Stefan Rüesch

Die Schwelle zum Nichts

Die Schwelle zum Nichts
 
Bevor die Zeit des Wartens kommt, sitze ich gemütlich auf der Veranda und geniesse ein geradezu einladend kühles Bier. Neben mir sitzt meine Frau Sonya, lächelt den Himmel an und freut sich, ohne darüber zu sinnieren, am Leben. „Ich hol mir noch ein Bier“ sage ich, ehe ich aufstehe und die Blüte der Sommerblumen auf unserer Veranda meinem Blickfeld verschwindet. Drinnen wirkt alles dunkel. Ich gehe zum Kühlschrank und bin glücklich. Ein Wochenende voller Sonne. Ein Wochenende mit der Familie. Meine Familie. Die Stimmung ist heiter.
    Dann fällt alles aus den Wolken.
    Ich weiss nicht, wie viel Zeit vergangen ist. Ich weiss nicht, in welchem Hospital ich mich momentan befinde. Was ich weiss ist, dass Sonya neben mir ist und mein Sohn Yarno. Sie sehen besorgt aus. Sonya weint. Ihre Tränen fliessen über ihre Wangen. Jene Wangen die ich, als ich selbst noch ein Jungspund war, so gern gekniffen habe. Mein Knuddel habe ich sie genannt und sie hat es geliebt. Ich möchte fragen, was passiert ist, doch meine Kehle ist stumm. Ein grässlicher Gestank füllt sie aus. Es riecht nach Autoreifen und Action Man Figuren – vielleicht auch etwas nach den Legomännchen, die in meiner Kindheit durch das Feuer starben.
    Ein Gummischlauch steckt in meinem Hals. Ich möchte mich übergeben, aber ich kann nicht. Ich möchte schreien, aber ich kann nicht. Ich bin machtlos, kann die Situation nicht verändern, kann meinem Schatz nicht sagen, dass ich Angst habe. Meine Augen sind offen, doch kann ich sie nicht bewegen. Das Neonlicht des Zimmers schmerzt bereits jetzt. Ich will, dass man es ausschaltet, doch kann ich nicht sprechen. Ich will die Schläuche nicht in mir haben, aber sie sind überall. Der Geruch ist schrecklich. So schrecklich, dass ich kotzen möchte, aber nicht einmal das gelingt mir. Ich bin bei Bewusstsein, doch ich sehe mich ohnmächtig gegenüber meiner momentanen Lage. Nicht einmal blinzeln kann ich. Nach einiger Zeit, die mir endlos erscheint, gewöhne ich mich daran.
 
Sonya und Yarno sind weg. Ich bin allein und starre in die Dunkelheit. Die Maschine neben mir stöhnt und ächzt unermüdlich, treibt mich in den Wahnsinn, hält mich jedoch am leben. Ich weiss nicht, was passiert ist, aber ich bin unfähig, mit meinem Körper zu kommunizieren. Vielleicht ist es das, was die Leute das Koma nennen. Hiess es nicht, man sei weg? Fühlen das alle, die ins Koma fallen? Die Isolation? Isolation gar, vorm eigenen Fleisch? Ich will dass es aufhört. Die Sekunden füllen Äonen. Ich will zurück. Zurück oder tot sein, nur soll es endlich aufhören.
    Ich höre eine Uhr ticken, kann sie jedoch nicht sehen. Es nervt mich unglaublich. Ich will schreien, aber ich kann nicht. Ich möchte aufstehen, die Uhr von der Wand nehmen und sie unter meinen Füssen zerstampfen, aber ich kann nicht. Ich muss es ertragen. Ich bin nicht tot, aber mein Geist ist mit meinem Fleisch verbunden und doch unendlich weit getrennt. Doch ich bin noch hier. Ich bin noch hier. Warum? Pech? Schicksal?
 
Später. Sonya ist wieder hier. Sie weint. Yarno ist bei der Arbeit. Ich wollte mit Yarno noch unbedingt das Stück beenden. Wir lieben Musik. Ich mache mir vorwürfe, dass er enttäuscht ist, weil ich nicht mehr kann und ich komme mir schäbig vor, weil ich nur noch lebloses Fleisch bin. Gleichzeitig versuche ich mich zu entschuldigen, es mir recht zu machen. Dadurch fühle ich mich noch schäbiger. Ich will meine Frau küssen, will sie spüren, aber ich kann nicht einmal mich selbst fühlen. Ich bin ein gebundener Verstand und ich werde verrückt davon. Ich will sterben, mich töten, doch nicht einmal dass kann ich. Ich kann nur sein, ertragen und mir bleibt keine Wahl, als verrückt zu werden. Der Tod erscheint mir wie ein Feld voller Rosen, doch ich kann nicht laufen. Ich fühle Zorn, doch die Angst umklammert ihn, umklammert alles. Tief in meinem Inneren weiss ich, dass dieser Zustand noch Monate anhalten kann. Ich kann mir nicht vorstellen, das noch einen Tag länger zu ertragen. Ich bin absolut machtlos, nicht einmal mehr in der Lage, meinem Dasein ein Ende zu bereiten. Ich will die Augen zumachen.
 
Die Zeit vergeht. Ich habe keine Ahnung, wie viel. Manchmal kommen Ärzte ins Zimmer, betrachten die Instrumente um mich und sprechen in einer mir fremden Sprache von Fachausdrücken. Mir scheint, als wollen sie sich gegenseitig beeindrucken. Lächerlich. Ich kann dem nur protestlos beiwohnen. Gelegentlich kommt Sonya rein, spricht mit mir, will mir Fragen stellen. Ich kann nicht antworten. Das einzige, was ich kann, ist die Decke anstarren und aushalten. Und das Aushalten fällt mir zunehmend schwerer. Yarno kommt mich auch besuchen. Er scheint gefasst, aber ich sehe es im Augenwinkel, dass er todtraurig ist. Ich möchte meinen Sohn trösten, möchte ihm Kraft geben, aber ich bin ein kraftloses Häufchen, völlig ohne Kontrolle. Nicht einmal eine Ohnmacht ist mir vergönnt. Mein Verstand ist immer wach. Schlaf ist nur noch eine Erinnerung. Ich bin ständig wach, obwohl mein Körper eigentlich tot ist. Ich bin am Leben, obwohl ich eine Leiche bin – begraben im eigenen Fleisch.
 
Noch mehr Zeit ist vergangen. Zeit ist für mich bedeutungslos geworden. Ich unterteile meine Lebensabschnitte nun in hell und dunkel. Ein Arzt ist heute hereingekommen. Ein älterer Mann. Hat was von einem Hirnschlag erzählt. Vermutlich meint er mich damit. Irgendwie seltsam, dass ich ihn hasse. Doch er steht vor mir, ist alt und dem Tode eigentlich nah, während ich machtlos seinen forensischen Analysen zuhören muss. Er müsste hier liegen, nicht ich. In Gedanken schliesse ich meine Hände um seinen Hals und erkenne dabei die Perversion, dass ich lächeln möchte. Das Koma scheint mir nicht zu bekommen. Ich möchte über meine Gedankengänge lachen, aber ich kann nur starr die Decke anblicken. Die Maschine neben meinem Bett pumpt unablässig Luft in meine Lungen. Die Kunststoffschläuche schmecken bereits ranzig. Es ist unbeschreiblich widerlich. Manchmal kommt eine Schwester vorbei, welche die Ausflüsse von meinem Gesicht wischt, welche unkontrolliert aus meinem Leib fliessen. In ihren Gesichtern sehe ich Abscheu und Ekel. Ich schäme mich, doch ich hasse sie deswegen. Ich möchte mit Yarno und Sonya ein Picknick machen, unten am Fluss, auf der rotbraunen Wolldecke. Das Sonnenlicht lässt Sonya’s Haut golden leuchten. Vorbei, denke ich. Aus und Vorbei. Bitte lieber Gott, lass mich endlich sterben. Lieber Gott, mach mich tot.
 
Viel später – und wie das so mit Gebeten ist – lebe ich immer noch, sieche ich immer noch dahin. Ich habe nun überall Schläuche. Die Schläuche an meinen Armen füttern den Körper, der mal meiner war und die Schläuche in meinem Anus leiten abstossende, nussige Säfte in eine Keramikschüssel. Die Schwestern hassen mich. Ich bin eine Last geworden. Sonya und Yarno kommen mich dann und wann besuchen, aber ich versuche, sie nicht wahrzunehmen. Es ist einfach zu schmerzhaft. Ich könnte ihnen Bände sprechen, doch ich bin nicht mehr in der Lage, meinem Körper Befehle zu erteilen. Ich habe nicht einmal mehr Träume, in die ich flüchten könnte. Koma ist wirklich das Schlimmste, das mir bislang passiert ist. Ich könnte hoffen, dass es bald vorüber ist, aber ich weiss es besser. Bald wird mein Gehirn schaden nehmen. Falls ich jemals wieder erwachen werde, werde ich nicht mehr der gleiche sein, der ich einst war. Ich kann von Glück reden, wenn ich mir noch den Hintern abwischen kann. So oder so; Mein Leben ist verwirkt, aber ich kann nicht einmal darüber weinen, obwohl mich die Trauer auffrisst.
    Manchmal, wenn ich ganz allein bin, versuche ich, allein durch meine Willenkraft die Hand zu heben, und die Maschine, die mich am Leben hält, auszuschalten. Ich habe nicht einmal ein Zucken hinbekommen. So betrachte ich die Wechsel zwischen Licht und Dunkelheit, wobei mir die Dunkelheit immer angenehmer erscheint. Und nach einiger Zeit, die mir wie Jahrhunderte erschien, habe ich aufgehört, darüber nachzudenken. Ich bin nur noch hier. Ich bin mir selbst bewusst, aber ich bin auch tot. Das einzige, was mir noch übrig bleibt ist das warten. Auf das Erwachen, den Tod, oder das Abschalten der Maschine.
 
Dann wird alles anders. Es ist ein neuer Tag. Das Licht tut nicht mehr weh. Sonya weint nicht mehr, sondern spricht nur noch. Yarno ist wieder bei der Arbeit. Die Ärzte sind bei anderen Patienten, oder vögeln mit den Krankenschwestern rum. Gott – wie gern würde ich vögeln. Scheinbar überdauert der Sexualtrieb selbst das Koma. Und als ich so darüber nachsinniere, bemerke ich ihn plötzlich.
    Er steht direkt vor meinem Bett. Ich möchte schreien, aber ich kann nicht. Ich möchte aufstehen und davonrennen, aber ich kann nicht. Ich fühle ihn in jedem Glied meines Körpers. Das Kribbeln. Es ist, als würde ein Strom durch mich fliessen. Es ist kalt, aber es verbrennt mich innerlich. Er steht da und sieht mich an, weiss, dass ich ihn auch sehe. Er ist uralt und intelligent. Er ist bösartig.
    Beinahe menschenähnlich, ein verschwommener, schwarzer Schatten mit weissen Augen. Er scheint mich anzulächeln, aber er ist über alle Massen verzweifelt und sein einziger Antrieb ist der Hass und die Angst. Er hasst mich, hasst sich selbst, hasst alles und er verkörpert die lähmende Angst aller Ängste.
    „Hallo Stephen“, sagt der Schatten. „Sag, wie geht es dir, mein Freund?“
    Ich will ihm Antworten, aber meine Lippen sind nur kribbelndes, taubes und nach Gummi stinkendes Fleisch und wollen mir nicht gehorchen. Ich denke; fahr zur Hölle und der Schatten weicht ein wenig zurück. Er kann also meine Gedanken lesen, denke ich und der Schatten sagt: „So ist es.“
    „Was willst du?“ frage ich ihn in Gedanken.
    „Ich will mich nur unterhalten, Stephen“, antwortet er.
    „Bist du böse?“ will ich wissen.
    „Das hängt vom Betrachter ab“, erklärt der Schatten.
    Er bewegt sich um mein Bett und zieht dabei schwarze Schlieren hinter sich her, wie ein dunkler Nebel. Ich möchte vor ihm zurückweichen, aber mein Körper ist stur. Der Schatten steht nun zwischen mir und Sonya und es gefällt mir überhaupt nicht. Er lehnt sich übers Bett, kommt mit seinen weissen Augen ganz nahe an meinen Kopf heran und nun kann ich auch ihn riechen. Er riecht scheusslich nach Chlor. Es ist so endlos widerwärtig dass ich mich aufsetzen und mein Erbrochenes in den Raum sprühen möchte. Die Intimität zwischen ihm und mir ist die Pervertierung aller Intimitäten.
    „Du kommst mit mir“, sagt Es. „Mit mir und mit uns.“
    Dann – urplötzlich – füllt sich die Stille mit einem ausdrucklosen Schrei und ich möchte auf der Stelle sterben, solche Angst habe ich. Mein Fleisch scheint zu zerreissen, mein Verstand scheint davon zu strömen. Ich antworte ihm nicht, kann nur machtlos seinen Hass fühlen und seine Kälte. Ich will meine Augen schliessen, vergessen, was hier passiert – Es vergessen – aber ich bin ihm ausgeliefert.
 
Vielleicht eine Halluzination. Ja – immerhin liege ich im Koma. Mein Gehirn scheint Schäden zu nehmen. Da ich keinen Ausweg mehr sehe, nicht mehr Träumen kann, ist meine Seelenhygiene aus dem Gleichgewicht. Ich habe den Schatten erfunden.
    Meine Erklärungen hören sich gut an, aber überzeugen mich nicht. Ich weiss nicht mehr, wie und wann es verschwunden ist, jedenfalls liege ich nun allein im Zimmer. Schade, dass Sonya weg ist. Ich fühle mich nicht wohl. Falls ich jemals wieder erwache, werde ich jedem Arzt der Welt raten, Patienten im Koma von der Lebenserhaltungsmaschine zu trennen. Tick tack, tick tack, tick tack. Die Uhr hämmert mittlerweile. Das einzige Geräusch nebst dem Schnorcheln meiner lebensverlängernden Unterstützung. Tick tack. Wasserfolter. Das Schlagwort der Stunde. Akustische Tropfen. Nicht einmal der Wahnsinn bleibt mir als Zuflucht. Ich bin verloren. Ausgeliefert auf Gedeih und Verderben. Ich weiss nicht einmal, wie lange ich schon hier liege. Ich verbringe den Rest der Nacht damit darüber nachzudenken, woran ich mehr Freude hätte. An einem Bier, oder an Sex. Normalerweise hätte ich in den Schlaf hinein darüber philosophiert, aber ich besitze keinen Schlaf mehr. Viel mehr besitzt der Schlaf mich und meine Realität ist mein Traum. Mein Albtraum.
 
Viel später bin ich immer noch da. Der Schatten sitzt vor mir und hält den abgetrennten Kopf eines Kindes in seinen Händen. Ich möchte schreien.
 
Alles flackert. Sterbe ich endlich? Zeit vergeht, aber die Zeit ist bedeutungslos in der andauernden Qual. Man weiss nie, was Schmerz war, aber immer, was Schmerz ist. Ich kann das Blut in mir rauschen hören, mein Herz schlagen. Was einst war, habe ich vergessen. Mir scheint, als läge ich schon ewig hier. Wo bleibt nur der Tod? Was täte ich nur um einen kleinen Hauch des Sterbens.
 
Ich weiss nicht, in welchem Wann ich mich befinde. Ich habe Sonya vergessen. Ich habe Yarno vergessen. Ich habe mich selbst vergessen. Ich bin nur noch Wahrnehmung und der Schatten ist meine Stimme geworden.
 
„Wach auf, Stephen“, sagt es mir.
 
Ich liege in einem Raum aus Holz. Er ist winzig und hat keine Türen. Ich habe keinen Körper, bin nur Bewusstsein und ich weiss, dass ich nicht allein bin. Ich kann es in meinem Rücken fühlen. Es kriecht in mich hinein. Ich will, dass es aufhört. Wie lange soll das noch so gehen? Ich kann es fühlen, seine Verzweiflung, seinen unmenschlichen, ewigen Hass und seine bodenlose, befangene Angst. Es ist der Teufel und er ist meinetwegen hier.
 
Ich fliege über einer neuen Welt. Sie blüht voller Pracht. Sie lebt. Sie ist Gigantisch. Ihre Anmut rührt mich zu Tränen aber ich werde verrückt, denn ich fühle ihre Krankheit, ihre leeren Versprechen. Von Unten auf glotzt es mich an. Ich kann es nicht sehen, aber ich kann hören, wie es frisst. Ich verliere den Verstand.
 
Ich sitze auf der Veranda und trinke ein Bier. Sonya ist auch da. Der Tag ist sonnig. Das Geschwür nagt an mir, unerkannt wandert es durch mein Blut, drauf und dran, mir den sonnigen Tag zu vermiesen. Ich gehe zum Kühlschrank und bevor ich ihn öffnen will, erreicht der kleine, abstossende Brocken geronnenen Blutes mein Gehirn. Eine nie da gewesene Explosion erschüttert die Realität. Ich stürze zu Boden. Sonya steht schreiend über mir. Ich höre Yarno telefonieren.
    Wenig später liege ich auf einer Trage in einem Fahrzeug der Sanität. Es bringt mich in meinen neuen Kerker, mein Verlies des Schweigens. Stille ist mein Mantel. Leid ist mein Name. Angst ist meine Frucht. Ich vergesse das Wann. Ich vergesse das Wo. Alles löst sich auf.
 
Endlos hallt ein Schrei durch einen Raum ohne Zeit. Ich weiss nicht, ob es der meine ist, oder ob es die Kinder der Königin der Spinnen sind. Ich möchte lachen und weinen.
 
Dann, endlich lässt es mich los.
 
Das Krankenhauszimmer ist noch immer da. Ich erinnere mich nur noch ansatzweise daran, was ich erlebt habe. War es ein Traum? Träumen Menschen am Rande des Nichts? Wenn schon… Wem könnte ich es noch erzählen? Ich bin gefesselt ans Bett. Vor mir sitzt der Dämon auf einem Thron aus Schädeln und Blut, lächelt mir zu, scheint sich an mir zu ergötzen. Aber ich fürchte ihn nicht mehr. Ich empfinde nicht mehr. Nicht das geringste. Da ist nur noch Leere im zeitlosen Raum. Leere und Wahrnehmung. Es tut mir so leid, dass ich meine kleine Familie verlassen habe. Mir bleibt nur noch die Bitterkeit und meine dunkle Gesellschaft. Der Raum um mich ist längst verblasst. Ich denke, dass ich einschlafe. Ein Trost.
 
Später wache ich auf. Ich möchte auf der Stelle sterben. Ich bin immer noch im Raum ohne Zeit. Die Frau, die ich geliebt habe ist anwesend. Die Frucht unserer Liebe ebenfalls. Ich höre ihre Stimmen. Sie beraten mit dem alten Arzt darüber, die Maschine abzuschalten. Ich weiss, dass die Frau, die ich geliebt habe, die Maschine nicht abschalten möchte. Mein Weg ist also noch nicht zu Ende.
 
„Wach auf, Stephen“, sagt der Schatten.
„Du bist immer noch hier?“ frage ich ihn.
„Ich werde immer hier sein. In deinem Hier“, antwortet der Schatten.
„Wird dir nie langweilig?“ frage ich den Schatten in Gedanken.
„Ich weiss nicht, was du meinst.“
Stille.
„Nun, ich denke nicht, dass ich der einzige bin, dem du die Ehre erweist, mein gespenstischer Freund“, sage ich ihm.
„Da könntest du recht haben“, bestätigt es beinahe menschlich.
Aber es ist nichts Menschliches. Es ist ein Dämon, ich weiss es. Und es ist nur deshalb hier, weil es mich kurz vor meinem Tod noch umlenken möchte.
„Du kannst gehen, mein gespenstischer Freund. Ich werde dir nicht folgen“, sage ich ihm.
„Ja?“
„Ja.“
Erneute Stille.
„Denkst du, du hast eine Wahl?“ fragt es mich und ich kann spüren, wie der Strom, der mich in seiner Gegenwart durchfliesst anfängt, zu schmerzen. Ich antworte ihm nicht. Ich beschliesse, es zu ignorieren.
„Denkst du, du hast eine Wahl?“ wiederholt es und der Strom schwillt weiter an.
„Wirst du wütend, gespenstischer Freund?“ frage ich es.
Ein unmenschliches Brüllen hüllt mich ein. Der Strom zerreisst jede Faser meines seins. Der Schmerz ist jenseits aller Schmerzen. Die Kälte kälter als die schwärze des Weltraums. Dennoch schweige ich. Ich erweise ihm nicht die Ehre, Angst zu zeigen. Gleichgültigkeit umfängt mich und sein niederschmetternder Zorn steigert sich ins unermessliche. Dann ist es plötzlich vorüber. Die Uhr tickt. Die Maschine keucht. Und nach Äonen im Raum ohne Zeit bin ich noch immer in meines Körpers Grab. Lebendig begraben in einer Welt ohne Liebe. Ich frage mich, was wahrscheinlicher ist; dass Gott uns angelogen hat, oder dass er uns einfach nur grenzenlos hasst? Meine Gedanken sind nirgends. Sie sind einfach nur existent.
 
Irgendwann. Irgendwo. Meine Wahrnehmung hat sich verändert. Der Raum hat sich aufgelöst und auch die Welt, die ich kannte. Mein Körper ebenfalls. Ich bin ich. Formlos, aber dennoch bewusst. Der Schatten ist nicht mehr aufgetaucht. Die Uhr tickt nicht mehr und die Maschine schnaubt nicht mehr. Ich höre nichts, sehe nichts, fühle nichts, schmecke und rieche nichts, spüre nichts. Aber ich bin noch da. Ich existiere noch. Die Leere ist einerseits tröstlich, andrerseits auch klaustrophobisch. Dennoch belastet sie mich nicht. Ich kann nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob ich noch lebe. Die Realität, wie ich sie kenne, hat sich aufgelöst, hat aufgehört, zu existieren. Ich bin absolut ich. Der pure Gedanke. Weder Vergangenheit noch Zukunft prägen mich. Ich bin die Gegenwart, der Augenblick. Zeit gibt es nicht mehr. Ich fände es faszinierend, könnte ich mich an den Gegenpol erinnern, doch ich kann das Zeitlose nicht messen, ohne die Erinnerung an die Zeit. Ich kann das Grenzenlose nicht begreifen, das im Kleinen wie auch im Grossen gleich ist. Meine Existenz hat alle Dimensionen und doch keine. Sieht so das ewige Leben aus? Nach einiger Zeit höre ich auf mir Fragen zu stellen. Die Worte hören auf zu existieren. Alles ist Ich. Ich bin Alles. Irgendwie friedlich.
 
Im selben Augenblick erbreche ich Wasser und dickflüssige Substanzen. Ärzte wuseln hektisch um mich herum. Maschinen fiepen und piepsen. Zwei kalte Platten berühren meinen Brustkorb. Kälte durchfährt meinen Körper, ehe sie einer Höllenglut der Hitze weicht. Schläuche stecken in meinem Hals. Die Ärzte um mich sprechen hektisch, schreien beinahe. Die Situation stört mich und steht in einem argen Kontrast zum Frieden, den ich gerade noch empfunden habe. Wieder durchfährt die Höllenglut meinen Brustkorb. Wie unter Krämpfen richte ich mich auf. Eine Herzmassage wird an mir durchgeführt. Langsam erinnere ich mich wieder. Sie reanimieren mich. Mir wird schwarz vor Augen und endlich, nach Unendlichkeiten, verliere ich mich in einer Ohnmacht.
 
Nach meiner Reanimation und Rettung erklärte man mir, dass ich einen Hirnschlag erlitten hätte. Ich sei notoperiert worden. Nach der Operation habe ich während annähernd einem Monat im Koma gelegen. Die Reanimation sei erst dann zum Zuge gekommen, als ich einen Herzstillstand erlitten hatte. Zu meiner Überraschung erzählte man mir, ich wäre zwischendurch öfters auch wach gewesen und hätte gesprochen, ehe ich wieder ins Koma zurückgefallen wäre. Ich hätte von einem Schatten erzählt und meine Frau angefleht, ein Kreuz neben das Krankenbett zu stellen. Ich erinnere mich an gar nichts davon. Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, wenn man vergisst. Ich habe dann die Erzählung unterbrochen. Dann endlich habe ich geschlafen.
 
Ich lebe mein Leben weiter. Die Erinnerung an die Ereignisse während meines Komas habe ich völlig vergessen. Manchmal jedoch, besonders während Winternächten, wenn der Schnee alle Geräusche nimmt, höre ich leise eine Stimme:
 
„Wach auf, Stephen.“
 
 
 
S.Rüesch, November 2006
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.11.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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