Michael Mews

Die Reisetasche

Lapu lag im Hotelbett, knipste das Licht aus, kuschelte sich gemütlich ein und bereitete sich mental auf den Schlaf, mit erholsamen Träumen vor. Es war ein anstrengender Reisetag, mit Höhen und Tiefen gewesen und in Gedanken ließ Lapu diesen Tag noch einmal vorbeiziehen. 

 

 

Schon sehr früh am Morgen stand er, leicht frierend und müde am Bahnsteig, wartend auf den Zug. Die Reiseatmosphäre im Bahnhof, die er sonst so mochte, konnte er nicht genießen, denn dazu war er noch viel zu müde. Quietschend kam der Zug zum stehen. Lapu stieg mit seiner großen Reisetasche ein, fand auch gleich ein leeres Abteil, legte sein Gepäck in die Kofferablage und machte es sich bequem.

 

 

Seine Reisetasche, in der seine Wäsche war, war keine besondere, sondern eine, wie es sie vielfach zu kaufen gibt, mit einem bunten Schottenmuster. Auch auf dem Bahnsteig sah er einige Personen, die die gleiche Reisetasche bei sich hatten.

 

 

Dann gab es einen kleinen Ruck, der Zug fuhr langsam an, ein Herr betrat sein Abteil, zeigte fragend auf die leeren Sitze, Lapu nickte und auch er machte es sich nun bequem, nachdem er seine Reisetasche neben seine legte. Der Herr schien auch sehr müde zu sein, denn nach kurzer Zeit war er schon eingeschlafen.

 

 

Lapu betrachte ihn genauer. Er war ganz in Schwarz gekleidet, auch der Mantel mit dem hochgestellten Kragen war schwarz. Er trug einen dichten Vollbart und eine dunkle Sonnenbrille. Lapu wunderte sich über die Sonnenbrille, denn draußen war es noch dunkel. Dann fiel sein Blick auf die Hände, verwundert dachte er: „ Die Fingernägel sind ja rot lackiert“. Nun betrachtete er genauer sein Gesicht und ihm fiel auf, dass der Vollbart auf einer Seite etwas abblätterte. „Ein angeklebter Bart? Eine Frau, die sich als Mann verkleidet hat? Aber Warum?“.

 

 

Plötzlich wurde Lapu, völlig unerwartet überwältigte, beim Nachdenken über diese Frage von einer großen Müdigkeit. Er kämpfte gegen sie an, verlor aber den Kampf.

 

 

Ein lautes Quietschen weckte Lapu auf, erschrocken sah er durch das Fenster auf den Bahnsteig. „Hier muss ich ja umsteigen“, sagte er, griff hastig zu der Reisetasche, lief aus dem Zug zum Bahnsteig Nr. 7 und erreichte gerade den anderen Zug, als dieser anfuhr. „Glück gehabt“.

 

 

Noch völlig außer Atem setzte Lapu sich wieder in ein leeres Abteil, legte die Reisetasche auf den Sitz, neben sich und Blickte aus dem Fenster. Draußen wurde es heller, der Himmel am Horizont färbte sich rötlich und nicht nur der Sonnenaufgang stand vor ihm, sondern auch ein Herr.

 

 

„Könnte ich bitte ihre Fahrkarte sehen?“, sagte der Schaffner. Lapu zeigte seine Karte und der Schaffner ging zufrieden weiter.

 

 

Ein, nicht ungewohntes Gefühl in seinem Bauch machte sich bemerkbar. Der Hunger quengelte, Lapu griff zu seiner Reisetasche, da er im Langzeitgedächtnis gespeichert hatte, dass in der Reisetasche noch Bananen sein müssten.

 

 

Er öffnete nicht nur die Reisetasche, sondern auch seinen Mund. Der Mund blieb offen, nicht aus thermischen Gründen, sondern vor Schreck. Und das Gesicht wechselte die Farbe in Richtung weiß. Ein Fachmann würde hier sagen: RAL 9002.

 

 

Er starrte in den Koffer. Hätte der Schaffner ihn beobachtet, so hätte er sich gefragt, ob in der Reisetasche vielleicht Leichenteile liegen?

 

 

Lapu starrte noch immer in die Reisetasche und der Inhalt starrte eiskalt zurück. 

 

 

Die Reisetasche war voller 500- € - Scheine. In der Seiteninnentasche steckte eine Magnum 44 mit einem 6 Zoll Lauf und ein Schalldämpfer. Sprachlos schloss Lapu die Tasche. „Diese Tasche muss der Dame mit dem Vollbart gehören“, sagte er und träumte schon davon, was er sich alles von diesem Geld kaufen könnte.

 

 

Der blieb der Zug stehen, so wie alle Züge: quietschend. Lapu stieg mit der Reisetasche aus dem Zug und in ein Taxi ein.

 

 

In der Hotelhalle fühlte er sich so, wie im Dschungel. Eine riesige Schlange, vor dem Tresen blickte ihn an, zu der er sich anstellte. „Hoffentlich muss ich hier nicht zwei Wochen warten“, sagte Lapu. Ein freundlicher Inder mit einem Turban und der gleichen Reisetasche, klopfte ihm freundlich auf die Schulter und sagte lachend: „ Letztes Jahr habe ich hier drei Monate gewartet“.

 

 

Endlich konnte Lapu sein Zimmer buchen und stand nun vor dem Aufzug, hinter ihm der freundliche Inder, wartend, bis die Teleskoptüren sich öffneten.

 

 

Lapu drückte auf den Knopf Nr. 12 und der Inder auf Nr. 18. In der zweiten Etage hielt jedoch der Aufzug. Eine ältere Dame aus der Gründerzeit stand vor der Tür und fragte: „Fahren sie aufwärts, oder abwärts?“.

 

 

„Ich fahre nur aufwärts“, sagte der Inder, als die Aufzugstür sich schloss.

 

 

Im Hotelzimmer zog Lapu den Reisverschluss seiner Reisetasche auf, klappte aber den Deckel nicht auf, denn die Müdigkeit besuchte ihn wieder. Zuerst sprang er unter die Dusche und dann ins Bett. Zum Glück hat Lapu hier nicht die Reihenfolge verwechselt.

 

 

Lapu lag im Hotelbett, knipste das Licht aus, kuschelte sich gemütlich ein und bereitete sich mental auf den Schlaf, mit erholsamen Träumen vor. Es war ein anstrengender Reisetag, mit Höhen und Tiefen gewesen und in Gedanken ließ Lapu diesen Tag noch einmal vorbeiziehen. 

 

 

Aber hier geht es nicht um das Vorbeiziehen, sondern um das Herausziehen.

 

Irgendwas schien sich in der Dunkelheit zu bewegen. Konnte die Reisetasche Atmen? Jetzt kam es aus der Reisetasche, wurde immer länger und länger, hatte Ähnlichkeit mit einer Schlingpflanze und ein bezauberndes, grünes Muster auf der Oberfläche. Und jetzt war es schon fast am Bett von Lapu.

 

 

In der 18. Etage öffnete der Inder seine Reisetasche und staunte darüber, dass seine Schlange sich in Geld verwandelt hat.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.10.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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