sache erinnern.

      Ich lag auf dem Ehebett meiner Eltern, meine Mutter stand an

      der Tür und weinte. Mein Vater starb als ich fünf Jahre

      alt war und er war vernarrt in Mäntel. Du glaubst gar nicht
      wie viele er hat. Das ganze Bett war bedeckt mit den   
      verschiedensten Arten und ich hab versucht einen anzuziehen.

      Meine Mutter fand den Anblick ihres 5-jährigen Sohnes scheinbar

      so amüsant, dass sie anfing zu Schmunzeln, obwohl sie noch

      Tränen im Gesicht hatte. Na ja ich glaube, das hat mich dazu     
      bewegt stets Mäntel zu tragen.“

      „Oh, Entschuldigung. Das wusste ich nicht, sollte nicht Bös’
      gemeint sein. Ich hab mich nur gewundert.“

      „Schon gut, schon gut. Ist ja auch berechtigt.“

Am Tag darauf begann sie wieder zu reden. Von der Mantelgeschichte nun deutlich unberührter, erfuhr ich von ihrem Liebesleben, Beziehung und und und, da musste ich früher oder später, um etwas den Redeanteil meinerseits wieder aufzufrischen, oder um ihren zu bändigen, die Geschichte erzählen, die mir nach unserem zweiten Treffen passiert ist. Wer kann denn schon glauben, dass ein Taxifahrer, nur weil er so gestresst ist und durch Druck von seinem Boss, mir 100€ Wechselgeld zurückgegeben hat.

      „Ich musste nur 8 oder 9 Euro irgendwas zahlen, hatte aber bloß

      Einen Zwanziger, als ich jedoch bemerkt hab, dass der

      Taxifahrer mir anstatt eines 10-Euro-Scheins, 100 Euro gegeben        
      hat, war schon weg.“

      „Und was machst du jetzt mit dem Geld?“

      „Mal schauen, was sich so ergibt.“

Die junge Dame an der Brottheke war am nächsten Morgen deutlich gestresster. Vorher hat sie nie so lange für den Kaffee gebraucht. Warum von einem Tag auf den anderen so viele Leute Brötchen in ausgerechnet dieser Bäckerei holen wollten, bleibt mir und der Brotthekenfrau wohl ein Rätsel.

In der Zwischenzeit erzählte ich Mendastin meine „gute Tat“, die ich mit den 100 Euro vollbracht hab.

      „Hab ich dir...“

Wir duzen uns mittlerweile schon.

      „... von dem Penner erzählt, der vor dem Hoteleingang immer

      sitzt? Der wurde solange ich jetzt in dem Hotel schon wohne,

      mindestens 5-mal vom Hotelmanager entweder lautstark

      aufgefordert den Eingang freizumachen, da er die Gäste          
      belästigen würde, oder einmal kam er sogar mit geballter Faust

      nach draußen und hat ihn verscheucht. So laut wie der immer   
      brüllt, kann man das sogar auf dem Zimmer mitbekommen.

      Naja auf jeden Fall hab ich gestern bemerkt, dass er eine

      AIDS-Schleife trägt, und da hab ich ihm für die 100 Euro die

      Schleife abgekauft. Man soll ja nicht so egoistisch sein,
      obwohl ich ja weiß, dass er sich wohlmöglich wieder Alkohol
      kauft.“

      „Wie? Du hast dem Penner für 100 Euro eine AIDS-Schleife
      abgekauft? Du hättest ihm die 100 Euro ja einfach so schenken
      können.“

      „Mmh, ja hätte ich machen können, aber die Schleife erinnert
      mich immer an meine Schwester, und ich meine, für 100 Euro  

seine AIDS-Schleife zu verkaufen, ist für den Penner bestimmt
kein schlechter Tausch.“

      „Ach so, aber was ist denn mit deiner Schwester? Hat sie AIDS?“

      „Noch nicht, sie ist aber HIV-positiv, aber bisher ist die

      Krankheit noch nicht ausgebrochen.“

Eigentlich schäme ich mich dafür, dass ich nur Unschönes aus

meinem Leben erzählen kann. Man merkt förmlich wie es, wenn

auch nur für einen kurzen Augenblick, die Mitmenschen berührt.

      „So ich muss auch wieder los und ach ja, morgen schaff ich es

      nicht zum Frühstück. Sagen wir dann bis übermorgen?“

      „Okay, geht klar, dann bis übermorgen!“

Übermorgen. Heute ist übermorgen und ich sitze allein in der Bäckerei, trinke meine Tasse Kaffe und lese wieder einen Zeitungsartikel,

„Sambawelle überflutet Eskimos“. – Mendastin? Na ja heute nicht da.

Gestern wollte ich ausschlafen. Gemeinsames Frühstück ging ja nicht.

Ich bin von Schüssen wach geworden, völlig konfus noch im Halbschlaf bekam ich dann auch die Schreie mit.

Irgendetwas war vorgefallen im Hotel und unten im Flur nahe der Rezeption angekommen, wusste ich auch was.

Vier Leichen lagen im Eingangsbereich des Hotels.

Der Hotelmanager, tot, mit einer Kugel im Kopf hinter dem Rezeptionsschalter, der wahnsinnige Amokläufer selbst, in der Mitte des Ganges, hat wahrscheinlich Selbstmord begangen. Der Hotelpage neben ihm – und – Mendastin vor der Rezeption. Sie wollte mich wohlmöglich überraschen, und brauchte wohl noch meine Zimmernummer.

Sie lag da, regungslos. Blut am Bauch, mitten ins Herz hat er sie getroffen, dieser Penner. Der Penner dessen AIDS-Schleife ich am Mantel trage.

Schicksal, - Schicksal existiert nur in der Vergangenheit.

Alles was man erlebt ist Schicksal, zumindest kann man es hinterher erst behaupten.

      „Noch einen Kaffee, bitte.“

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.09.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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