Ronny Meyer

kein erkennen

kein erkennen

< Wie wäre es denn mit einem Piercing? > Ich schüttelte heftig den Kopf. < Wieso nicht? Ist doch heute nichts besonderes mehr. >
Eben. Darum geht es mir doch. Ich will nicht wie die anderen sein. Ich will nicht die selben Sachen tragen, nicht die selbe Musik hören. Ich will auch gar nicht so aussehen wie alle diese Idioten, die nur stur der Mode hinterher laufen.
< Ich habe gehört, dass Glatze wieder groß im Kommen sei. > Wirklich? Dann lasse ich mir Dreadlocks machen. Oder Dauerwelle. Oder Minipli.
Dass sie es einfach nicht verstehen kann, will mir nicht in den Kopf.
Was muss ich noch machen, damit du endlich kapierst, dass ich mich so wohl fühle, frage ich erbost.
< Ich sehe es dir doch an. Du bist nicht glücklich mit dir. Vielleicht liegt es daran, dass du soviel abgenommen hast. Komm, lass uns einkaufen. Wir besorgen dir etwas in deiner neuen Größe. > Ich will verdammt nicht einkaufen. Ich will meine Sachen behalten. Ich will sie als Trophäe tragen, will einfach nur meine alten Sachen anziehen.
< Du kannst doch nicht ewig mit diesen ekligen Schlabber- Jeans rumlaufen. > Ich kann es versuchen.
Nervös schlürfe ich an meinem Kaffee. Warum kommt in letzter Zeit jeder zufällig an meinem Haus vorbei und meint, mich besuchen zu müssen? Habe ich eine Krankheit, von der ich nichts weiß? Habe ich eine Million im Lotto gewonnen?
< Ich sorge mich um dich. Du siehst so schlecht aus, seit sie dich verlassen hat. Wie war noch ihr Name? > Ich reagiere gar nicht mehr. Ich bin es leid, immer wieder sowohl ihren Namen als auch die Tatsache, dass ich mich von ihr getrennt habe, klarzustellen. Nennt sie wie ihr wollt. Nennt sie meinetwegen Carola, Annalena, Susanne, Juliane, Xena, nennt sie doch die Namenlose, so wie ich.
Es ist eigentlich schon lange her, doch sie alle bauschen es immer wieder zu so einem bedeutenden Ding auf:
Ich jobbe neben meinem Studium der Psychologie in einem Restaurant für alternatives Essen mitten in Berlin. Klingt besser als es ist. Haben Sie schon einmal Tintenfischarme mit Straußenleber gegessen? Ich kam glücklicherweise noch nie in den Genuss dieser kulinarischen Höhepunkte der menschlichen Geschichte, vielleicht schmeckt es ja ganz gut. Aber ich werde es garantiert nicht probieren.
Ich war gerade dabei eine Extra- Portion des hauseigenen Costa Brava- Salates (Fragen Sie ja nicht, was da alles drin ist.) zu servieren, als sie in das Geschäft gestürmt kam und von mir verlangte alles stehen und liegen zu lassen und mit ihr zu kommen. Hilfsbereit wie ich bin, machte ich mich auf, ihr zu helfen (ihr Auftreten veranlasste mich zu dem Gefühl, dass sie Hilfe bräuchte.) Wir rannten durch zahlreiche dunkle Nebengassen (kein Wunder dunkel, es war ja auch weit nach 11 abends.), bis sie plötzlich stehen blieb. Schon vorher wollte ich sie fragen, um was für einen Notfall es sich handele, doch sie lief zu schnell. Völlig außer Atem versuchte ich nun zu fragen, kam jedoch wieder nicht dazu: Sie drückte mich an die kalte Wand und küsste mich. Sie küsste mich so lange, bis ich sie weg drücken musste, weil ich keine Luft mehr bekam.
Daraus entwickelte sich eine Beziehung, die inklusive aller Höhen und Tiefen (bei den Tiefen wohnte sie zeitweilig bei Freunden) ganze vier Jahre gehalten hat.
Alles, was wir in dieser Zeit erlebt hatten, war so umfassend, dass es Stunden dauern würde, lediglich die Umrisse zu beschreiben. Alles in allem war es die Beziehung schlechthin.
Bis sie eines Abends nicht nach Hause kam. Sie rief nicht an, ließ mir keine Nachricht zukommen. Ich wusste nicht, ob sie vielleicht irgendwo tot unter einer Brücke lag oder in dem Bett eines Perversen.
Ich rief ihre Verwandten an, klapperte alle Freunde, die wir gemeinsam und sie allein hatten. Nach drei Tagen ohne ein Lebenszeichen gab ich sogar eine Vermisstenanzeige auf. Alles erfolglos.
Nach ganzen zwei Wochen rief sie bei mir an und sagte < Komm ins Alcatraz und bring Geld mit. > Dann legte sie auf. Völlig aufgelöst kam ich in der Bar an (Versuchen Sie mal um halb drei in der Berliner City ein Taxi zu finden, dass sie in eine solche Bar bringt.) und fand sie angetrunken an der Bar vor. Sie war der einzige Gast, selbst der Barkeeper schlief an einem Tisch.
Ehe ich mich setzen konnte, fing sie auch schon an, zu erzählen.
< Du fragst dich sicher, wo ich gewesen bin. Ich, mein Lieber. Es war Spanien. Oder Italien? Egal, da wo die schönen Männer waren, ich war am Meer, habe ... >
Sie redete noch eine ganze Stunde über Paolo, Michael, Frank, Paco, Stefan, Emanuel, Laurant, und tausend andere Kerle, schwärmte von einem Strand in Gottweißwo und einem Dorf zehn Kilometer westlich von Gottweißwo. Dann wurde es mir zuviel und ich unterbrach sie.
Was, verdammt, bildest du dir eigentlich ein? Denkst du ich bin dein Spielzeug, das brav zu Hause wartet, während du dich in anderen Betten rumtreibst? Ich habe mir ernste Sorgen gemacht und du vögelst dich durch ein halbes spanisches Dorf! Ich schrie so laut, dass der Barkeeper wieder aufwachte.
< Weißt du was? Du nervst mich! Was denkst du, warum ich abgehauen bin? Weil du mir die ganze Zeit nur Liebe entgegengebracht hast? Du warst doch nur mit deiner Praxis zusammen. Ich habe dich satt. Du bist ein Versager. Hier hast du deinen Hausschlüssel wieder. >
Sie fummelte an ihrem dicken Schlüsselbund rum, den sie aus ihrer winzigen Gucci- Tasche zog, brachte es aber nicht fertig, den Schlüssel abzutrennen und warf ihn mir statt dessen an die Stirn. Ich zog ihn zitternd vor Zorn von dem Bund, warf den Bund beim Rausgehen in den Müll und sagte nichts mehr.
Seit dem habe ich sie nicht mehr gesehen.

