Ich schreite durch die Gänge der Stadt, die wir einst Erde
nannten. Mittlerweile ist sie so gewachsen, dass nichts mehr übrig ist. Die
Berge sind abgetragen, die Gewässer ausgetrocknet, die Wälder gerodet.
Im Hauptquartier, dem Zentralkern dieses Bienenstocks,
stehen hunderte Roboter und halten das System am Laufen. Sechzig Milliarden
Menschen werden hier versorgt.
Ein kurzer Blick hinein genügt. Alles scheint in Ordnung zu
sein. Defekte Einheiten werden automatisch von ihren Brüdern entfernt und
ersetzt. Alles läuft wie am Schnürchen. Immer und ewig.
An den Recyclinganlagen stehen noch mehr Roboter und trennen
den Müll. Eisen, Kunststoff, Biomassen, Leichen. In letzter Zeit werden es
immer mehr. Die Alten sterben, die Jungen fliehen in die virtuelle Welt. Nur
ihre Körper, nichts als leere Hüllen mit starrem Blick bleiben zurück.
Die Erholungsgebiete sind verlassen. Die immergrünen Parks,
die Trainingsplätze, die glitzernden Casinos, die sterilen Labore. Einst gab es
für jeden Einwohner jede Erdenkliche Möglichkeit zur Zerstreuung. Nur die neue
Generation scheint das Interesse daran verloren zu haben. Sie leben nur mehr
für ihre Maschinen.
Dasselbe Bild treffe ich in der Bibliothek an. Ein
gelangweilter Roboter im Ruhemodus steht hinter dem Tresen. Als ich mich nähere,
hebt er seinen schlaffen Oberkörper und winkt mir beinahe freudig zu. Er rollt
auf mich zu und bietet mir ein altes Buch an, noch auf Papier gedruckt. William Gibsons Neuromancer Trilogie. Das
hatte ich als Jugendlicher gelesen. Ich drehe es einige Zeit in den Händen und
lege es dann zurück. Dann gehe ich wieder. Die Einheit verstaut das Buch in
einem Regal und rollt zu seinem Posten. Dann erschlafft der Roboter wieder.
In der Baumfarm, gestaltet als grünes Erholungsgebiet,
zwitschern künstliche Vögel. Sie sind neu und stammen aus den modernsten
Roboterfabriken. Ein Informationsgerät wiederholt in der Endlosschleife die
Daten über diese künstlichen Einheiten. Wahrscheinlich bin ich aber der erste,
der die angenehme Stimme von Einheit B88 hört. B88 ist mein persönlicher
Favorit, weil er die meisten meiner Hörbücher spricht.
Im Umspannwerk schlagen Blitze über die Halbleiter. Die
Pegel, wie alles hier unter genauer Kontrolle
von Robotern, liegen im grünen Bereich. Sie nehmen mich bei ihrer Arbeit kaum
wahr, vielleicht als Störfaktor. Aber ansonsten bin ich für sie Luft. Gerade
wird eine ältere Einheit von seinem Posten entfernt. Die schlaffen Gelenke
schleifen über die Gitter bis zwei andere Roboter die Einheit mit vereinten
Kräften auf der Förderband zur Recyclinganlage legen. Bald wird die defekte
Robotereinheit eingeschmolzen und zu einer neuen künstlichen Lebensform.
Vielleicht einem Vogel.
Nun gehe ich zur Kinderkrippe. Sie liegt ruhig und verlassen
vor mir. Kein einziges Kind liegt in den Wiegen. Wahrscheinlich auch in keiner
anderen Krippe, nirgendwo auf der Welt. Ein Defizit der neuen Generation ist
schließlich ein Mangel an Paarungswillen.
Im nahen Holotheater spielt Shakespeares Sommernachtstraum.
Allerdings sind alle Sessel leer. Doch nicht einmal meine Anwesenheit lenkt die
Hologramme ab. Kurz nach dem Ende des letzten Aktes, in Erwartung eines
Applauses, der nie ertönen würde, denn die Hologramme sind mangelhaft und plump, erlöschen sie. Kurz danach beginnt das Trauerspiel
von neuem.
Im Paradiesgarten sitzen zwei junge Menschen. Mein Herz
schlägt höher, als ich sie sehe. Doch ihr Desinteresse an meiner Anwesenheit
lässt meine Hoffnung auf Gesellschaft schmelzen. Diese beiden vermeidlichen
Menschen sind doch nur weitere Hologramme, Wächter der Gärten, die dieses
Fleckchen Natur, das inmitten all der Bauten erhalten blieb, hegen und pflegen.
In der Raumschiffwerft liegen Schiffe aller Größen und
warten auf ihren Start. Roboter halten sie in Stand, ersetzen Teile, streichen
die Hülle neu an und entfernen den Staub. Doch seit Jahren ist kein Schiff mehr
gestartet. Die neue Generation interessiert sich nur für die Welt da draußen
und wir sind zu alt.
Ich schleiche schließlich zurück durch die kalten,
verlassenen Gänge der Welt und erreiche meine Zelle im Wohnkomplex. Mein
persönlicher Roboter erwartet mich bereits, die Anlage ist vorbereitet und
warmgelaufen.
Ich lege mich auf die Pritsche und werde verkabelt.
„Ihr Körper leidet unter einigen Mängeln. Die nächste
Rückholung könnte schwerwiegende Folgen für Sie haben. Ich rate von einer
weiteren Rückkehr ab“, erklärt die künstliche Lebensform mit blecherner Stimme.
Ich überlege noch, seit wann die Roboter ein Ich-Bewusstsein haben, aber dann
entschwinde ich auch schon in die neue Welt.
Unzählige Stimmen sind von einen auf den anderen Moment da.
Einige sprechen mich an, andere reden an mir vorbei. Doch alle wollen dasselbe.
Wissen wie es draußen ist.
„Unverändert“, antworte ich und wende mich den Strömungen in
dieser Welt zu. Gedacht war sie zuerst nur für die Alten, die gebrechlich waren,
wie ich es nun bin. Doch die letzte Generation kam bald hier her und ging nie
zurück.
Leute wie ich, die sich noch nicht richtig von der Welt
trennen wollen, sind die letzten Späher in einer für uns beinahe fremden Welt.
„Alles in Ordnung?“, fragt ein alter Freund. In der echten
Welt hätte ich abgewunken. „Ich kann nicht mehr zurück. Der Körper, du weißt
schon.“
„63 Jahre. Früher kein Alter zum Sterben“, erinnert sich
mein Freund. Ich lache.
„Da war diese Welt hier noch Science Fiction, zumindest für
die meisten von uns. In der Bibliothek wollte mir der Roboter Neuromancer
geben. Ich hatte das Buch mit 18 gelesen. Ich fühle mich jetzt wie Wintermute.“
„Ich werde es mir auch einmal ansehen. Bis später“,
verabschiedet sich mein Freund und verlässt das Netz. Ich treibe weiter im
Strom, spreche kurz mit alten Freunden, Bekannten. Und dabei denke ich über die
Ewigkeit nach. Wie es sein wird für die Ewigkeit hier zu sein.
Mein Körper wird inzwischen brennen.
Ich habe nie existiert.