Nicolai Rosemann

Utopia 2050

Ein alter Mann sah aus dem Fenster und erkannte die Welt nicht mehr wieder.
Er saß in seiner Zelle, in dem, was man seine Heimat nennen konnte. Ein Raum von etwa zwanzig Quadratmetern, individuell gestaltbar und auf jeden Fall jederzeit umtauschbar. Ein Anruf würde genügen, versprach zumindest die Werbung.
Die Tapeten, gehalten im Retrostil Millennium, blätterten jedoch schon ab. Die Regale, einst aus poliertem Edelholz, waren verstaubt und blind. Der Großbildfernseher, natürlich mit HD, DS digital, lief beinahe 24 Stunden am Tag. Außer der Alte schloss seine Augen länger als drei Sekunden, dann schaltete das Gerät automatisch auf Ruhemodus.
Aus der Zelle führte ein enger Gang zum Badezimmer, ebenfalls im Stil der Wohnung gestaltet. Das Waschbecken war grau, schwarze Kratzer durchzogen das Porzellan. In der Badewanne wucherte der Schimmel, einen Fingerbreit stand das Wasser noch darin. Der Schimmel hatte bereits den Abfluss verstopft. Allerdings störte das den Bewohner wenig, er benutzte das Badezimmer seit langem nicht mehr.
Es gab nur ein großes Fenster, immer geschlossen, aus Sicherheitsgründen. Tagsüber waren die Jalousien unten, nachts ging meistens die künstliche Sonne auf. Die einzige Sonne, die nicht schädlich für den Körper war. Gelegentlich herrschte aber auch die Nacht, unterbrochen vom Schein unzähliger Lampen.

