Petra Wilhelmi

Der Buddha von Seokguram

Der Buddha von Seokguram

 

Anyeong haseo, Gamsa hamnida, Guten Tag, Dankeschön. Sonja deklamiert diese Worte leise vor sich hin. Anyeong haseo sollte man trillern wie Holladrio. Sonja muss schmunzeln. Es sind koreanische Worte. Sie sitzt in einem Bus inmitten einer kleinen Reisegesellschaft. Neugierig schaut sie aus dem Fenster: Fremde Schriftzeichen, fremd aussehende Menschen, eine fremde Kultur. Sie ist in Südkorea, in Gyeongju.

 

Gyeongju war damals die Hauptstadt des mächtigen Silla-Reiches, welches 676 die koreanische Halbinsel vereinte. Das hat Sonja in ihrem Reiseführer gelesen.

 

Der Bus bleibt auf einem Parkplatz stehen. Sie steigt aus. Ein Stoßseufzer kommt aus ihrer Brust: „Ist das ein schönes Fleckchen Erde.“ Leicht bergig, das Laub der Bäume ist herbstlich gefärbt, die Sonne strahlt, die Luft ist klar, riecht aber schon nach Vergänglichkeit. Sonja schließt sich ihrer Reisegruppe wieder an, die schon ein Stück vor ihr den breiten Weg zur Seokguram-Grotte eingeschlagen hat. Viele Kinder kommen ihr entgegen. Ohne ein Händeschütteln, ohne ein Hallo oder Hi kommt sie nicht weiter. Sie wollen wissen woher sie kommt. „Togil“ Sonja ist stolz, dass sie das Wort gelernt hat. Mädchen kichern und drehen sich nach ihr um. Jungen erheischen ihre Aufmerksamkeit durch Kunststückchen. Dann steht Sonja vor einen kleinen unscheinbaren Tempel, hineingepresst in einen Felsen. „Das ist also die berühmte Seokguram-Grotte.“ sinniert sie. Die Aussicht hier oben ist atemberaubend. Berge und Wälder, rotgolden. „Wie nennt man das in Korea doch gleich? Ach ja: die Berge sind mit Brokat bestickt.“ Weit unten sieht Sonja einen Fluss, steinig und trocken. Nur ein kleines Rinnsal ist gerade noch erkennbar. Links und rechts des Flussbettes goldgelbe, reife Reisfelder. In der Ferne erahnbar, das japanische Meer, hier Ostmeer genannt.

 

Sonja geht jetzt durch die schmale Tür und steht im Halbdunkel der Grotte. Ihre Augen müssen sich erst an das Dämmerlicht gewöhnen, dann stockt sie. Hinter einer

 

Glasscheibe, nur leicht erleuchtet, stehen Hunderte von Boddisathvas. Die Atmosphäre hält ihre Sinne gefangen. Auf dem Boden hocken dicht gedrängt viele Menschen in Meditation versunken. Ein Mönch schlägt auf das Klopfbrett. Seinen monotonen Singsang hört Sonja durch die Scheibe. Sie schaut versunken zu. Ihr Blick fällt auf den Buddha. Er ruht im Zentrum von allem. Er ist aus Granit, groß, schlicht und erhaben. Sonja steht davor und kann ihren Blick nicht abwenden. Sie lässt die Ruhe, Gelassenheit und Friedfertigkeit, die dieses Gesicht ausstrahlt, auf sich wirken. „Er schaut in mein Herz, seine Aura berührt mich.“ Emotionen steigen in ihr auf. „Dieses Gesicht, diese Augen ... Sie sprechen mit mir. Ich höre die Worte in meinem Geist. Es wispert in mir: Form ist nicht anderes als Leere und Leere ist nichts anderes als Form. Form ist identisch mit Leere und Leere ist identisch mit Form und so ist es auch mit Empfindung, Wahrnehmung, geistige Formkraft und Bewusstsein...

 

Es ist das Herzsutra. Es drängt sich in ihren Kopf. Das Gesicht Buddhas füllt ihre Gedanken aus. Ihre Empfindungen werden übermächtig, sind nicht mehr kontrollierbar. „Will ich sie überhaupt kontrollieren? Sollte ich sie nicht einfach zulassen?“, fragt sich Sonja im Stillen. Dann gibt sie nach, lässt sich tief in Buddhas Seele fallen. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Ihre Gefühle sind intensiv. Sonja findet nur langsam zurück in die Wirklichkeit. Sie wendet sich zögernd ab und verlässt die Grotte, atmet durch und lässt ihren Blick noch einmal über die zauberhafte Landschaft gleiten. Ihr aufgewühltes Inneres kommt langsam zur Ruhe und ein tiefer Friede durchzieht ihre Brust. Sonja horcht in sich hinein und fühlt ungeahnte neue Kräfte in sich. „Was habe ich eben erlebt?“ Sie kann es nicht benennen.

 

Als Sonja mit ihrer kleinen Reisegruppe den Rückweg antritt, hat sie einen Teil von sich bei dieser Grotte zurückgelassen. Ein Teil von ihr, vergegenständlicht in einem Dachziegel, den sie dem Tempel gespendet hat. Ich habe das Antlitz des Buddha geschaut, steht auf dem Ziegel.

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.09.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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