Solveig Klotzsch

Für meinen Opa

Wir haben einen wunderschönen Herbsttag, ich schaue auf das Blumenmeer vor mir, denke an Dich und schwelge in Erinnerungen.
Wir lebten auf einem Bauernhof. Schon als Kind fand ich es beruhigend und zugleich faszinierend, wenn morgens um vier Uhr die Melkmaschinen ansprangen und Du mit Oma die 35 LPG-Kühe gefüttert und gemolken hast – jeden Tag, warst Du eigentlich jemals im Urlaub mit Oma? Du warst mit Herz und Seele ein Bauer, hast die Kühe geliebt, sie waren nicht nur Nummern, Du hast jeder von ihnen einen Namen gegeben. Du warst unzählige Male als Geburtshelfer unterwegs, hast so vielen kleinen Kälbchen geholfen, auf die Welt zu kommen. Ich durfte sogar manchmal zusehen und mithelfen. Es war jedes Mal wieder ein Ereignis. Dabei hast Du immer darauf geachtet, dass ich mich nie in Gefahr bringe, es waren so schöne Kindheitsjahre.
Im Garten gab’s  hundert Hühner und damit auch immer frische Eier. Wenn sie geschlachtet wurden, wollte ich meist dabei sein. Du hast ihnen einfach den Kopf abgeschlagen und sie dann laufen lassen – für mich ein unglaubliches Ereignis – wie kann ein Huhn nur ohne Kopf weiterrennen.  Natürlich haben wir damals versucht, die Hühner betrunken zu machen; haben heimlich den Sprit aus der Kammer geholt und das Wasser „verdünnt“. Da wollten die Hühner nicht ran. Dann haben wir das Brot im Sprit getränkt, das war wohl auch zu heftig, aber irgendwann hatten wir dann die richtige Mischung.... und waren begeistert über das torkelnde Federvieh. Ich bin mir sicher, dass Du unsere Streiche damals mitbekommen hast, aber gesagt hast Du nie etwas. Ich kann mich überhaupt nicht entsinnen, dass Du je geschimpft hast. Du warst immer nur der liebe Opa, der immer gut gelaunt war, immer einen Scherz auf den Lippen hatte und immer da für uns.
Sogar die Gänse haben Dich geliebt. Für mich war das gar nicht witzig. Solange es noch kleine Küken waren, konnte man sie streicheln – da waren sie einfach possierliche Wesen, die Kinderaugen zum Strahlen gebracht haben. Es waren jedes Jahr fünf Gänse; und jedes Jahr haben sich alle fünf um deinen Fuss gekuschelt, er war für sie ein Ort der Sicherheit, so lange sie klein waren. Leider blieben sie das nicht, und je größer sie wurden, desto aggressiver wurden sie auch. Ohne Verteidigungsmittel habe ich den Garten gar nicht mehr betreten, der Weg zu meiner Schaukel war das reinste Abenteuer. Nur auf Dich haben sie immer gehört, Dich haben sie niemals angegriffen. Mein einziger Trost damals war es, dass die Gänse uns als Weihnachtsbraten für den Stress im Sommer mehr als entschädigt haben.
Ach Opa, Du hast mich sooft irgendwoher abgeholt, mich weggebracht, meine Eltern brauchten sich nie extra frei nehmen, Du hast mich und alle anderen Enkel immer gefahren, wohin wir halt gerade mussten. Für mich war es ganz selbstverständlich, dass Du einfach immer da warst und auch immer Zeit hattest. Ich habe so gern Deinen Geschichten gelauscht – von Deiner Gefangenschaft in Italien nach dem Krieg, von der ersten Neubauernstelle bei uns im Dorf. Du hattest den ersten Fernseher und eines der ersten Autos im Dorf, aber wolltest nie etwas für Dich allein, sondern hast das ganze Dorf daran teilhaben lassen.
Du warst einfach unermüdlich, wolltest immer eine Aufgabe haben und anderen Menschen Gutes tun. Selbst mit 72 Jahren wolltest Du dann auch noch im Winter nachts helfen, ein Kälbchen auf die Welt zu bringen, wolltest niemanden wecken, bist dann selbst ausgerutscht und lagst lange Zeit mit einem Oberschenkelhalsbruch im Bett. Das hat Dir so zu schaffen gemacht, Du hattest das Gefühl, für nichts mehr gut zu sein, dabei hast Du Dein ganzes Leben lang nur Gutes bewirkt.
Wie oft hab ich bei Dir und Oma gesessen, wenn ich mal wieder zu hause war, mit Dir bei Schokolade und einem Glas Rotwein über Gott und die Welt geredet, weil Dich einfach so vieles interessiert hat, die Tageszeitung hast Du von der ersten bis zur letzten Seite studiert – für mich warst Du beinah ein wandelndes Lexikon.  Es waren so schöne Jahre, ich hätte mir nie vorstellen können, dass Du einmal nicht mehr da bist. Im letzten Jahr bist Du 95 Jahre alt geworden und hast mit Oma Eure steinerne Hochzeit gefeiert. 65 Jahre – ein ganzes Leben.
Jetzt steh ich hier vor Deinem Grab und kann noch immer nicht glauben, dass Du wirklich unwiderruflich von uns gegangen bist. Obwohl ich mir ganz sicher bin, dass Deine Seele auf uns schaut, und „nur“ Dein Körper beerdigt wurde, konnte ich auf Deiner Beerdigung die Tränen nicht zurückhalten, die Trauer war einfach übermächtig.  Der Moment, als der Sarg in die Erde gelassen wurde, hat mich schier zerrissen. Heute nun – eine Woche später steh ich wieder hier an Deinem Grab, und möchte mich noch einmal ganz persönlich von Dir verabschieden. Ich werde Dich immer im Herzen tragen, Du bist ein großes Vorbild in Deiner Liebe und Menschlichkeit für mich, es gibt nicht viel Menschen, die so sind. Mein lieber Opa, ich möchte, dass Du weißt,  dass ich regelmäßig nach Oma schauen werde. Für sie ist es wohl am allerschwersten, allein hier zurückbleiben. Ich werde die Tenne ausbauen und dafür sorgen, dass der von Dir erbaute Hof in der Familie bleibt – ich möchte dort ein gemütliches Heim einrichten und die Gedanken an Dich werden mir helfen, einen Ort der Harmonie, der Ruhe und des Friedens aus Deinem Hof zu machen.
In Licht und Liebe
Deine Solveig
 
 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.10.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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