Ronny Meyer

Frei sein

„Denk nicht nach, wer du bist! Denk nach, was du bist!“
Ich schrecke hoch, bin wohl für ein paar Sekunden eingeschlafen. Nach einem kurzen Blick aus dem Fenster war mir aber klar, dass es mehr als ein paar Sekunden gewesen sein mussten: Die Landschaft hatte sich völlig verändert. Statt den flachen und mit Feldern übersäten Landschaften in Mecklenburg sehe ich nun die einsame, technische Öde der Stadt. Hamburg liegt nah...
Was war es noch gleich, was mich aus dem Schlaf gerissen hat? Ich kneife die Augen zusammen, um auch noch den letzten Rest Schlaf zu vertreiben, streiche mir leicht durch die Haare und bemerke die kalte, taube Stelle an meiner Stirn. Ich musste wohl mit dem Kopf am Fenster geschlafen haben.
Ich blicke mich um. Zwei schmusende Personen, vielleicht Mann und Frau, nicht notgedrungen, sitzen am anderen Ende des Zuabteils und liebkosen sich. Ungefähr in der Mitte des Waggons sitzt ein blondes, junges Mädchen, vielleicht siebzehn Jahre alt. Sie schläft, nein, sie hat die Augen geschlossen und wippt mit dem Kopf zum Takt ihrer Musik aus dem Walkman.
Was zum Henker hat mich aus dem Schlaf gerissen?
„Ihre Fahrkarte, bitte!“ Ohne den Blick vom Fenster zu lassen, krame ich in meiner Jackentasche.
„Den haben sie vorhin doch schon gesehen.“ Ich kann ihn nicht finden. Ich krame in meinem Rucksack. Wo ist der blöde Fahrschein.
„Lassen Sie mal! Ich glaube Ihnen. Ich kann ja meinen Kollegen von vorhin anrufen. Wollen Sie nach Hamburg?“
Ich zucke mit den Schultern. Es mag vielleicht abweisend oder unhöflich sein, doch ich weiß es wirklich nicht. Um den netten Mann nicht zu beleidigen, werfe ich gleich noch ein „Ich weiß es nicht. Wird ‘ne Fahrt ins Blaue.“ nach. In Gedanken füge ich noch ein „Hoffe ich“ hinzu.
Der ältere Mann verabschiedet sich, geht die Fahrscheine der Leute in den anderen Waggons kontrollieren.
„Denk nicht nach, wer du bist! Denk nach, was du bist!“
Wieder diese Stimme.
Sie kommt aus dem Hintergrund, hinter mir. Ich drehe mich um, obwohl ich weiß, dass hinter mir nichts mehr als eine kahle, braun- rote Holz- oder Plastikwand ist.
Sie verfolgen mich.
Ich höre sie immer wieder. Egal, wie weit ich fahre, egal, wohin ich gehe. Sie folgen mir.
Ich kann ihre Stimmen nicht mehr ertragen, kann die Hilfeschreie nicht mehr hören.
Sie rufen mir zu, ich solle ihnen helfen. Wie kann ich helfen, wenn sie mir nicht sagen, wie?
Die Tabletten helfen nicht. Die Stimmen werden nur leiser. Sie hören nicht auf, zu schreien.
Ich fange an, schneller zu atmen.
Jetzt wird mir klar, was ich machen kann.
Ich springe auf, laufe an dem Mädchen, an dem Pärchen vorbei, hin zur Tür.
Sie lässt sich nicht öffnen. Ich reiße dran, sie öffnet sich kein Stück.
Jemand ergreift von hinten meine Schulter und zieht mich zurück.
„Nein, lasst mich!“ Die Hand zerrt an mir.
„Lasst mich los!“ Ich fange an zu zittern
„Ich muss sie zum Schweigen bringen.“ Ich stürze.
Ich werde zu Boden gedrückt, man lässt mich nicht los.
Ich will frei sein.
Lasst mich los, ich will die Stimmen nicht mehr hören.
Ich will frei von den Stimmen sein.
Frei sein...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.08.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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