Michael Mews

Zeitlupe

Auf der Strasse, zwischen einer breiten Häuserschlucht drängelte sich lautstark der hektische, morgendliche Berufsverkehr. Das Gras auf dem mittleren Grünstreifen, der beide Fahrbahnen trennte und auf dem ich stand leuchtete in einem hellen Grün.

 

 

Hinter mir befand sich das Reisebüro, in dem ich gerade war, um mir ein Ticket nach München zu kaufen. Eine Straßenhälfte hatte ich schon überquert und wartete nun auf eine Gelegenheit, auch über die andere gehen zu können.

 

 

„Diese Straße ist ja wie ein wilder, mitreißender Fluss. Möchte man das andere Ufer erreichen, so muss man hier höllisch aufpassen“, dachte ich, als vor mir die vielen Autos, wie eine Büffelherde vorbei brausten.

 

 

Durch die, vor mir vorbeirasenden Autos sah ich einige wartende Passanten, die sich auch auf das Abenteuer, diese Straße zu überqueren, einlassen wollten. Jetzt kam eine junge Frau, sie fuhr auf dem Gehweg mit einem Fahrrad. Wahrscheinlich möchte auch sie diese Straße überqueren.

 

 

Plötzlich starrte ich sie mit weit aufgerissenen Augen an und dachte: „Das darf doch nicht wahr sein! Träumt diese Frau?“

 

 

Sie blieb mit ihrem Fahrrad nicht an der Bordsteinkante stehen, um wartend den Verkehr vorbeirauschen zu lassen, sondern sie fuhr, geradeaus blickend auf die Strasse!

 

 

Jetzt war sie bereits auf der Fahrbahnmitte. Getroffen vom Schock erstarrte ich.

 

 

Ein dunkler Personenwagen fuhr frontal gegen das Fahrrad, das sich nun neigte, kippte, langsam, ganz langsam und die Frau schwebte etwas über dem Fahrrad, während das Fahrrad weiter kippte. Es dauerte noch eine Weile, bis das Fahrrad auf der Straße lag, um dann langsam, wie von einer Geisterhand getragen, sich etwas aufzurichten und anschließend der andere Straßenseite zuschwebte. 

 

 

Die Frau befand sich noch immer in der Luft, aber jetzt über dem Kühler des Autos. Behutsam fiel sie nun in Richtung des Kühlers. Es wird nicht sehr lange dauern, bis sie den Kühler erreicht hat. Da, jetzt hatte sie ihn erreicht, lag seitlich auf dem Blech, das nun immer tiefer eingedrückt wurde.

 

 

Auf dem Blech rutschend bewegte sie sich in Richtung Frontscheibe, erreichte sie, beulte sie ein und tausend kleine Risse bildeten sich in dieser Scheibe.

 

 

Aber was ist das? Sie erhob sich nun bis zur Höhe meines Kopfes, flog in die Richtung, aus der sie vorher kam, befand sich jetzt weit vor dem Auto, schwebte dem Straßenbelag zu, erreichte ihn und blieb gekrümmt liegen.

 

 

Immer noch stand ich, völlig versteinert auf dem Mittelstreifen, als Passanten bereits zu der Frau liefen. Der Fahrer des Autos, auch völlig geschockt stand neben mir, als er leise sagte: „Ich habe alles wie in einer Zeitlupe erlebt.“

 

 

Schnell war der Rettungswagen da, die Frau wurde ärztlich versorgt und in ein Krankenhaus gefahren.

 

 

Noch immer unter Schock stehend, ging ich weiter und fragte mich: „Warum habe auch ich alles wie in einer Zeitlupe gesehen?“

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Michael Mews).
Der Beitrag wurde von Michael Mews auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.10.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Michael Mews als Lieblingsautor markieren

Buch von Michael Mews:

cover

Auch auf Leichen liegt man weich - Kurzgeschichten von Michael Mews



"Auch auf Leichen liegt man weich" ist eine Sammlung schaurig schöner und manchmal surrealer Kurzgeschichten, in denen Alltagsbegebenheiten beängstigend werden können und Schrecken auf einmal keine mehr sind - vielleicht!

Wir begegnen Lupa, der ein kleines Schlagenproblem zu haben scheint und sich auch schon einmal verläuft, stellen fest, dass Morde ungesund sind, und werden Toilettentüren in Flugzeug in Zukunft mit ganz anderen Augen betrachten.

Und immer wieder begleiten den Erzähler seine beiden guten Freunde: die Gänsehaut und das leichte Grauen ...

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Wahre Geschichten" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Michael Mews

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Yellow Submarin von Michael Mews (Wahre Geschichten)
"Schlüsselerlebnis" von Christa Astl (Wahre Geschichten)
Coventry - Pazifistischer Aufsatz von Paul Rudolf Uhl (Krieg & Frieden)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen