Raffaela Scherrer

Der Sinn des Lebens

Das Warten war lästig, das Warten war nicht auszuhalten. Die
Uhr schien sie zu verhöhnen, „oh wie kannst du nur“, dachte sie, „du dumme Uhr,
wieso?!“. Der Sekundenzeiger kroch immer langsamer dahin, wäre es eine Sanduhr
gewesen, wäre der Sand wohl rückwärts hinauf geflossen. Wieso verrinnt die Zeit
bloß SO zäh?! Auf diese Frage wusste sie keine Antwort. Es war ihr
unbegreiflich, wie langsam etwas vergehen konnte, das meistens schneller
verrann, als ihr lieb war.
Eben war sie noch unbehelligt gewesen und „Bumm“, im
nächsten Moment krachte es, der Blitz schlug schneller ein, als der Schall, ist
ja klar, Licht ist schneller, aber es war unglaublich wie schnell alles bisher
ging. Die Jahre flogen bloß vorüber und endlich wurde sie erhört. Bevor sie
Erhörung fand, vertrieb sie sich die Zeit mit anderen, sie probierte,
experimentierte und genoss es begehrt zu sein. Schön, jung und begehrt, ihre
Verehrer waren zeitweise unzählbar gewesen, fast die gesamte Schule – so hatte
sie das Gefühl – war hinter ihr her gewesen, zumindest diejenigen des
männlichen Geschlechts. Sogar ihre Erzfeinde warfen ihr interessierte und
begehrliche Blicke zu.
Dann kam der Tag, es war einer der glücklichsten ihres
bisherigen Lebens. Sie feierten gerade den besten Sieg seit jeher und dann kam
Er, der Er, auf den sie schon so lange gewartet hatte. Er stürzte auf sie zu,
sie stürzte auf ihn zu, sie fingen sich gegenseitig in den Armen des Anderen
ab. Vor den Augen aller küssten sie sich, und was war das für ein Kuss, voller
Leidenschaft, voller Emotionen, und die Richtigkeit, die sie beide dabei
fühlten war bis heute ungebrochen.
Es gab zwischendurch den Kampf des Universums, er verließ
sie um sie zu schützen, sie wartete auf ihn, sie wusste lange Zeit nicht, wo er
war, ob er noch lebte, ob er noch Mensch war, ob er noch Seele besaß, aber sie
wartete. Damit sie nicht wahnsinnig wurde malte sie. Sie steckte all ihre
Emotionen, ihre Liebe, ihre Treue, ihre Sorgen, ihre Ängste, ihre Hoffnung und
ihre Liebe in jedes einzelne Bild. Damit sie etwas zu tun hatte begründete sie
eine Galerie und stellte ihre Bilder – und später auch ihre Plastiken – aus und
wurde praktisch über Nacht die bekannteste Künstlerin dieser Jahre. Die Zeit
häufte sich und aus Monaten wurden Jahre. Sie blieb treu, sie hatte keine
Ahnung, ob er noch lebte, ob er an sie dachte, aber ihre Treue und Liebe
blieben ungebrochen. Irgendwann flatterte ein Vogel auf ihrem Weg auf und ab,
es war eine Taube und sie trug einen Brief.

 
Ich bin stolz auf
dich, ich liebe dich, bitte warte auf mich, bald ist es vorüber!


 
  Sie wusste, diese
Nachricht kam von ihm, er wollte sie wissen lassen, dass er bald kam, es musste
also bald ein Ende gefunden werden. Sie saß da und wartete und irgendwann war
er wieder da, sie hatte das Warten in ihren Wohnräumen nicht mehr ausgehalten
und war in den Wald gegangen um sich zu entspannen. Sie wollte gerade ein paar
Pilze aufheben, als er plötzlich da stand. Ohne große Worte fiel sie ihm in die
Arme. Er sah furchtbar aus, der Kampf war schrecklich gewesen, es war ein
Wunder, dass er überhaupt überlebt hatte, aber sie war all die Jahre der Grund
gewesen, dass er weiterleben wollte und konnte, sein Willen sie noch einmal in
den Armen zu halten war übermächtig gewesen. Allein durch diesen Gedanken hatte
es den Kampf überstanden; er wusste nicht einmal, wie lange der Kampf gedauert
hatte, es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, aber auch die Ewigkeit vergeht einmal.

Sie hielten sich in den Armen und das war das Wichtigste,
endlich hatten sie sich wieder. Sie liebten sich an Ort und Stelle und ohne
großes Gerede planten sie ihre Hochzeit.
Gleich war es soweit, Oh Gott, wie lange hatte sie schon
darauf warten müssen, aber endlich war es soweit, gleich würde sie hinausgehen
und ihrem Geliebten die ewige Liebe und Treue geloben, als wenn er das nicht
schon wüsste.
Die Musik erklang, zuerst ganz leise und dann immer lauter,
sie nahm ihren Strauß und ging ohne noch einmal in den Spiegel zu blicken auf
den Altar zu. Er war wunderschön – sie war wunderschön. Sie sprachen dem
Friedensrichter die Worte des Ehegelöbnis’ nach und gingen Hand in Hand hinaus.
Sie war zum Zeitpunkt der Trauung schwanger gewesen und
brachte ein halbes Jahr nach der Hochzeit das Produkt ihrer Liebe auf die Welt.
Es folgten noch viele. Irgendwann wachte sie mitten in der Nacht auf, er war
weg. Sie wusste sie würde ihn nie wieder sehen, er hatte ihr vor vielen Jahren,
um die Geburt ihres ersten Kindes gestanden, dass er dem Tod verpflichtet war,
er hatte auf Grund ihrer Liebe ein paar Jahrzehnte Aufschub bekommen, aber er
wusste, wann er gehen musste.
Sie liebte ihn nach wie vor und sah ihn weiterleben, in
ihren Kindern, in ihren Enkelkindern und als ihre Zeit gekommen war, wartete
nicht der Tod persönlich auf sie, sondern sein Stellvertreter, der diese Stelle
angenommen hatte um noch ein bisschen Zeit des irdischen Lebens genießen zu
dürfen, es war Er, der Eine, die große Liebe ihres Lebens. Sie liebte ihn noch
immer und er sie ebenso. Sie durften gemeinsam ins Licht gehen. Und immer wenn
im Wald ein Pilz in der Sonne steht und sich daneben zwei Verliebte lieben,
bekommen sie ihren Segen von dem Paar, dessen Liebe die Ewigkeit überdauert.

 

 
Einen Segen auf die Liebe, einen Segen auf den Sinn eins
jeden Lebens!

  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.10.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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