Guido Ahner

Schriftsteller-Alltag

"Zur Zeit halte ich mich recht gerne auf der Klobrille auf. Scheißen macht mir mittlerweile großen Spaß, und das liegt unter anderem auch daran, daß ich ein scheißteures Toilettenpapier benutze, das meine Puperze onaniert."
Lisa fand den Notizzettel mit dieser Passage unter dem Tisch. Sie nahm ihn distanziert mit zwei Fingern auf und beförderte ihn in den Papierkorb. Eine Viertelstunde später kam Boris mit vier kalten Flaschen Bier vom Kiosk zurück. "Warum hat das denn solange gedauert?", fragte Lisa gereizt.
"Ich habe noch Jochen getroffen."
"Wo hast du meine Zeitschrift?"
"Oh Fuck, die habe ich jetzt natürlich vergessen."
Lisa schüttelte den Kopf und ging ihrerseits zum Kiosk, um sich das Nachrichtenmagazin zu besorgen. Als sie zurückkam, war Boris in einem Suchrausch vertieft.
"Lisa, hast du wieder irgendeine Notiz weggeschmissen?", fragte er nur rethorisch, weil er ihr das eigentlich nicht mehr zutraute.
"Ich habe nur einen zerknitterten Zettel weggeworfen, der da unterm Tisch lag."
Boris drehte sich zu ihr um und richtete sein Kreuz auf, um besonders groß zu erscheinen. Mit viel wütender Luft in der weichen Stimme sagte er:
"Kannst du mir mal verraten, was das soll? Du schmeißt hier achtlos Literatur weg, oder was!"
"Ich schmeiße nur Müll weg, weil mir die Unordnung auf den Geist geht", korrigierte Lisa mit provokanter Selbstverständlichkeit.
Boris spulte das kurze und engagierte Band ab:
"Ist dir schon mal aufgefallen, daß ich Schriftsteller bin? Ist dir schon mal aufgefallen, daß ich mir hin und wieder Notizen mache? Ich finde es echt scheiße, daß es dir unmöglich ist, das mal zu respektieren!"
"Wenn etwas auf dem Boden liegt, auch noch unter dem Tisch und zerknittert, ist es für mich Müll."
"Was hier in meinem Arbeitsbereich Müll ist und was nicht, möchte ich gerne selbst entscheiden, ja?!"
Hastig bewegte sich Boris zum Papierkorb und durchwühlte ihn wie ein Hund. Lisa setzte sich mit einer Tasse Kaffee auf den Balkon und begann, in ihrer Zeitschrift zu lesen. Nach nur zwei Minuten stand Boris mit einem schmutzigen DIN-A4-Blatt an der Tür.
"Weißt du was das ist?", fragte er mahnend.
"Ein Blatt Papier", war Lisas trotzige Antwort.
Boris zog krampfartig den Atem ein und versuchte, einen Rest Ruhe in seiner Stimme zu erhalten:
"Diesen Text suche ich schon seit drei Tagen. Das isn Beitrag für ne Antho, verdammte Scheiße. In deinen Augen wohl auch nur Müll, wie?"
"Tut mir leid. Jetzt hast du ihn ja wieder", versuchte Lisa einzulenken.
Boris machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück in die Wohnung. Er scheute eine Konfrontation, weil er in starker Erregung immer zu stottern anfing. Er brauchte jetzt dringend ein Bier. Und danach noch eins. Er las sich die Notiz von unter dem Tisch durch und tippte sie ab.
"Sch- Sch- Scheiße", flüsterte er. Er wußte, daß er im Zorn nicht schreiben konnte. Er trank in Ruhe das erste Bier und las sich ältere Sachen durch:

"Der Abend wollte nicht Gang kommen. Pelze saß nach wie vor im Klo und weigerte sich, mit uns zu sprechen. Die Sache mit Silke war ihm natürlich hart an die Eier gegangen. Mütze rief in Richtung Klo: 'Ordentlich spülen, du Schisser!' Ich sagte nichts und steckte mir eine ins Gesicht."

