Friederike Fischer

Tränen aus Eis Teil 2

Kapitel 2
 
"Lass los!", schrie Peggy und ich erwachte abrupt aus meinem Tagtraum. Den ganzen Morgen schon konnte ich an nicht anderes, als den letzten Abend denken und fragte mich, ob Joe sich tatsächlich bei mir melden würde und vor Allem wann.
"Gib das wieder her! Das ist meins!"
"Was ist denn hier los?", rief ich jetzt selber, um mir Gehör zu verschaffen.
"Lena hat meinen Schokoriegel geklaut!", schimpfte Peggy und sah finster in das Gesicht ihrer, vor Kurzem noch, besten Freundin. Es war der Tag nach Halloween, das heißt der Tag, an dem das Erbeutete unter allen aufgeteilt wurde. Meine Wohnung wurde leider zum Treffpunkt dieses Gerangels auserkoren, aber immerhin brachte mir meine Gastfreundschaft zwei zerdrückte Schokoriegel, eine bereits geöffnete Gummibärchentüte und den Rest, den keiner der Kinder mochte, ein.
Nach etwa einer Stunde Gezanke und sogar kleineren Handgreiflichkeiten überließen die drei mich wieder mir selbst und der angenehm friedlichen Stille meiner Zwei-Zimmer-Wohnung. Glücklicherweise wohnte ich in der untersten Etage und konnte daher einen kleinen Garten mit Terrasse mein Eigen nennen. Jedenfalls solange die Miete bezahlt wurde. Diesen monatlich anfallenden Betrag übernahmen meine Eltern, da ich noch in der Ausbildung war und bis auf einen Job in einer Buchhandlung kein festes Einkommen hatte. Mein Abitur hatte ich vor knapp einem halben Jahr bestanden, mich aber trotzdem vorerst für eine einfache Ausbildung und kein Studium entschieden. Wenn mir irgendwann danach sein sollte, mich an einer Universität anzumelden, konnte ich das jederzeit nachholen. In diesem Fall hätte ich auch schon sehr genau gewusst, was ich studieren würde: Psychologie. Ich wusste genau, dass das derzeit das Trendstudienfach schlechthin war, aber es war nun einmal auch das, wofür ich mich interessierte. Was hätte ich dafür gegeben, wenn ich die Menschen, ihre Wünsche, Sehnsüchte, Ängste und auch mich selber besser verstehen und unser Verhalten durch empirische Fakten erklären könnte. Was ist Trauer im psychologischen Sinne? Wozu kann sie einen Menschen verleiten? Was unterscheidet einen schüchternen von einem selbstbewussten Menschen? Wer ist glücklicher? Es gibt zu viele Fragen, um sie alle aufzuzählen, aber irgendwann wollte ich ein paar Antworten finden. Zunächst beschäftigte ich mich allerdings nicht mit psychisch, sondern mit physisch kranken Patienten, genauer gesagt mit Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr lange leben würden. Ich hatte mich für die Ausbildung zur Krankenschwester im Hospiz entschieden, weil auch diese Arbeit zu einem sehr großen Teil psychologischer Natur ist. Ich hoffte dort selber einige Erfahrungen sammeln und den Tod vielleicht aus einem anderen Blickwinkel sehen zu können.
Am vorigen Abend hatte ich auch mit Joe über dieses Thema gesprochen und ich glaube er verstand, worum es mir ging. Er leistete gerade seinen Zivildienst im Krankenhaus und wusste aus eigener Erfahrung wie es wahr, sich von einem Patienten für immer zu verabschieden. Es tat mir sehr gut mit jemandem darüber zu reden und die Gefühle, die unweigerlich mit der Ausübung einer solchen Arbeit verbunden waren, in Worte zu fassen. Joe war ein sehr guter Zuhörer und wusste genau an welchen Stellen meiner Schilderungen ein Kommentar seinerseits sinnvoll und hilfreich war. Wie schon gesagt bildete ich mir bereits nach diesen wenigen gemeinsam verbrachten Stunden ein, dass ich wusste, was in ihm vorging. Ein für mich erstaunliches und zugleich erschreckendes Phänomen. Ob es Joe genauso erging, weiß ich bis heute nicht, aber manchmal redete ich mir ein, ein kurzes, wissendes Leuchten in seinen Augen gesehen zu haben.
