Michael Mews

Vivitur parvo bene

Als ich, inzwischen müde vom Wandern, auf dem schmalen Pfad um die hohen Felsen ging, konnte ich endlich das Haus sehen. Nun hatte ich mein Ziel erreicht. Den schweren Rucksack nahm ich ab, stellte ihn an den Lavendelstrauch und setzte mich auf den danebenliegenden Stein. „Nach dem langen Marsch habe ich mir das Ausruhen verdient, oder?“, sagte ich zufrieden, entspannt und lächelnd.

 

Das war ein langer Reisetag gewesen. Nach der Landung in Marseille nahm ich gleich die Fähre und kam im Süden von Korsika an, in Propriano. Dort schnappte ich mir ein Taxi und weiter ging es bis nach Bonifacio, der südlichsten Stadt auf Korsika. Mit der anschließenden, fast zweistündigen Wanderung auf schmalen Pfaden erreichte ich mein Ziel, ruhte mich aus und betrachtete die Landschaft.

 

Im Hintergrund stand, dass von Wolken eingehüllte Hochgebirge, vor mir ein altes Haus, aus dem gleichen Felsgestein errichtet, aus denen auch rechts vor mir die steilen Klippen waren. Das rötliche Ziegeldach war mit Moos besetzt, die Tür stand offen und bewegte sich leicht im Wind.

 

Die neben dem Haus stehenden Zypressen, Ölbäume, Platanen und Dattelpalmen warfen ihren Schatten auf die im Vordergrund wachsenden Ginster-, Myrte- und Lavendelsträucher.

 

Das laute Donnern der Brandung klang noch nicht bedrohlich, sonder wie Musik.

 

Vor zwei Tagen rief mich fragend ein Freund an: „Ich bin gerade auf Korsika, muss aber aus familiären Gründen sofort weg. Das Haus hatte ich für drei Wochen gemietet. Wenn Du Lust hast, dann kannst du hier noch zwei Wochen umsonst wohnen“. Natürlich sagte ich gleich zu und saß nun hier, auf einem Stein.

 

Das Haus kam wieder in mein Blickfeld und ich stutzte: „Eigentlich sollte doch das Haus unbewohnt sein, aber warum ist dann die Tür offen? Bestimmt hatte sie mein Freund, bevor er ging, abgeschlossen. Und was ist das am Fenster? Steht hinter dem Fenster ein Schatten, der mich die ganze Zeit beobachtet? Da, er bewegt sich und nun ist er weg.“, dachte ich.

 

Schlagartig wurde mir hier meine Einsamkeit bewusst, aber das sollte sich bald ändern, denn es kamen zwei alte Bekannte zu mir: die Gänsehaut und ein leichtes Grauen.

 

„Das wird bestimmt ein Einbrecher sein und einige Exemplare davon sind gefährlich. Soll ich mich mit meinem Taschenmesser bewaffnen?“

Leise holte ich mein Taschenmesser aus dem Rucksack, klappte es auf, erhob mich von dem Stein, ließ den Rucksack neben dem Lavendelstrauch stehen und ging langsam, sehr langsam auf das Haus zu.

 

Meine Knie wurden weich und etwas zittrig. Wer, oder was würde mich in diesem Haus erwarten? Nun stand ich vor der offenen Tür und rief: „Ist jemand da?“ Meine Frage wurde nicht beantwortet. Schnell ging ich in den Raum rein, blickte mich um, aber es war niemand zu sehen. Hinter diesem Raum gab es noch das Schlafzimmer, mit einer geschlossenen Tür. Leise schlich ich mich auf Zehenspitzen zu dieser Tür, blieb kurz stehen, drückte dann schnell die Klinke runter, schlug krachend die Tür auf, sprang in das Zimmer, mit dem  Taschenmesser in der rechten hand.