Er brach ab und las einen anderen Text. Als er fast am Ende war, kam Lisa wieder herein und fütterte die Katze. Sie rief:
"Na, hast du dich wieder beruhigt?"
Er antwortete nicht direkt:
"Du, ich schreibe hier über das Leben, ja? Ich gebe mir Mühe, ganz nah an der Wahrheit zu sein. Ich reiße mir den Arsch auf, um vollkommen unmittelbar rüberzukommen!"
Lisa zog die linke Augenbraue hoch:
"Dir fällt auch nichts anderes ein, als dein sogenanntes Leben und deine Bemühungen mit Fäkalausdrücken zu symbolisieren, wie?"
"Wie meinst du das! Ich nehme eben kein Blatt vor den Mund so wie andere!" "Ach Gott ja, wie lobenswert. Wäre schön, wenn du das doch mal hin und wieder tätest."
"Ich kenne die Leier. Ich weiß, daß ich dir zu drastisch schreibe."
"Was heißt hier drastisch? Wenn du drastisch langweilig meinst - dann ja. Boris, Schatz, es muß doch möglich sein, etwas zu schreiben, was ohne Fäkalien, Ausscheidungsformen oder deprimierenden Sex auskommt."
"Ich lebe hier und nicht woanders!", sagte er lakonisch.
"Du lebst in einem Klo?"
"Ja! Ja!", begeisterte sich Boris ob dieser neuen Parabel, "Das Leben ist ein Klo, ein Scheißhaus, eine gigantische Massenpißanstalt! Das kannst du nicht wegdiskutieren! Aber du siehst das einfach nicht!"
"Und ein großer Künstler wie du sieht das?"
"Ich kann es so sehen, genau!"
"Nein, du WILLST es so sehen. Du glaubst, wenn du andauernd von abstoßenden Dingen schreibst, bist du besonders mutig oder ehrlich oder gar provokant. Du fühlst dich anscheinend besonders männlich dabei. Was ist denn daran mutig, sich über die Gefühle beim Stuhlgang auszulassen? Für mich zeugt es von banaler Fantasielosigkeit. EIN Text mit diesem Anstrich ist ja noch vertretbar, aber dir fällt doch nichts anderes ein als dich übers Scheißen und Saufen und Ficken und Rumhängen zu ergießen. Das hat nichts mit Tiefgang oder Ehrlichkeit zu tun - das ist schlichte Einfallslosigkeit. Du willst ein Künstler sein? Van Gogh, Beethoven, Shakespeare - DAS waren Künstler." "Ich schreibe gar nicht so einseitig, das ist ja gar nicht wahr! Du hast nur dieses dumme Klischee im Kopf!"
"Mag sein, aber du bist doch ein Klischee: 31 Jahre, Studium abgebrochen, diverse Jobs, gescheiterte Beziehungen, bezieht Sozi, lebt in den Tag hinein. Will nichts Neues sehen, nicht lernen, nichts annehmen. Nur sitzenbleiben. Der Underground-Spießer."
"Mein Gott, bist du oberflächlich! Warum bist du eigentlich mit mir zusammen?"
"Weil du ansonsten ein sehr lieber Mensch bist."
"Lieb?"
"Ja, du bist ein lieber Mensch."
Boris lächelte hilflos und nahm einen Schluck Bier - seine einzige mögliche Reaktion auf ein Kompliment. Lisa kam auf ihn zu und beugte sich vor ihm runter. Boris war in solchen Momenten in der Vorfreude gefangen, einen geblasen zu kriegen. Aber Lisa legte nur ihre Arme auf seine Beine und sagte mit diplomatischer Weichheit:
"Du bist so ein Schatz manchmal, aber du kompensierst mit deinen Geschichten doch nur ein verkümmertes Machtbedürfnis. Du schreibst, weil dir niemand etwas vorschreiben soll. Beim Schreiben kannst du alles lenken, dich auf jeden Sockel stellen."
"Eben, nichts anderes macht ein Künstler, und das ist auch gut so." "Aber wenn du wirklich Freiheit erfahren willst, warum schreibst du immer nur dasselbe? Ist Freiheit nicht auch mit Fantasie und Einfallsreichtum verbunden? Wenn ich Schriftstellerin wäre, würde ich mich zwar auch um Wahrhaftigkeit bemühen, aber ich würde einfach farbigere, gehaltvollere und vielseitigere Sachen schreiben. Mich würde es mehr interessieren, mit meinen Geschichten zu faszinieren als immer nur denselben Seelenzustand zu zelebrieren."
"Du machst es dir sehr einfach. Als Schriftsteller kann man nicht sagen: Jetzt schreibe ich etwas Fantasievolles. Es muß aus dem Bauch kommen, es muß ganz unzensiert aufs Papier. Man darf nicht lange fackeln, sondern wird es unecht, verzagt."
"Aus dem Bauch? Ist denn nur Scheiße in deinem Bauch?"
"Fäkalien waren schon immer ein Symbol. Nicht erst seit ich das Wort benutze."
"Es ist aber nicht das einzige Symbol."
"Das weiß ich auch."
Für einen Moment sagten beide nichts.
"Mensch Boris, Schatz", fing Lisa wieder an, "du schreibst immer nur über dich. Ich mache dies, ich trinke das, ich hasse jenes, ich scheiße dort-" Boris hob die Hand:
"E- E- E- Es reicht, L- Lisa. Es ist genug."