Die Tage vergingen, doch Joe meldete sich nicht. Sicherlich wird man mir vorwerfen ich hätte ihn genauso gut anrufen oder besuchen können, aber genau das war mir eben nicht möglich. Ich hatte weder eine Telefonnummer, noch eine Adresse von ihm, weil er, wie er gesagt hatte, gerade mit seinem Umzug beschäftigt war und selber noch nicht wusste wie seine neue Anschrift lauten würde. Einzig und allein er hatte die Möglichkeit unseren Kontakt aufrecht zu erhalten. Besonders viele Gedanken machte ich mir nicht, da er immerhin selber gefragt hatte, ob wir uns wiedersehen würden.
Ich verbrachte daher den größten Teil meiner Zeit mit ausgiebigen Recherchen zu meinem Ausbildungsberuf und mit Peggy, die in mir zunehmend eine große Schwester zu sehen schien. Unnachgiebig quälte sie mich so lange mit ihren Bitten, bis ich letztendlich einwilligte und etwas mit ihr unternahm. Für den Abend des vierten Novembers hatten wir uns überlegt das kleine Stadtfest unseres überschaubar großen Städtchens zu besuchen. Mit einem Kind an der Seite ein wahres Vergnügen. Ich nahm alles anders wahr, weil Peggy mit großen, leuchtenden Augen neben mir her ging und ich somit unweigerlich in die Faszination dieser bunten Lichterpracht mit eintauchte.
Hier und da und überall sah man fröhliche Gesichter, ausgelassene Kinder mit ihren Eltern und Erwachsene, die ihre Arbeit für ein paar Stunden hinter sich ließen, um sich der Freuden des Lebens neu zu erinnern.
Tief einatmen, kurz die Augen schließen und den vielen Sinneseindrücken freien Lauf lassen, ist meine Empfehlung für einen solchen Abend. Wenn man Zeit dafür findet. An jenem Abend wurde ich jedoch von einer Attraktion zur nächsten geschliffen, kaufte Popcorn, Zuckerwatte usw. ohne Ende und sah Peggy beim Karussellfahren zu. An dem Clown, der Luftballons in den verschiedensten Formen und Farben verkaufte, kamen wir selbstverständlich auch nicht vorbei ohne das Portemonnaie zu zücken. Glücklicherweise war Peggy ein sehr aufmerksames Mädchen, so dass meine fünf Euro, in Form eines Ponys, nicht in einem Baum hängen blieben und von älteren Kindern mit einem schadenfrohen Lachen bedacht wurden.
In der Menge der vielen Menschen kamen wir kaum voran und daher bestand ich, wie jeder Erwachsene in Kindesbegleitung, darauf, Peggy an die Hand zu nehmen. Zu meiner Überraschung hatte sie rein gar nicht dagegen einzuwenden und streckte mir bereitwillig ihre kleinen, klebrigen Finger entgegen.
"Iva? Ist Joe auch hier?", fragte Peggy auf einmal.
"Ich glaube nicht. Oder hast du ihn schon gesehen?"
Sie schüttelte den Kopf. Auch wenn ich ihre Frage verneint hatte, dachte ich darüber nach, ob es nicht eigentlich doch wahrscheinlich war, dass Joe ebenfalls auf diesem Stadtfest auftauchen würde.
Gerade als ich mich dazu entschieden hatte Joe wieder Joe sein zu lassen und meine Gedanken auf etwas anderes zu lenken, tauchte er einige Meter weiter vor uns in der Menschenmasse auf. Erschrocken blieb ich stehen und starrte ihn an. Peggy verstand nicht warum ich nicht weiter ging und zupfte ungeduldig an dem Ärmel meiner Jacke.
"Was ist denn?", fragte sie.
"Nichts."
"Ich möchte noch mal mit dem Karussell fahren."
"Na gut, dann komm." Ich wandte Joe den Rücken zu, nahm Peggy wieder an der Hand und schlenderte gedankenverloren an den Ständen vorbei, dem Karussell entgegen. Mit jedem Schritt entfernte ich mich weiter von Joe und fragte mich warum ich ihn nicht angesprochen hatte. Ich wusste nur eins: als ich Joe erblickte, lief es mir eiskalt den Rücken runter und mein Herz begann so schnell zu schlagen wie noch nie zuvor.
Wieder zu Hause angekommen saß ich auf dem Sofa und sah hinaus auf die noch immer vom Schnee bedeckte Terrasse. Seit der Neuschnee gefallen war, hatte ich meinen Garten nicht betreten. Etwa zehn Zentimeter der kalten, weißen Masse lagen bereits auf den Steinen und dem Rasen und es wurde stündlich mehr.
Ich ging in die Küche und machte mir eine Tasse heißen Tee, um die Kälte aus meinem Körper zu vertreiben, aber richtig warm wurde mir trotzdem nicht. Ein einziger Gedanke wollte mir nicht aus dem Kopf gehen und ließ mir regelmäßig kalte Schauer über die Haut kriechen. Warum nur hatte ich mich von Joe abgewandt? Die ganzen letzten Tage hatte ich mich gefragt wann er sich bei mir melden würde und auf ein Wiedersehen gehofft, aber als er schließlich vor mir stand, habe ich nicht den Mut aufgebracht ihn anzusprechen. Oder was war es, das mich davon abgehalten hat?
So viel ich auch überlegte, ich konnte es mir nicht erklären. Unruhig lief ich im Wohnzimmer auf und ab, bis mir die Augen immer wieder zu fielen und ich letztendlich beschloss schlafen zu gehen.
Am nächsten Morgen weckte mich das Klingeln an meiner Haustür und ich stand nur sehr widerwillig auf, um dem Besucher die Tür zu öffnen. "Wehe, wenn das nur ein Klingelstreich ist", grummelte ich und blinzelte Sekunden später in die helle Morgensonne. Meine Augen gewöhnten sich nur langsam an den plötzlichen Lichteinfall, während mein Gehirn und Herz schon auf Hochtouren arbeiteten. Vor mir stand Joe.
"Oh... ähm... ich komme wohl gerade etwas ungelegen."
"Ach was. Komm doch rein", sagte ich mit dünner Stimme.
"Tut mir Leid, dass ich dich geweckt habe." Es war ihm sichtlich unangenehm.
"Ist schon ok. Geschlafen habe ich wirklich genug. Ich bin nur froh, dass es kein Klingelstreich war."
Ich führte ihn ins Wohnzimmer, bot ihm eine Tasse Kaffee an und wir setzten uns an den kleinen Couchtisch vor der Terrassentür. Schüchtern lächelnd saßen wir uns gegenüber, beschäftigten uns mit der Begutachtung meines Wohnzimmers und sahen schnell zu Boden, wenn sich unsere Blicke trafen. Eine drückende Stille breitete sich aus und schien jedes noch so kleine Geräusch zu verschlucken.
Mit einem Mal stellte Joe seine Tasse auf dem Tisch ab und murmelte mehr zu sich als zu mir: "Ach, was soll´s!" Dann sah er mich an. "Hast du nicht Lust irgendwo etwas zu frühstücken?"
"Ja, gerne! Aber dann musst du dich noch kurz gedulden, während ich mir etwas Vernünftiges anziehe." Erst in dem Moment fiel mir auf, dass ich ihm die ganze Zeit über im Schlafanzug gegenüber gesessen hatte. Hätte ich denn wissen können, dass es Joe war, dem ich die Tür öffnete?
"Klar, lass dir Zeit." Diesen Satz zu einer Frau zu sagen, wäre normalerweise ein großer Fehler gewesen, aber zu seinem Glück gehörte ich nicht zu der Sorte Frau, die mindestens zwei Stunden für ihre Morgenhygiene benötigte. Die Auswahl des passenden Outfits beanspruchte dann allerdings doch eine gewisse Bedenkzeit.
Joes Blick, als ich zurück ins Wohnzimmer kam, werde ich höchst wahrscheinlich mein Leben lang nicht vergessen. Er stand an der Terrassentür, die linke Hand in der Hosentasche, die Rechte hielt die Kaffeetasse, und sah nachdenklich hinaus in meinen kleinen Garten. Sobald er mich bemerkt hatte, drehte er sich herum und schenkte mir ein Lächeln, dem ich augenblicklich verfallenen bin. Dieses Lächeln, das war Joe. Einer Personenbeschreibung bedurfte es nicht, wenn man ein einziges Mal dieses Lächeln gesehen hatte. Das war der Moment, in dem ich mich endgültig in Joe verliebte.
"Du bist schon fertig?", fragte er und trank den letzten Schluck seines Kaffees.
"Ja, wir können gehen."
"Gut." Er lächelte noch immer, aber es war nicht mehr dieses besondere Lächeln.
Wir machten es uns in einem nahegelegenen Café gemütlich und verbrachten dort den gesamten Vormittag. Während Joe sprach, beobachtete ich jede Regung seines Gesichts und wenn er lächelte, sah ich ganz besonders genau hin. Ein Schmunzeln, ein Grinsen, herzhaftes Lachen; das war es, was ich sah. Doch ich wartete vergebens auf ein ansatzweise vergleichbar gefühlvolles Lächeln, wie jenes, das mich am Morgen so unerwartet aus der Bahn geworfen hatte.
Dieses erste Mal ausgeschlossen, sollte ich es nur noch zweimal in dem weiteren Verlauf meines Lebens sehen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.10.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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