Die Nachrichten kamen rund um die Uhr. Sie erzählten von den Geschehnissen auf der Welt. Von den sportlichen Wettkämpfen der Roboter, die der Unterhaltung dienten. Jeder hatte andere Favoriten, zum Beispiel Einheit P-33. Programmiert auf Tennis. Seine letzten achthundert Herausforderer hatte er, oder war es vielleicht eine sie, in bis zu achtzig Sätzen geschlagen. Die Herstellerfirma Sony war stolz auf ihr Meisterwerk, und seine willenlosen Anhänger jubelten ihm jeden Tag aufs Neue zu, weil sie darauf programmiert sind oder weil es ihnen egal war.
Das Programm langweilte den Alten nun. Also ein Knopfdruck und die Sender wechselten. Einen Moment flackerte das Bild, dann kam das Wetter.
„Befinden Sie sich in einer Tagzone? Dann bleiben Sie lieber zu Hause. Die Ozonwerte sprengen heute wieder die Skalen. Sollten Sie etwas brauchen, wenden Sie sich an die Serviceeinheiten. In Europa wird die Wetterkontrolle heute Regen bringen. Nutzen Sie die Zeit und verlassen Sie wenigstens kurz ihre Zelle. Etwas Bewegung kann nicht schaden“, lautete die Information. Hätte der alte Mann den Willen und die Kraft noch gehabt, hätte er wie in seiner Jugend den Stinkefinger erhoben und so dem Programm seine Meinung dazu gegeigt. Jetzt gehörte er aber zu diesen Willenlosen, die derselben Information Tag für Tag gehorchten.
Also weiter. Zum nächsten Kanal.
Gerichtskanal. Eine der großen Errungenschaften des 21 Jahrhunderts. Hier gab es Mörder, Vergewaltiger und Psychopathen rund um die Uhr. Die Verhandlungen liefen ab wie eine schlechte Las Vegas Hochzeit, im Etappensystem. Antreten, Anhören, Verteidigen, Abtreten.
Der erste Verurteilte, ein Sammler aus der Quarantänezone Jordanien. Er hatte dort Panzer aus dem Krieg ausgeschlachtet um das Eisen zu verkaufen. Ein Wiederholungstäter, bereits das achte Mal stand er vor diesem Gericht. Dieses Mal würde aber kein gnadenvoller Spruch erfolgen.
Mit trotzig erhobenem Kopf nahm der Mann alle Anklagepunkte entgegen. Dann plädierte er auf schuldig in allen Anklagepunkten. Das Urteil lautete natürlich Tod. Eine Werbeeinblendung, die Hinrichtung würde heute Abend vollstreckt werden. Zu sehen auf allen Kanälen.
Der alte Mann lächelte, entspannt lehnte er sich zurück und verfolgte den nächsten Fall. Eine Frau, als Komplizin des Sammlers aus der vorhergehenden Verhandlung identifiziert. Sie erklärte sich auch für schuldig, in der Hoffnung mit einem blauen Auge davon zu kommen. Berechtigt, das Gericht berief sich auf eine Entdeckung bei der medizinischen Untersuchung. Die Verurteilte wurde zu Experimenten dem neuen Empathie-Korps zugewiesen. Ein Soldat in grauer Uniform mit grauem Schiffchen auf dem Kopf führte die Frau ab.
Der dritte Angeklagte war der Pilot dieser Sammler. Er wurde in einem Wasserbehälter vorgeführt. Identifiziert als Mutation, absolut geeignet für die Arbeit in den Seetangfarmen. Mit seinen Kiemen würde er ein perfekter Arbeiter werden, für die nächsten 30 Jahre. Natürlich unter der Vorraussetzung dass er nicht von den neuen Meeresmonstern gefressen wurden, die in den Nahrungsfarmen der Menschen auf die Jagd gingen.
Nach dieser dritten, kurzen Verhandlung, langweilte sich der alte Mann bereits wieder und zappte weiter. Der Seifenoperkanal war nicht mehr nach seinem Geschmack. Viel zu viele Mars-Hillbillies kamen das vor. Primitive Bauernlümmel, die versuchten auf der Erde wieder Fuß zu fassen. Abschaum für einen alten Erdling wie ihn.
Auf dem Musikkanal versuchte eine neue Musikeinheit von Microsoft sich in die Herzen der Zuseher zu singen. Der Roboter war gut gebaut, man erkannte kaum, dass es eine künstliche Lebensform war. Große Silikonbrüste in einem engen Top, sehr kurze Jeanshose, perfekte alabasterfarbene Beine, die braunen lockigen Haare reichten bis zu den Schultern. In den brauen Augen lag jedoch der starre Glanz der künstlichen Lebensformen. Außerdem war die Stimme zu künstlich, scheppernd. Den aktuellen Zusehern wurde die Möglichkeit zur Abstimmung gegeben. Schnell drückte der alte Mann seine Wahl, die Balken wanderten los und zeigten die Entscheidung des Pöbels. Beinahe enttäuscht verließ die Einheit die Bühne und wurde von der nächsten abgelöst.
Wahrscheinlich würde sie aber bald auf einem anderen Kanal auftauchen, mit demselben Körperbau und Aussehen, allerdings mit weniger an.
Jener entsprechende Kanal war auch der nächste in der Programmleiste. Diese plumpen Versuche zweier Roboter den niedrigsten Trieb nach dem Fressen der Menschen zu imitieren ekelte den Alten jedoch so sehr, dass er rasend schnell weiterschaltete.
Der Klassiksender, eine Serie aus der Jugend des Mannes. In Charmed bekämpften drei Hexen das Böse. Wenn es solche Wesen wirklich gab, warum haben sie dann nicht verhindert dass wir werden, wie wir sind?, denkt der alte Mann und gibt sofort sich selber die Antwort: weil wir es so wollten.
Im Rausch der Kanäle surfte der Alte noch einige Stunden durch das Programm, nahm einen Happen hier und ein bisschen da wahr. Aber alles in allem war es ein Tag wie jeder andere. Irgendwann hob sich dann die Jalousie, die Sonne verschwand und das Zwielicht der modernen Nacht legte sich über die Stadt.
Gegen neun Uhr Abend klopfte der tägliche Versorgungsroboter ans Fenster. Der Alte schlurfte hin und nahm seine Nahrungspillen entgegen. Vitamine, Mineralien, sonstige Nährstoffe. Seit Jahren keine feste Nahrung mehr. Die Roboter verstanden es nicht den Geschmack hinzubekommen und die Menschen waren zu faul, so nahmen sie lieber das kleine Übel der Pillen hin.
Bis spät in die Nacht glotzte der Alte weiter, ein bisschen hier, ein bisschen da. Irgendwann schlief er in seinem Sessel ein. Bis zum nächsten Morgen, um die Nachrichten zu sehen und den Kampf mit den Programmen erneut aufzunehmen.

Der erste Versuch meiner Arbeit zum Literaturwettbewerb Utopia 2050.
Bereits jetzt leiden wir unter einer Welt, in der sich Leute isolieren und nur mehr über Internet oder Fernsehen am Leben teilnehmen. Hier leben alle Menschen so
Nicolai Rosemann, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.09.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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