Lisa sah ihren Freund traurig an und erhob sich. Sie strich ihm noch einmal durch das Haar, was Boris in dieser Situation als Demütigung empfand, und dann ging sie aus dem Zimmer und schloß zum ersten Mal seit sie zusammen wohnen die Tür.
Boris schüttelte langsam den Kopf und setzte die Flasche an. Sein Blick landete auf einer Postkarte an der Wand, die ihm ein Schriftstellerkollege von außerhalb vor zwei Jahren geschickt hatte.
"Halt den Ball tief und schenke keinem ein 'Ja'", stand darauf. Boris gefiel der Spruch immernoch sehr gut. Was dieser Kollege gerade wohl tat, fragte sich Boris. Er hatte seit einigen Monaten nichts mehr von ihm gehört. Wahrscheinlich tat er genau dasselbe wie Boris - sich unnötigem Streß aussetzen. Boris sagte im Geiste: "Leckt mich doch alle am Arsch."
Er fing noch nicht wieder an zu schreiben. Vielmehr verlor er sich darin, an seinen Fingernägeln herumzupulen und willkürliche Gedanken zu denken. Er dachte an "A Clockwork Orange". Ach ja, erkannte er, wegen Beethoven. Wer war da noch? Van Gogh - das Ohr. Und Shakespeare. Der geile Film von Polanski, wo der abgehackte Kopf von der Burgmauer runterrollt.
Boris besann sich auf seinen Bauch und schrieb:
"Der Kopf rollte die Treppe herunter."
Der Satz sah so nicht gut aus, und Boris löschte ihn wieder. Der Cursor bewegte sich verdächtig langsam. Wohl etwas mit dem Arbeitsspeicher im Arsch.
Dann ging die Tür auf. Mit dem krächzenden Schrei "Ich gebe dir Fantasie!" kam etwas in den Raum, das mit nichts zu vergleichen war. Insgesamt sah es aus wie ein riesiges Rad, eine Walze. Aber es war ein Wesen, ein umherpeitschendes Unikum, ein vor Unglaubwürdigkeit brennendes Ungetüm. Oben drauf waren drei bis vier Köpfe, jeder von anderen spontanen Metamorphosen gebeutelt. Fisch-artige Mäuler, Bürstenhäute, Insektenaugen und Echsengebisse wechselten sich ab, tauschten unter den Köpfen aus, übertrafen sich in Farbe und Feuchtigkeit, formierten sich zu immer neuen Kombinationen verdrehter Realität. Der kreisförmige 'Körper' bot sich dar wie das größenwahnsinnige Ausflippen eines Zufallsgenerators. Tannenbaumartige Auswüchse wurden hinein- und hinausgeatmet, fähnchenförmige Haarzeilen zitterten in einer ständigen ruckartigen Veränderung. Scherenarme spießten aus dem Leib, unterbrochen von knackenden Brotleiber-Extremitäten, die sich selbst auffraßen und wie poröser Mörtel auf den Boden bröckelten. Ein pyramidenförmiges Herz pumpte aus einigen Kammern geigenspielende Schmetterlinge heraus, die sich unter der Decke des Zimmers zu einem Heer versammelten. Aus einem unschönen Loch pusteten Rauchwolken, die fremde Gesichter und ganze Szenenabfolgen formten, um nach Sekundenbruchteilen wieder zu verpuffen. Peinlich schüchterne Kleinstextremitäten sprossen überall - schraubenförmige Medusenhälse, platzende Brüstchen, schmatzende Münder, schnippende Teufelsfinger und kleine organische Megaphone, die im Telefon-Klang riefen: Buuuh, Buuuh. Der 'Fuß' des Monstrums war eine Battaillon von blauhäutigen Ballerinen, die sich in Hochgeschwindigkeit um die eigene Achse drehten, die teilweise in den Boden hineinbohrten und durchfielen, so schien es. Zudem versprühte das Radmonstrum Feuerwerksfunken in freudigen Farben, als ob man das Ende der Eintönigkeit feiern wollte. Lisas Gesicht tauchte überall an dem Etwas auf - als Chimäre im Rauch, als rotierende weiße Maske wie eine rebellische Tätowierung, dann auch mal ausgebreitet auf das ganze Monstrum, riesenhaft, so als schaue Lisa als Mensch mit verrückt gewordener Akne in ein kleines Puppenhaus, in dem der Plastik-Boris sitzt. "Ich gebe dir Fantasie!"
Boris zog an seinem Bier. Eine andere Handlung wäre Verschwendung von Emotionen. Das Walzenszenario verschrumpfte wie ein sich schließendes Rektum.
Boris machte das nächste Bier auf und stellte fest, daß es nicht mehr so kalt war wie das erste. Es war sogar pißwarm. Scheiße - bewegen, dachte er und stand auf, um die restlichen Flaschen zum Kühlschrank in die Küche zu bringen. Lisa war nirgends zu sehen.
Boris setzte sich wieder vor seinen PC und wußte, er war ein cooler Schriftsteller.


(c) Guano After Aug. 1997

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.06.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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