Volker Krauleidis

Derry

Derry
Auch in diesem Jahr fuhr ich anläßlich des Aufenthaltes auf Inishowen herüber nach Derry. Derry ist, obgleich keine Schönheit, doch geschichtlich äußerst interessant. Es besitzt auch eine ganz hervorragende Bibliothek, aus der man eine Menge lernen kann. Die Bezeichnung Derry ist auf das gälische " daire" (Eiche, Eichenwald) zurückzuführen. Der heute heilige Columcille gründete im Jahr 546 das Kloster von Derry. Damals stand auf dem Hügel über dem River Foyle nur ein Eichenwald...
 

Daire, Derry, Londonderry, Ort der Rebellion gegen die englische Fremdherrschaft, seit Irengedenken. Seit Zeiten der Reformation, unter der Herrschaft von Königin Elizabeth I. verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Gälen und Sachsen weiterhin. Das Land war beschlagnahmt und den englischen "Verwaltern" überschrieben. Darunter auch literarische Größen wie Walter Raleigh und Edmund Spenser ("Faery Queen"). Unter Hugh O'Neil (Earl of Tyrone) kam es zu einem ersten Triumph der Iren. Im August 1598 wurden die Engländer bei dem Ort "Mouth of the Yellow Ford" (vor Armanagh) vernichtend geschlagen. Die entscheidendende Schlacht wurde jedoch 1601 in Kinsale geschlagen, die irischen Kriegspläne wurden verraten, die Iren in einem Überraschungsangriff aufgerieben. Die einheimische Bevölkerung begeisterte sich mit neuem Eifer für den Katholizismus, während der angloirische Adel sich und seine englische Herkunft mit dem Protestantismus identifizierte (hoch interessant hierzu: G.M. Trevelyan, History of England").

Nachdem man derlei gelesen hat, erscheinen die alten Kanonen, welche man noch aus der alten Stadtmauer ragen sieht, viel weniger anachronistisch. Wenn ich sie mir so ansehe, scheint es, als seien sie noch schußbereit...Während ich hier oben stehe und die Vergangenheit schmecke, wünschte ich, sie hätten sich im zurückliegenden Juli nach Genuea (G 8) gerichtet. Hätten sie doch die Entsendeten der 7 Geier der globalistischen Welt nebst den Vertretern dieses Hühnerhabichts, welcher so gern Geier Nummer 8 wäre, vom Antlitz dieser schönen Stadt gewischt. Genua, nicht zum ersten Male Stätte in Aussicht genommener, schicksalschwangerer Ereignisse.
 

Die damalige Zukunft des Monats Juli 2001, nun schon Vergangenheit. Ich erinnere des Artikels von Joseph Roth in der Neuen Berliner Zeitung - 12 Uhr- Blatt, 1. März 1922. Dem arbeitenden Volk war nicht gewahr, was "Genua" zu versprechen schien. "Wissen Sie, was Genua ist,", fragt Roth eine Blumenhändlerin. "Nein, Herr! Die jungen Herrn wissen sicherlich davon", antwortet sie errötend, eine sexuelle Anspielung vermutend. "Ick gloobe nich, det se wat drehen wer'n in Jenua", antwortet der Friseur aus Berlin.

Und ich erinnere mich der Love Parade 2001 in Berlin. Auf die Ereignisse in Genua wird eine junge "Raverin" angesprochen..."Jenua", hauchte die gegenwartserwählte Spreeathenerin, auch sie spricht "Genua" aus, als sei es ein Vorort von Berlin. "Is ne' Stadt in Spanien, ick wees' jetz' aba nich wat se' da jetz' jedreht ham`... Parallele, ick hör' dir trapsen...Während ich die Ereignisse so im Geiste vergleiche, frage ich mich, wie die bedenkliche Entwicklung der Menschen wohl aufzuhalten wäre.
 

Plötzlich erscheint mir der heilige Columcille, zum meinem Erstaunen hält er in der rechten Hand ein Funktelefon. Er grinst und verkündet zunächst in englischer Sprache: "Oh foolish boy, expect no mercy! ... dann fährt er in gebrochenenem Sprachenmix fort: "You wollst dem menschen görne verstämbnis leernen, but I tell you: ...You try to teach the sheep in talking irish...Nach dieser schroffen Belehrung stieg ich vom Hügel ab und ging erst mal in eine Kneipe ...

Die Welt erschien mir düster, düster wie der Abend über den Schornsteinen von Derry...ein Gedicht von G.K. Chesterton ("The Ballad of the White Horse") kam mir in den Sinn. Ich habe eine angemessene Übersetzung gefunden. Diese Worte können für unseren derzeitigen Abgrund stehen, obgleich sie aus einer anderer Zeit herrühren...
 

"Caesars Sonne vom Himmel fiel,

Und wer genau gab acht,

Hörte die Völker stürzen tief

In die dunkelste Nacht.

Das Weltende marschierte ein

Im Pech- und Fackelschein.

Über Roms einstige Straßen

Gesichter wie Schaum sich fraßen.

Ein wüster Traum war alles Sein."
 

