Ich
liebe diese Stunden im Herbst. Der Mittag ist vorüber. Das Licht der Sonne ist
nicht mehr ganz so hell, es fühlt sich heimelig an. Die Schatten sind schon
etwas länger. Trotzdem wärmt die Sonne mein Gesicht, meine Schultern und meinen
Rücken. An solchen Stunden ziehe ich mich auf meine Veranda zurück, nehme ein
Buch in die Hand und will lesen. Meine Blicke bleiben kurz an den Geranien und an
den Studentenblumen hängen, die in den Töpfen vor mir gedeihen. Die Blütenpracht
sind eingefangene Sonnenstrahlen. Dort drüben, mein Olivenbäumchen. Es reckt
seine kleinen Äste in die Sonne. Vor mir mein Buch. Die Buchstaben fangen mich
ein, reihen sich aneinander, formen sich, bilden Wörter und Gedanken, sprechen
zu mir. Es ist wieder einmal eine Science-Fiction-Geschichte. Ich bin in der
Zukunft, im Star-Trek-Universum.
Science
Fiction, Star Trek, was sollte es auch anderes sein. Musst du wirklich immer so
etwas lesen? Was findest du eigentlich an Kirk, Picard und Co.?
Warum
sollte ich das nicht lesen. Ich schaue gern in eine lebenswerte Zukunft. Wenn
man es ganz genau nimmt spielt Star Trek nicht in der Zukunft und handelt schon
gar nicht von grünen Männchen. Es werden Gedanken vor mir ausgebreitet,
Gedanken, die im Heute liegen. Hier auf diesen Seiten steht es. Es geht um
Menschlichkeit. Ich komme ins Grübeln. Menschlichkeit. Nun will ich es ganz
genau wissen. Ich schlage im Synonymwörterbuch nach und lese: Menschenliebe,
Nächstenliebe, humane Gesinnung, Humanität.
Und
nun, was gedenkst du damit anzufangen? Hilft es dir weiter?
Ich
weiß es noch nicht. Ich denke, dass unbedingt noch ein Gedanke mit einbezogen
werden muss: Individualität.
Individualität?
Ich nenne es Egoismus. Jeder denkt nur an sich, was für ihn gut ist. Alles
andere ist ausgeblendet. Individualität. Da steckt das Wort Individuum drinnen
und das umfasst nur den Einzelnen.
Ganz
so einfach ist es nicht. Ganz Recht. Individuum und Egoismus sind zwei Seiten
einer Medaille. Es liegt an dir, welcher Seite du den Vorrang geben willst.
Na
siehst du, habe ich es nicht gleich gesagt? Das Individuum ist eng mit dem
Egoismus verbunden.
Lass
mich zu Ende denken. Individualismus ist nicht zwangsläufig der Egoismus, den
du meinst. Durch Individualität manifestiert sich unser Menschsein. Jedes
Individuum hat seine ganz eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten.
Was
tut das zur Sache? Ist das nicht die Wurzel des Egoismus?
Individualismus
kann aber auch die Wurzel tiefer Menschlichkeit sein. Wir sind Wesen, die in
Gemeinschaften leben. Gemeinschaften bestehen aus Individuen, die sich ergänzen
und sich dadurch entwickeln können. Hör mal, Captain Picard von der Enterprise
fasste sein Führungsprinzip so zusammen: „Große Aufmerksamkeit sollte darauf
gelegt werden, die Individualität jedes Untergebenen zu schützen. Denn die
Individualität des einzelnen – die sich in speziellen Fähigkeiten und in
Fachwissen widerspiegelt – ist das Kapital, das dazu beiträgt, eine Mission
erfolgreich abzuschließen.“ 1) Ich
denke, dass durch das Zusammenwirken vieler Individuen sich unsere Gemeinschaft
auf eine höhere Bewusstseinsebene begeben kann. Sicherlich nicht sofort, aber
einmal wird es soweit sein.
Du
schwebst in den Wolken. Das klappt in der Science Fiction, im
Star-Trek-Universum, aber im wahren Leben? Das glaube ich nicht. Ich sehe nur
eine Gemeinschaft, die im Egoismus verharrt und dadurch nicht zu einer Einheit
im Denken, Fühlen und Handeln kommt.
Eine
Einheit? Wie soll ich das Verstehen. Das Borgkollektiv in Star Trek war eine
Einheit. Es wurde mit einheitlicher Stimme gesprochen, einheitlich gedacht und
gehandelt, gesteuert von einem Borgbewusstsein, manifestiert in einer Königin,
wie in einem Bienenstock. Nein, das kann nicht unser Weg sein. So eine
Gleichschaltung lehne ich ab.
So
habe ich es auch nicht gemeint. Einheit ist nicht Gleichheit. So wie ich es
verstehe, sollte es eine Einheit in der Vielfalt sein. Du hast selbst alle Synonyme für
Menschlichkeit aufgezählt. Eins davon war Menschenliebe. Menschenliebe ist auf
andere fixiert. Menschenliebe negiert den Egoismus und die Zuwendung nur zum
eigenen Sein.
Ich
sehe, dass sich unsere Gedanken aufeinander zu bewegen, sich berühren. Wir
funken sozusagen auf einer Wellenlänge. Wir sind Individuen. Unsere Einmaligkeit
teilen wir mit der Einmaligkeit anderer Individuen. Es ist ein Weg zur
Menschenliebe.
Du
hast Recht. Die Ausschaltung des Egoismus bringt uns als Individuum voran. Das
klingt überzeugend.
