Martine Meyer

Tisch

Seit er hier ist, steht er dort. Er hat sich seither nicht einmal bewegt, das heisst nicht nur, dass er auf derselben Stelle stehen geblieben ist, an der man ihn das erste Mal bemerkt hat, sondern das heisst auch, dass man nicht einmal sein Atmen bemerken konnte. Nur seine Augen sah man zucken. Sie huschten aengstlich umher, versucht nichts laenger als ein paar Sekunden zu fixieren, um dann sofort wieder auf Wanderschaft zu gehen. Durch den Raum. Blick aus dem Fenster. Ins Gesicht eines Anderen. Aber nie laenger als eine kurze Sekunde. Nie laenger. Man beaeugte ihn misstrauisch. Keiner wusste etwas mit ihm anzufangen, obwohl man sie doch angewiesen hatte, sich darum zu kuemmern. Aber wie kuemmerte man sich denn um einen der unbeweglich da stand, als ob es nichts auf der Welt gaebe, was ihn dazu veranlassen koennte eine Gefuehlsregung, oder vielleicht auch nur eine Muskelregung, wir wollen es am Anfang ja nicht uebertreiben, hervorzubringen. Doch sie konnten ihn ja nicht so da stehen lassen. Oder doch?
Es dauerte eine ganze Weile, bis sich schliesslich doch jemand entschlossen hatte, sich seiner anzunehmen.
„Hallo du?!“ Er hoerte die leicht veraengstigt klingende Stimme einer jungen Frau, die sich zu ihm herunterbeugte und ihn interessiert anblickte. Sie war viel groesser als er. Und sehr huebsch. Lange blonde Haare fielen ueber ihre schmalen Schultern und ihre gruenen Augen funkelten trotz ihrer Scheu. Und sie war so gross. So gross. Sie hatte wohl bemerkt, dass er sie gemustert hatte, ganz schuechtern zwar, doch sein Blick verweilte auf ihr. Sie laechelte und streckte ihm ihre Hand entgegen. Durch die Menge, aus der sie gekommen war, ging ein Raunen, doch sie liess sich nicht beirren. „Ich bin Rachel.“, sagte sie mit sanfter, ruhiger Stimme, waehrend sie ununterbrochen laechelte, „Moechtest du etwas trinken? Oder einen Keks? Komm mit mir. Wir haben dort hinten ganz viele leckere Dinge, die ich dir gerne zeigen wuerde. Vielleicht gefaellt dir etwas!“ Seine Augen wanderten an ihr vorbei zu der Tuer, auf die sie gezeigt hatte. Noch einmal sah er in das Gesicht der Frau, die ununterbrochen weiter laechelte, und deren Hand immer noch in seiner Reichweite wartete. Ganz kurz zuckte seine eigenen Hand in ihre Richtung. Doch bevor sie diese ergreifen konnte, drehte er sich blitzschnell herum und rannte davon. Ein erneutes leises Raunen der staunenden Menge und der etwas traurige Blick begleiteten seine trampelnden Schritte nach draussen. Die Menge loeste sich auf und ging wieder ihren ueblichen Beschaeftigungen nach. Nach einer Stunde war er vergessen.
 
Doch am naechsten Tag stand er wieder da. Die selbe Stelle, die selbe Haltung. Reglos beobachtend. Scheu und schuechtern, doch auch mit einer leisen Erwartung in den grauen Augen. Sein Blick war auf die Menge gerichtet, weiterhin unstet, doch definitiv beobachteter er seine eigenen Beobachter. Nach kurzer Zeit wurde wieder die blonde Frau nach vorne geschoben, die sich erst widerwillig und dann doch erfreut zu ihm herunterbeugte und ihn wiederum begruesste: „Hallo kleiner Mann! Wie geht es dir?“ Er blickte sie an, die blonden Haare, die gruenen Augen. Sie war immer noch so groß. Und sie laechelte. Ununterbrochen. „Moechtest du heute einen Keks? Sieh mal, ich habe sie extra fuer dich schon bereit gestellt.“ Und wiederum schielte er an ihr vorbei um einen kleinen Tisch zu sehen, auf dem eine gruene Schale stand. Mit Keksen. Eine Schale so wie ihre Augen. So schoen gruen. Und wieder wartete jene schoene grosse Hand. Und wieder dachte er daran sie zu ergreifen. Kurz, ganz kurz, so kurz, dass er es nicht einmal bemerkte. Es war ein Reflex, keine lange Ueberlegung, als er seine Hand in die ihre legte. Ihr laecheln wurde froehlicher. Und die wunderschoenen gruenen Augen begannen zu strahlen. Hell und klar, als koennte man in ihnen versinken. Doch als er ihre weiche Haut unter seinen kleinen Finger spuerte, verliess ihn das kleine Fuenkchen Mut, dass ihn gepackt hatte. Und wiederum rannte er davon durch den Gang. Und die Menge seufzte und die Frau blickte traurig. Und diesmal dauerte es zwei Stunde, nachdem er vergessen war.
 
Auch am naechsten Tag stand er wieder da. Reglos, doch sein Blick war etwas fordernder geworden. Er erwartete die Frau. Und er wollte einen Keks. Er wollte unbedingt einen Keks haben. Einen eigenen. Einen aus der gruenen Schale, die am Ende des gruenen Raums auf dem gruenen Tisch stand. Er sah sich die Menge an, die sich wieder versammelt hatte und wartete. Er wartete. Wartete. Und die Menge wurde kleiner und kleiner. Und seine Augen grauer und grauer. Und irgendwann stand er alleine da. Keine Menge gab es mehr und keine grosse Frau mit gruenen Augen und so weicher Haut, die ihn begruesste. Und die Kekse und die gruene Schale waren auch nicht mehr da. Und auch nicht der gruene Tisch, denn der war grau. Und der gruene Raum war auch grau. Und dort hinten sah er sie. An einem Tisch. An einem gruenen Tisch. Mit langen Beinen aus Metall. Und einer Tischplatte aus Glas. Und obendrauf lagen ganz viele weisse Papiere. Nur ein paar waren beschrieben, dass konnte er sehen. Und sie stand an dem Tisch und sah ihn nicht. Sah ihn gar nicht an. Begruesste ihn nicht. Kannte ihn nicht. Und wortlos drehte er sich um und ging. Und bevor er ging, war er schon vergessen, und er kam nicht wieder.
  

joah mein neuestes Werk!
Mein deutschlehrer waere sicher stolz auf mich weil ich etwas mit einem so tiefgruendigem Sinn geschrieben hab XD

jaja...also ich wuerde mich freun wenn jemand mal eine interpretation zu dem text schreibt...ich wollt naemlich schon immer mal wissen ob das was man da interpretiert auch wirklich so ist oder ob der autor sich bei soner interpretation denken wuerde: oh mann die deppen schon wieder!

naja...viel spass auf jeden Fall!!

bybye eure Tyny
Martine Meyer, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.10.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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