Petra Wilhelmi

Zwiegespräch mit meinem anderen Ich


Ich liebe diese Stunden im Herbst. Der Mittag ist vorüber. Das Licht der Sonne ist nicht mehr ganz so hell, es fühlt sich heimelig an. Die Schatten sind schon etwas länger. Trotzdem wärmt die Sonne mein Gesicht, meine Schultern und meinen Rücken. An solchen Stunden ziehe ich mich auf meine Veranda zurück, nehme ein Buch in die Hand und will lesen. Meine Blicke bleiben kurz an den Geranien und an den Studentenblumen hängen, die in den Töpfen vor mir gedeihen. Die Blütenpracht sind eingefangene Sonnenstrahlen. Dort drüben, mein Olivenbäumchen. Es reckt seine kleinen Äste in die Sonne. Vor mir mein Buch. Die Buchstaben fangen mich ein, reihen sich aneinander, formen sich, bilden Wörter und Gedanken, sprechen zu mir. Es ist wieder einmal eine Science-Fiction-Geschichte. Ich bin in der Zukunft, im Star-Trek-Universum.

Science Fiction, Star Trek, was sollte es auch anderes sein. Musst du wirklich immer so etwas lesen? Was findest du eigentlich an Kirk, Picard und Co.?

Warum sollte ich das nicht lesen. Ich schaue gern in eine lebenswerte Zukunft. Wenn man es ganz genau nimmt spielt Star Trek nicht in der Zukunft und handelt schon gar nicht von grünen Männchen. Es werden Gedanken vor mir ausgebreitet, Gedanken, die im Heute liegen. Hier auf diesen Seiten steht es. Es geht um Menschlichkeit. Ich komme ins Grübeln. Menschlichkeit. Nun will ich es ganz genau wissen. Ich schlage im Synonymwörterbuch nach und lese: Menschenliebe, Nächstenliebe, humane Gesinnung, Humanität.

Und nun, was gedenkst du damit anzufangen? Hilft es dir weiter?

Ich weiß es noch nicht. Ich denke, dass unbedingt noch ein Gedanke mit einbezogen werden muss: Individualität.

Individualität? Ich nenne es Egoismus. Jeder denkt nur an sich, was für ihn gut ist. Alles andere ist ausgeblendet. Individualität. Da steckt das Wort Individuum drinnen und das umfasst nur den Einzelnen.


Ganz so einfach ist es nicht. Ganz Recht. Individuum und Egoismus sind zwei Seiten einer Medaille. Es liegt an dir, welcher Seite du den Vorrang geben willst.


Na siehst du, habe ich es nicht gleich gesagt? Das Individuum ist eng mit dem Egoismus verbunden.

Lass mich zu Ende denken. Individualismus ist nicht zwangsläufig der Egoismus, den du meinst. Durch Individualität manifestiert sich unser Menschsein. Jedes Individuum hat seine ganz eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten.

Was tut das zur Sache? Ist das nicht die Wurzel des Egoismus?

Individualismus kann aber auch die Wurzel tiefer Menschlichkeit sein. Wir sind Wesen, die in Gemeinschaften leben. Gemeinschaften bestehen aus Individuen, die sich ergänzen und sich dadurch entwickeln können. Hör mal, Captain Picard von der Enterprise fasste sein Führungsprinzip so zusammen: „Große Aufmerksamkeit sollte darauf gelegt werden, die Individualität jedes Untergebenen zu schützen. Denn die Individualität des einzelnen – die sich in speziellen Fähigkeiten und in Fachwissen widerspiegelt – ist das Kapital, das dazu beiträgt, eine Mission erfolgreich abzuschließen.“ 1)  Ich denke, dass durch das Zusammenwirken vieler Individuen sich unsere Gemeinschaft auf eine höhere Bewusstseinsebene begeben kann. Sicherlich nicht sofort, aber einmal wird es soweit sein.

Du schwebst in den Wolken. Das klappt in der Science Fiction, im Star-Trek-Universum, aber im wahren Leben? Das glaube ich nicht. Ich sehe nur eine Gemeinschaft, die im Egoismus verharrt und dadurch nicht zu einer Einheit im Denken, Fühlen und Handeln kommt.

Eine Einheit? Wie soll ich das Verstehen. Das Borgkollektiv in Star Trek war eine Einheit. Es wurde mit einheitlicher Stimme gesprochen, einheitlich gedacht und gehandelt, gesteuert von einem Borgbewusstsein, manifestiert in einer Königin, wie in einem Bienenstock. Nein, das kann nicht unser Weg sein. So eine Gleichschaltung lehne ich ab.

So habe ich es auch nicht gemeint. Einheit ist nicht Gleichheit. So wie ich es verstehe, sollte es eine Einheit in der Vielfalt sein.  Du hast selbst alle Synonyme für Menschlichkeit aufgezählt. Eins davon war Menschenliebe. Menschenliebe ist auf andere fixiert. Menschenliebe negiert den Egoismus und die Zuwendung nur zum eigenen Sein.

Ich sehe, dass sich unsere Gedanken aufeinander zu bewegen, sich berühren. Wir funken sozusagen auf einer Wellenlänge. Wir sind Individuen. Unsere Einmaligkeit teilen wir mit der Einmaligkeit anderer Individuen. Es ist ein Weg zur Menschenliebe.

Du hast Recht. Die Ausschaltung des Egoismus bringt uns als Individuum voran. Das klingt überzeugend.

Das denke ich auch. Egoismus versperrt uns den Weg zur Weiterentwicklung. Indem wir andere Gedanken und Meinungen negieren, schwächen wir uns als Einzelwesen.


Menschlichkeit geht zusammen mit Stärke, geistiger Stärke und Stärke im Handeln.

Du hast Demut vergessen. Demut vor den Gedanken und Leistungen anderer.

Du sprichst etwas Wichtiges an. Wir entwickeln unsere Menschlichkeit, indem wir unsere Mitmenschen achten, unsere Stärken mit ihren Stärken vereinen.

Ein Aspekt ergibt sich aus diesen Gedanken. Verantwortung. In meinem Buch sagt Captain Picard darüber: „Es ist recht einfach, die Fehler anderer zu erkennen, aber es ist viel schwieriger zuzugeben, dass man für die Fehler, die man bei anderen findet, verantwortlich sein könnte.“2)  Ich will auch mein Zitatenlexikon zu Rate ziehen. Es kann  nicht schaden, nachzuschauen, was ich unter Menschlichkeit dort drinnen finde. Hier steht etwas Interessantes. Saint-Exupèry sagt in seinem Roman „Wind, Sand und Sterne“ ähnliches wie Capitain Picard: „Mensch sein heißt Verantwortung fühlen; sich schämen beim Anblick einer Not, auch wenn man offenbar keine Mitschuld an ihr hat; stolz sein über den Erfolg der Kameraden; seinen Stein beitragen im Bewusstsein, mitzuwirken am Bau der Welt.“3)

Wir müssen begreifen, dass wir alle aus dem gleichen Stoff, aus Knochen, Muskeln, Nerven und Blut bestehen, die gleichen Vorfahren haben, die gleiche Welt bewohnen. Die Unterschiede zwischen uns sind nur minimal.

Saint-Exupèry sprach deshalb auch ganz folgerichtig die Verantwortung für Menschen in Not an.

Du hast Recht. Es ist einfach von Menschlichkeit zu sprechen, wenn es dir und deinen Nachbarn gut geht. Das was dich als Mensch ausmacht, beweist sich dann, wenn du denen gegenüberstehst, die schwach, krank und in Not sind. Ein anderes Synonym für Menschlichkeit ist die Nächstenliebe. Die gilt es dann zu beweisen.

Nächstenliebe. Man stellt seine Ansprüche zurück und wendet sich dem anderen zu. Jeder Mensch hat einen Funken Einzigartigkeit in sich. Es ist sicherlich nicht einfach in allen Mitmenschen diesen Funken zu finden. Wenn wir ihn entdeckt haben, strahlt er. Seine Strahlen berühren uns, gehen auf uns über, bereichern uns.

Manche wissen diesen Funken wirklich gut zu verstecken. Mitunter auch unter Egoismus. Es lohnt sich aber, diesen Funken der Einzigartigkeit bei anderen Menschen zu entdecken und ans Tageslicht zu fördern.

Ich glaube, das ist der Kern der Menschlichkeit. Die Besonderheit anderer Menschen zu bemerken und zu respektieren, egal in welchen Situationen man sie kennen lernt, egal ob sie Bettler oder Manager sind, aus Afrika, Europa oder Asien kommen. Einfach ist das wahrlich nicht.

Wer sagt denn, dass das Leben einfach ist. Aber unsere Gedanken sind wichtig, sie formen uns und unsere Welt.

Jetzt habe ich aber meine Pfade weiträumig verlassen. Eigentlich wollte ich doch mein Star-Trek-Buch lesen. Oder habe ich meinen Pfad gar nicht verlassen?

Ich schaue versonnen von meinem Buch auf. Mein Blick verfängt sich in den Geranien und den Studentenblumen. Er geht weiter zum blauen Himmel mit den vielen weißen Wolken, die sich formen und zerfließen. Ich blättere gedankenverloren weiter in meinem Buch.

Ist das nun der Weisheit letzter Schluss?


Es kann nie der Schluss sein. Zur Menschlichkeit gibt es viele weitere Aspekte, die es zu erkennen und bedenken gilt. Machen wir einfach den ersten Schritt. Bringen wir unseren Nachbarn Achtung entgegen, versuchen wir, sie zu verstehen und bringen wir ihnen gegenüber unser Mitgefühl zum Ausdruck. Vielleicht ist das der Anfang eines guten Weges.

Ich klappe mein Buch zu und gehe langsam, noch in Gedanken versunken, in mein Wohnzimmer zurück. Ich streiche eine Haarsträhne, die mir ins Gesicht gefallen ist, hinter mein Ohr zurück.  Es ist einer von diesen Nachmittagen, die man nicht vergisst. Die Sonne gleitet langsam zum Horizont hinüber und sagt uns, dass der Abend naht. Sie verwöhnt uns noch einmal mit ihrem Farbspiel in den verschiedensten Nuancen von Rot bis sie ganz hinter dem Horizont verschwunden ist und Menschen an einem anderen Ort auf unserer Erde mit ihrer Wärme verwöhnt. Für mich wird es Zeit, den Abend zu begrüßen.

© Petra Wilhelmi

 

1) Wess Roberts/Bill Ross, Star Trek The next Generation, Picards Prinzip, Management by Trek, Wilhelm Heyne Verlag München,  S. 187

2) ebenda, S. 205

3) Zitatenlexikon, VEB Bibliographisches Institut Leipzig,        1984, S. 531



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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.10.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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