Das
denke ich auch. Egoismus versperrt uns den Weg zur Weiterentwicklung. Indem wir
andere Gedanken und Meinungen negieren, schwächen wir uns als Einzelwesen.
Menschlichkeit
geht zusammen mit Stärke, geistiger Stärke und Stärke im Handeln.
Du
hast Demut vergessen. Demut vor den Gedanken und Leistungen anderer.
Du
sprichst etwas Wichtiges an. Wir entwickeln unsere Menschlichkeit, indem wir
unsere Mitmenschen achten, unsere Stärken mit ihren Stärken vereinen.
Ein
Aspekt ergibt sich aus diesen Gedanken. Verantwortung. In meinem Buch sagt Captain
Picard darüber: „Es ist recht einfach, die Fehler anderer zu erkennen, aber es
ist viel schwieriger zuzugeben, dass man für die Fehler, die man bei anderen
findet, verantwortlich sein könnte.“2) Ich will auch mein Zitatenlexikon zu Rate
ziehen. Es kann nicht schaden,
nachzuschauen, was ich unter Menschlichkeit dort drinnen finde. Hier steht
etwas Interessantes. Saint-Exupèry sagt in seinem Roman „Wind, Sand und Sterne“
ähnliches wie Capitain Picard: „Mensch sein heißt Verantwortung fühlen; sich
schämen beim Anblick einer Not, auch wenn man offenbar keine Mitschuld an ihr
hat; stolz sein über den Erfolg der Kameraden; seinen Stein beitragen im
Bewusstsein, mitzuwirken am Bau der Welt.“3)
Wir
müssen begreifen, dass wir alle aus dem gleichen Stoff, aus Knochen, Muskeln,
Nerven und Blut bestehen, die gleichen Vorfahren haben, die gleiche Welt
bewohnen. Die Unterschiede zwischen uns sind nur minimal.
Saint-Exupèry
sprach deshalb auch ganz folgerichtig die Verantwortung für Menschen in Not an.
Du
hast Recht. Es ist einfach von Menschlichkeit zu sprechen, wenn es dir und deinen
Nachbarn gut geht. Das was dich als Mensch ausmacht, beweist sich dann, wenn du
denen gegenüberstehst, die schwach, krank und in Not sind. Ein anderes Synonym für
Menschlichkeit ist die Nächstenliebe. Die gilt es dann zu beweisen.
Nächstenliebe.
Man stellt seine Ansprüche zurück und wendet sich dem anderen zu. Jeder Mensch
hat einen Funken Einzigartigkeit in sich. Es ist sicherlich nicht einfach in
allen Mitmenschen diesen Funken zu finden. Wenn wir ihn entdeckt haben, strahlt
er. Seine Strahlen berühren uns, gehen auf uns über, bereichern uns.
Manche
wissen diesen Funken wirklich gut zu verstecken. Mitunter auch unter Egoismus.
Es lohnt sich aber, diesen Funken der Einzigartigkeit bei anderen Menschen zu
entdecken und ans Tageslicht zu fördern.
Ich
glaube, das ist der Kern der Menschlichkeit. Die Besonderheit anderer Menschen
zu bemerken und zu respektieren, egal in welchen Situationen man sie kennen lernt,
egal ob sie Bettler oder Manager sind, aus Afrika, Europa oder Asien kommen.
Einfach ist das wahrlich nicht.
Wer
sagt denn, dass das Leben einfach ist. Aber unsere Gedanken sind wichtig, sie
formen uns und unsere Welt.
Jetzt
habe ich aber meine Pfade weiträumig verlassen. Eigentlich wollte ich doch mein
Star-Trek-Buch lesen. Oder habe ich meinen Pfad gar nicht verlassen?
Ich
schaue versonnen von meinem Buch auf. Mein Blick verfängt sich in den Geranien
und den Studentenblumen. Er geht weiter zum blauen Himmel mit den vielen weißen
Wolken, die sich formen und zerfließen. Ich blättere gedankenverloren weiter in
meinem Buch.
Ist
das nun der Weisheit letzter Schluss?
Es
kann nie der Schluss sein. Zur Menschlichkeit gibt es viele weitere Aspekte,
die es zu erkennen und bedenken gilt. Machen wir einfach den ersten Schritt.
Bringen wir unseren Nachbarn Achtung entgegen, versuchen wir, sie zu verstehen
und bringen wir ihnen gegenüber unser Mitgefühl zum Ausdruck. Vielleicht ist
das der Anfang eines guten Weges.
Ich
klappe mein Buch zu und gehe langsam, noch in Gedanken versunken, in mein
Wohnzimmer zurück. Ich streiche eine Haarsträhne, die mir ins Gesicht gefallen
ist, hinter mein Ohr zurück. Es ist
einer von diesen Nachmittagen, die man nicht vergisst. Die Sonne gleitet
langsam zum Horizont hinüber und sagt uns, dass der Abend naht. Sie verwöhnt
uns noch einmal mit ihrem Farbspiel in den verschiedensten Nuancen von Rot bis
sie ganz hinter dem Horizont verschwunden ist und Menschen an einem anderen Ort
auf unserer Erde mit ihrer Wärme verwöhnt. Für mich wird es Zeit, den Abend zu
begrüßen.
©
Petra Wilhelmi
1) Wess
Roberts/Bill Ross, Star Trek The next Generation, Picards Prinzip, Management
by Trek, Wilhelm Heyne Verlag München, S. 187
2) ebenda, S. 205
3)
Zitatenlexikon, VEB Bibliographisches Institut Leipzig, 1984, S. 531