 

Das Zimmer war leer und das Fenster geöffnet. „Wenn hier jemand war, dann ist er aus dem Fenster geflüchtet“, sagte ich und schloss das Fenster. Die Einrichtung war spartanisch, aber ausreichend. Im Schlafzimmer befand sich ein Doppelbett und ein Schrank, beides sehr alt und im Wohnzimmer eine Kochgelegenheit, auch ein Schrank und ein großer Holztisch mit sechs Stühlen. „Besser als gar nichts“.

 

Das Messer einsteckend ging ich aus dem Haus, um den Rucksack zu holen.

„Träume ich?“ Ich stand vor dem Stein, auf dem ich vorhin saß, konnte aber nicht meinen Rucksack sehen. Er war weg.

 

„Also war doch jemand hier.“ Im Rucksack war Kleidung und etwas Proviant. Das Geld hatte ich zum Glück in der Jackentasche. Im Wohnzimmerschrank fand ich etwas Brot, Brocciu (ein würziger Käse), einige Flaschen Wein, Mineralwasser und eine Flasche Myrtenbier.

 

„Für das Abendessen ist das ausreichend.“ Ich nahm zwei Stühle, einen als Tisch, stellte sie vor das Haus und genoss nicht nur das Abendessen, sondern auch den romantischen Sonnenuntergang und das Donnern der Brandung. Die Sonne versank wie ein glühender, roter Ball am Horizont im Meer.

 

„Schade, dass meine Freunde jetzt nicht hier sind.“ Damit meinte ich aber nicht die Gänsehaut und das leichte Grauen. Wäre mein Sohn hier, so würde er sagen: „Soll ich dir sagen, wo man zu jeder Zeit Freunde und sogar auch noch Gesundheit, Zufriedenheit, Glück und Reichtum finden kann? Im Wörterbuch.“

 

Die Nacht verlief erholsam und ohne ungebetene Besucher. Nach dem Frühstück brach ich auf, um mir die Westküste mit ihren Fjordähnlichen Buchten, weißen Stränden und dem glasklarem Wasser anzusehen.

 

Bald erreichte ich den Macchia, den Buschwald. Ich benutze keine Wege, sondern ging querfeldein und orientierte mich an dem Sonnenstand.

 

„Autsch, schrie ich plötzlich laut, als ich mit dem Fuß gegen einen Stein Stieß. Den Stein betrachtete ich genauer, er sah eher wie eine Tonscherbe aus, die 30 cm lang war und 8 cm aus dem trockenem Boden ragte.

 

Neugierig entfernte ich einen Teil der Erde und hatte den Eindruck, dass eine alte Tonvase vor mir lag. Da ich viel Zeit hatte, grub ich weiter, hob die Vase hoch und betrachtete sie.

 

Der Deckel war mit Harz angeklebt. Auf ihm eingeritzt stand: „Vivitur parvo bene“  (Glücklich lebt man mit wenigem).

 

Was mag nur in dieser alten, römischen Vase sein? Ein Schatz? Oder nur 2000 Jahre alte Luft?

 

Der Deckel wurde von mir mit meinem Taschenmesser geöffnet, zur Seite gelegt und in der Vase befanden sich nur alte, beschriebene Blätter.

 

„Alte römische Münzen wären mir lieber“, sagte ich enttäuscht.

 

Jetzt setzte ich mich in das trockene Gras, blätterte die Seiten durch und las wahllos einige Sätze.

 

„…magnos homines virtute metimur, non fortuna…. (Die Leistung, nicht das Glück ist der Maßstab historischer Größe…) … quicquid exspectatum est diu, levius accidit… (Womit immer man lang gerechnet hat, trifft einen weniger hart…)… novi ingenium mulierum: nolunt , ubi velis, ubi nolis , cupiunt ultro…

(Ich weiß ja, wie die Weiber sind: Willst du, so wollen sie nicht; willst du nicht, so wollen sie…)

 

Unterschrieben waren alle mit: Lucius Annaeus Seneca

 

„Seneca? Das war doch der Hauslehrer vom unhöflichen Nero! Ich erinnere mich, im Jahre 44 n. Chr. wurde er unter dem Kaiser Claudius hierher verbannt, lebte acht Jahre lang hier und wurde nach der Heirat vom Claudius mit Agrippina als Erzieher ihres Sohnes Nero nach Rom zurückgeholt.“

 

Nun begann ich gierig alle Tagebuchaufzeichnungen durchzulesen.

 

Nach einer Stunde legte ich die Aufzeichnungen wieder in und den Deckel auf die Vase.

 

„So war das also damals“, dachte ich. „Was für ein Glück für Seneca, dass Claudius nicht dieses Tagebuch gelesen hat. Seine Frau Agrippina war also die heimliche geliebte von Seneca. Agrippina besuchte oft in der Nacht mit einem Fischerboot diese Insel, um Seneca zu sehen. Sogar einen gemeinsamen Sohn hatten sie, den sie Jupiter nannten. Eigentlich hätte Jupiter, statt Nero Kaiser von Rom werden müssen.“

 

So vertieft war ich in meinen Gedanken, dass ich die Schritte hinter mir nicht gleich gehört hatte. Erschrocken drehte ich mich um und spürte einen heftigen Schlag gegen meinen Kopf. Als ich aufwachte und die höllischen, klopfenden  Schmerzen am Kopf spürte, sah ich, dass die Vase weg war. „Erst der Rucksack und nun die Vase! Vivitur parvo bene.“, sagte ich mit einem vor Schmerzen verzerrtem Gesicht. „Nichts wie weg hier. Meinen Urlaub werde ich woanders verbringen!“

 

Im Steinhaus sah ich in den Spiegel und erblickte ein Gesicht, das verschmiert mit angetrocknetem Blut war und bestialisch aussah.

 

„Das werden wir gleich ändern“, sagte ich, ging aus dem Haus zu den Klippen, kletterte an den glitschigen Felsen runter, suchte mir eine geeignete Stelle und wusch das angetrocknete Blut ab, während die tosende Brandung meine Beine umspülte. „Ahhh…“ Das salzige Wasser brannte wie Feuer in der Wunde.

Ich zog mein Hemd aus und trocknete damit die Wund und mein Gesicht, drehte mich um, wollte wieder hochklettern, krallte mich am Felsen fest und sah nach oben.

 

Vor Schreck ließ ich den Felsen wieder los. Dort oben stand jemand, den ich nicht genau erkennen konnte, denn das Salzwasser brannte in meinen Augen. Schemenhaft sah ich eine Person, mit hochgehobenen Armen, einen Felsbrocken haltend, die rief: „Roberto…“ Den Rest konnte ich nicht verstehen. Er ließ den Felsen los, er fiel und reflexartig sprang ich in das Meer, schwamm raus und lies mich dann von der Strömung treiben.

 

Ich wurde aus dem Meer gefischt, natürlich von einem Fischer. Im Hafen ging ich sofort zu der nächsten Fähre, kaufte mir ein Ticket, ging an Bord, als der Kapitän mir begegnete. Erschrocken, bleich vor Angst sah er mich an: „Roberto…“ Den Rest verstand ich wieder nicht.

 

„Ich bin nicht dieser verdammte Roberto“, schrie ich in an und griff in meine innere Jackentasche, um meinen Ausweis ihm zu zeigen.

 

Als ich in die Jackentasche griff, hob er beide Hände hoch, so, als hätte er Angst, dass ich ihn erschießen könnte.

 

Als ich ihm meinen Ausweis zeigte, sah er mich ungläubig und staunend an und sagte dann im gebrochenem deutsch: „Roberto ist ein sehr gefährlicher Mörder, der sich auf Korsika versteckt hält. Du siehst genauso aus wie er.“

 

„Also war alles nur ein Missverständnis?“, sagte ich zum Kapitän, als wir an der Bar gemeinsam einen Schnaps tranken und ich dachte wieder an den Satz: „Vivitur parvo bene“  (Glücklich lebt man mit wenigem).

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.10.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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