Am Abend, im Pub spielten sie alte irische Klassiker, schwermütig... meiner Stimmung entgegenkommend.

Dennoch verließ ich verließ die Kneipe, ich hatte plötzlich das Verlangen, mich in ein anderes Pub zu setzen, um statt der Musik den Gesprächen zu lauschen. Ein paar Straßen weiter wurde ich fast fündig, "fast", weil's statt eines Pubs ein kleines Café war. Drinnen erblicke ich mehrere Mütter mit ihren Kindern. Ich bestelle an der Theke irgendein Kuchenstück, welches einen möglichst üblen Geschmack verspricht, dazu eine Tasse Kaffee. Die Bedienung trägt ein lustiges Mützchen auf ihrem Haupt, sie sagt zu, das Stückchen an den Tisch zu bringen. Am Tisch gegenüber sitzt eine Mutti mit zwei Kindern. Nachdem ich dem Gespräch länger folgte, geht mir auf, daß der "Tod" des geliebten Puppe eines der Kinder beklagt wird. Der böse Hund der Familie hatte die Puppe in seinem noch weitaus böseren Maule in den Fluß verbracht. Ich ahne die Brisanz des Stoffes und mache kurze Notizen auf einer Speisekarte von einem China-Lokal in Dungloe, da ich sonst kein Schreibpapier dabei habe. Ich verstehe ob der Dialekteinfärbung (Englisch ist das nicht...) nur einen Teil des Gesprächs. Das Gespräch vermischt sich mit der Erinnerung aus einem alten Buch das ich in einem Trödelladen kaufte.
 

"Oh Mammy, I told you that Popsqueak (...Popsqueak ist der Name des Hundes) took her in his mouth and dropped her in the river. So, of course, she was drowned (...Sauerei, hat der Köter doch die Puppe ertränkt). I do think it's unkind of you to forget. And, too, you promised to write an epaulette to put over her grave."

"No epaulette, an epitaph!", corrected Mammy, smilelessly. "I'm awfull sorry, but I forget all about it. What did you say her name was?"

"Annabella", said the child. "She was a very intelligent doll. She never flopped down on her face when she was sitting on a chair, like other dolls do, and her eyes never stuck half-open, nor fell in." The child presents a short epitaph:

"Annabella, I loved you and you're dead. Very likely something hit you on the head. But it was Popsqueak's fault, You'll be in the vault ("vault" hier sicherlich im Sinne von Gewölbe, Gruft).

Ein wahrhaft würdige Grabschrift für Annabella...
 

Am nächsten Tag entstieg ich dem Schlafmagazin der Jugendherge ("Oak Grove Manor"), welche sich innerhalb der alten Stadtmauer befindet. Ich besuchte den katholischen Friedhof, hier reihen sich die Gräber der Kämpfer der IRA, viele erst 17 oder 18 Jahre alt, als sie starben. "He died in duty" (er starb in Pflichterfüllung) steht oft zu lesen. Neben den Gräbern stehen Fahnenmasten...Das Stadtbild von Derry ist heute überwiegend unauffällig, besteigt man aber die 1,5 km lange Stadtmauer, erblickt man die "Bogsite", das größte katholische Wohngebiet. Plötzlich ist für den Touristen Schluß! Etwas weiter thront auf der Mauer eine festungsähnliche Militärstation, der emporragende Metallmast ist mit hochempfindlichen Kameras gespickt. Sie erfassen fast die gesamte Bogsite. Diese Mauer ist übrigens der Ort, an dem jedem 12. August die Prostestanten ihre Parade durchziehen (zum Ärger der Katholiken). Der Siegesmarsch geht auf die historische Belagerung Derrys durch Truppen von Jacob II. im Jahre 1689 zurück. Eine Gruppe von Halbwüchsigen ("Apprentice Boys") verschlossen die vier Stadttore vor den Angreifern. 105 Tage währte die Belagerung, im Tower Museum finden sich Preislisten für Nahrungsmittel aus dieser Zeit: "Eine Ratte einen Shilling, ein viertel Hund fünf Shillings und sechs Pennies". Die Liste trägt den handschriftlichen Zusatz: "Fett geworden von den Leichen gefallener Iren.”
 

Am Abend sitze ich in einem Pub, Ich lese gerade erstaunt die Zeitungsrubrik "In Memoriam". Die Leute inserieren für tote Angehörige, Angehörige, die teilweise schon vor fast 30 verstarben. Es werden regelrecht "Geburtstage" gefeiert... für die Toten ... für Marie, gestorben 1972, für Carol Mary, gestorben 1981. "In loving memory of my death wife, Margaret”. Margaret bleibt die Ehefrau, wenn auch die tote Ehefrau ... auf dem Bild lächelt sie, kaum zu glauben, daß sie nicht mehr unter den Lebenden weilt ... In Deutschland inseriert man einmal, zur Beerdigung, niemals sah ich eine Anzeige, die sich auf Leute bezieht, die seit 30 Jahren tot sind.
 

Am nächsten Morgen fahre ich wieder in Richtung Inishowen. So wird mein "Bericht" enden. Wie er "weitergeht" weiß ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht...

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.10.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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