Und jetzt kommen alle zu mir und sagen, was für ein Biest sie war und das es doch besser so sei. Und dass ich mich verändert hatte.
Vielleicht will ich mich ja verändern. Vielleicht will ich mich verändern, weil ich nicht will, dass sie mich irgendwann auf der Straße erkennt, wenn ich ihr zufällig über den Weg laufe.
Auch wenn ich mir gewiss bin, dass ich sie nie wiedersehen werde, will ich nicht von ihr erkannt werden.
Ich will auch sie nicht erkennen.
.. kein Erkennen ...

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Ronny Meyer).
Der Beitrag wurde von Ronny Meyer auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.08.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Ronny Meyer als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Sonnenfinsternis: Im Hinterhof der Politik von Ulrich Pätzold



Ein Roman als Zeitgeschichte
Protagonist ist ein fiktiver Bundestagsabgeordneter, M genannt. Er setzt viel daran, politische Karriere zu machen, obgleich er nicht das Zeug zu einem großen Politiker hat. Ihn verfolgt eine schillernde Vergangenheit. Um mit obskuren und unzureichenden Informationen über seine Herkunft und Geburt ins Reine zu kommen, liefert er sich den Hilfestellungen einer Wahrsagerin aus ...

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Sonstige" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Ronny Meyer

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Mein Lieblingsplatz von Ronny Meyer (Zwischenmenschliches)
Omas Pflaumenkuchen von Heideli . (Sonstige)
Der Christbaum von Karl-Heinz Fricke (Wahre Geschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen