Florian Möller

Die Romeo-Passage

Diese Lichter. Jedesmal, wenn sie förmlich in meine Augen stechen, bekomme ich Angst. Weil mir die Vergangenheit bekannt ist. Und diese jungen Stimmen in den Fluren mit den Lichtern. Sie sind so laut und klingen so hell wie die der Engel, die Worte könnten aus dem Munde des Teufels kommen.
Die Stimmen sind so laut und klar, dennoch so weit entfernt von mir. Sie bahnen sich wahllos, ja ziellos ihren Weg durch die Trakte, wie in einem Labyrinth. Sie haben mich gefunden. Bin ich das Ziel? Wieso bin ich das Ziel? Die hellen Stimmen, wo meine eigene doch schon so verwelkt klingt.
Spielen nennen die Gruppenleiter es, nannten sie es damals schon bei meinen Töchtern. Eigentlich gleicht es militärischer Erziehung, männerfeindlicher Erziehung. Dabei ist der Kampf doch schon längst gewonnen. Der Kampf, den sie gegen sich selbst geführt hatten und den wir gewonnen haben.
Schande über Adam, Tod dem Jesus. Gottes größter Fehler war es, den Mann zu erschaffen. Man lernt aus Fehlern. Die Lehre des Mannes.
Jede kann es hier lesen. Überall. Seit ungefähr 53 Jahren. Niemand erinnert sich noch an damals, nur noch wenige haben die Zeit miterlebt. Alles davon scheint vergessen zu sein, nur noch eine Geschichte in den Büchern, die zu schlecht geschrieben ist, um erzählt werden zu wollen. Wie es mit schlechten Geschichten üblich ist. Der Mensch hört gern gute Geschichten. Aber gut ist nicht immer wahr. Ich nehme die wahre Geschichte mit ins Grab, so wie es scheint. Egal wie schlecht sie ist.
Der Trakt scheint mir so leer, nur einer unter vielen. Wie von Ameisen erschaffen. Der Boden spiegelt matt und grünlich die Neonröhren und mich unter ihnen wider. Die seitlichen Wände sind so weiß, daß man zu glauben beginnt, man könne hindurch sehen ins Nichts, so weiß. Obwohl der schmale Gang von Sekunde zu Sekunde erdrückender wirkt. Meine Schritte werden schneller. Das klackende Geräusch bleibt hinter mir und zieht sich wie eine Spur durch den Korridor. Meine Blicke schweifen von Wand zu Wand, vom Boden zur Decke. Hunderte Male bin ich durch diesen Gang geschritten und immer noch suche ich bei jedem weiteren Male die Abzweigung. Ich wünschte, irgendwann hätte ich mit einem großen Eimer Farbe die Wände verziert. Heute ist es zu spät dafür. Ich sehe den Trakt zum letzten Mal. Seinen Zweck hat er vollkommen erfüllt.
Es geht rechts ab. Durch das Fenster in der vor mir liegenden Tür scheint blaues Licht. So harmonisch für diesen Bereich. Fast schon beruhigend.
Etwas zieht an der Tür vorüber, wenige Sekunden später huscht es wieder zurück. Eine kurze Kopfdrehung, dann ein Summen von außen. Ich öffne die Tür und trete ein, das blaue Licht umhüllt mich, zieht mich in seinen beruhigenden Bann.
Eine Stimme dringt zu mir. Hier drin ist es so kalt, daß ich meinen eigenen Atem sehen kann.
«Die Tests sind so gut wie abgeschlossen.»
Ein junges Mädchen steht vor mir, so schön und klug wie ich es früher hatte immer sein wollen. Jetzt sind sie alle so. Mein alter Körper ist selbst ein Monument für alle anderen, wie die Schilder. Dabei habe ich mich immer wohl gefühlt, irgendwie. Sogar ein wenig Glück hatte ich gefunden. Ich war verliebt.
Die Erinnerungen an damals sind schon längst verblichen, gerade noch Erinnerungen an Erinnerungen, überhäuft vom Schatten der Revolution und des Krieges. Der Schatten, der die Vergangenheit verschleiert und sie aussehen läßt wie eine Fabel. Als Mann und Frau noch zusammenlebten. Als die Liebe noch nicht verloren war. War wirklich alles so schlecht gewesen?
Nachts, wenn ich in meinem Bett liege, fange ich an zu weinen. Denn wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie vor mir. Zwar verschwommen, doch ich erkenne sie wieder. Ich sitze in der Küche und sie kommen nach Hause, reden mit mir und umarmen mich. Ich hatte zwei Söhne und eine Tochter. Es ist schon so lang her, daß es eigentlich unwirklich wirkt. So lang. 53 Jahre. Wenn ich zurückschaue, verschwindet alles, alles Geschehene, in einem schwarzen Abgrund, zusammengezogen zu einem einzigen, verschwommenen Moment, der mir so matt erscheint wie der Boden, über den ich gehe.
Ein Mann hat einmal gesagt, Zeit sei relativ. Blicke ich zurück kommt es mir auch so vor. Zeit wird nicht in Jahren oder Sekunden gemessen, Zeit wird danach beurteilt, was in ihr geschehen ist. Und das ist sehr viel.
Doch wie für alle anderen ist auch für mich dieser Abschnitt abgeschlossen. Es wirkt auf mich wie ein völlig anderes Leben, geführt von einer völlig anderen Frau. Sämtliche damals empfundenen Gefühle erscheinen niemals erlebt worden zu sein. Doch abends, wenn ich meine Augen schließe und die Bilder zurückkehren, spüre ich ein tiefes Loch in meinem Herzen. Dort, wo ich sie damals gespürt habe. Und das bringt mich zum Weinen.
«Hören Sie mir überhaupt zu?» holt ihre Stimme mich zurück. Ich schrecke auf.
«Ja. Natürlich.» Meinen Kopf halte ich gesenkt, denn wenn ich sie anschauen müßte, so müßte ich neben dem bildhübschen Gesicht auch das Leid sehen, welches es gekostet hat, dieses bildhübsche Gesicht und diese wundervolle Welt. Wir sind so stolz auf sie. In ihrem Blick liegt diese neue Welt, mit einer vollkommen umgeschriebenen Geschichte. Blicke sind imstande, so Vieles zu sagen.
«Ein wenig melancholisch?» fragt sie.
Ich kann sie nicht verstehen. Eine der Wenigen, die zum Teil eingeweiht wurden, eine der noch Wenigeren, die in der Geschichte lesen durften, was früher passiert war. Und doch scheint es ihr absurd und egal zu sein. Als ob es erfunden ist. Dieses hübsche Gesicht.
«Weshalb melancholisch?» möchte ich von ihr wissen.
«Da es der letzte ist? Angeblich?» entgegnet sie mir. «Der letzte von Allen?»
Der letzte. Der letzte Mann, der zu uns gekommen ist, der die weite Reise angetreten hat. Freiwillig. Irgendwie liegt es doch in derer Natur, die Menschheit zu erhalten. Und irgendwie liegt es dennoch in derer Natur, die Menschheit zu vernichten.
Es war ein grausamer Krieg, den sie ausgefochten hatten, angekündigt gute zwanzig Jahre bevor er ausgebrochen war. Ihre Kultur hatte die Erde zu Grunde gerichtet. Ihre Wirtschaft hatte den Planeten ausgebeutet, wo sie doch selbst so von ihm abhängig war. Sie war schon zu alt gewesen, um sich noch zu ändern. War es ein Fehler oder Schicksal? Man braucht nicht zu fragen.
Die Rohstoffe waren knapp, selbst Wasser gab es nicht mehr im Überfluß, trinkbares Wasser meine ich. Die Männer der armen Länder hatten dies als Erste gespürt. Waffen wurden im Überschuß hergestellt und die Männer eines armen Landes griffen die Männer eines anderen armen Landes an, um die mickrigen, noch verbliebenen Quellen für sich ausnutzen zu können. Die reichen Länder besaßen noch ausreichend Quellen in den armen Ländern. Die Männer der armen Länder waren wohl intelligent genug zu wissen, daß sie gegen die Männer der reichen Länder keine Chance hatten. So war es der reichen Männer Aufgabe, sich als unparteiische Friedensstifter bei den armen Männern darzustellen. Bis auch ihre Quellen versiegten. Ab dann schmiedeten auch die reichen Männer en Masse Waffen, um neue Quellen für sich zu gewinnen. Wie ein Tier, das Hunger hat, fielen die reichen Männer in die Länder der armen ein, um ihnen die letzte ölige Nahrung zu nehmen, die es auf dieser Welt gab. Hundert Millionen von armen Männern starben.
Gerade diesen Krieg gegen die armen Männer gewonnen, begannen die reichen Männer sich in Parteien zu spalten, um einen neuen Krieg führen zu können. Dieser dauerte länger, viel länger. Immer mehr neue Männer wurden nachgeschickt in die armen Länder, welche als Schlachtfeld dienten und wo es schon längst keine armen Menschen mehr gab. Weder Männer noch Frauen.
Ölbohrtürme schienen aus heiligen Stätten hervorzuragen, über denen der Geruch des zivilisierten Lebens, ermöglicht durch das schwarze Gold, lag, überdeckt von der Fäulnis unzähliger Leichen alter, ausgedienter Soldaten, über welche die neuen Soldaten hinüberstiegen wie über Erde, aus deren Boden Munition keimt, die sie ernteten. Bis ebenfalls diese fielen um neue Saat zu sähen.
Kameras trauten sich nicht, dieses Spektakel zu filmen. Nur Funksprüche desinformierten die heile Welt über die Lage im Kriegsgebiet. Wenige Wochen später konnten selbst die tausend Kilometer Entfernung zu den armen Ländern nicht mehr verhindern, daß auch die heile Welt Angst überkam und den Tod sah, wie er ins heute sogenannte Tote Land flog. Jeden Abend konnte man die Raketen am Himmel über die scheinbar neutralen, friedvollen Städte ziehen sehen, wie sie sich ihren Weg bahnten. Wie ein Feuerwerk für die Gefallenen, denen man in jedem reichen Land versprach, sie nach dem Krieg gebührend zu ehren. Die reichen Frauen waren indessen beschäftigt, Grabsteine anzufertigen. Manche hatten den Zweifel, ob der Marmor ausreichen würde.
Amerika hatte nicht mit einem so langen Krieg gerechnet. Dabei war es damals doch ein so großes Land gewesen, jenes Amerika.
Südamerika unterlag der USA schon. Die Ölvorkommen dort aber waren lächerlich für ein so verschlingendes Land. Tausende von Schiffen und Flugzeugen brachen fast täglich auf, um Truppen und Versorgung nach Osteuropa und Asien zu schicken. England, die große Streitmacht zu Wasser, machte dem einen Strich durch die Rechnung. Sämtliche Schiffe wurden abgefangen und vernichtet. Die amerikanischen Flugzeuge, die, die durchkamen, konnten nicht einmal genügend Nahrung für die Soldaten liefern. Ein ausgestelltes Armutszeugnis.
So wurde aus den USA ein Land voller Zorn und Verzweiflung, das im Spiegel schon das Antlitz einer sterbenden Nation sah. Kanada wurde mit den restlichen Truppen eingenommen und zu Boden getreten. Rein aus Wut. Mehr Zivilisten als Soldaten ließen ihr Leben. Doch auch dieses Erdöl konnte den amerikanischen Durst nicht stillen.
Im Wissen, daß es mit den Ersten untergehen werde, begaben sich die nuklearen Raketen in die Luft. Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit. Hinunter gingen sie ziemlich überall im Toten Land. Zivilisten wie auch Soldaten in den USA wurden desinformiert, sämtliche amerikanischen Truppen hätten sich vor den Einschlägen zurückgezogen. Das Gerücht, die reichen Länder seien das nächste Ziel, war schnell von überall zu hören. Aus Selbstschutz wurde so gut wie niemand auf dem nordamerikanischen Kontinent am Leben gelassen und das Land ausnahmslos radioaktiv verseucht.
Und wo die Atombomben schon einmal scharf waren, stellte sich jedes noch übrig gebliebene, reiche Land auf sich allein und nahm die anderen reichen Länder ins Visier.
Meiner Meinung nach war es ein nur natürlicher Überlebenswille der Frauen, diesem Überlebenswillen der Männer etwas entgegenzustellen. Dadurch, daß Unsummen von Männern gestorben waren im Kampf, gab es mehr Frauen als Männer. Es war nicht schwer, einen Aufstand ins noch verbliebene Leben zu rufen. Italien begann als Erstes damit. Die Meldungen der Italienerinnen verbreitete sich rasant. Frauen in allen Ländern organisierten sich und nahmen Politik, Militär und Wirtschaft ein. Damals war es wie ein Traum für uns.
Nach einem halben Jahr besaßen wir diese brach liegende und erschöpfte Welt, die uns förmlich anflehte, sie zu retten. Der nächste Krieg brach aus. Die Männer griffen die Frauen an, selbst ihre eigenen. In diesem Kampf erstarb die Liebe. Ich kann mich noch erinnern, wie ich von zu Hause, vor meinem Ehemann und meinen Söhnen, mit meiner Tochter floh. Schon damals hatte ich mich gefragt, wie ich meinen Mann jemals hatte lieben können. Um alles in der Welt wollte er diese Frauenherrschaft verhindern. Als er mich schlug, wurde Liebe zu Haß.
Um meine Söhne trauerte ich noch eine Weile. Sie waren zu jung gewesen um in den Krieg zu gehen, doch schon zu alt um unschuldig zu sein.
So bildete sich eine Schar aus Frauen, die sich in ganzen Städtevierteln verschanzte. Alle Waffen wurden an uns genommen und die Waffenfabriken zerstört. Mit denen, die uns blieben, zogen freiwillige Frauen, ich gehörte zu ihnen, durch die Städte und befahlen den Männern, zu ihren Gleichgeschlechtlichen ins Tote Land zu ziehen. Zwei Tage später zogen wir erneut durch die Städte und erschossen jeden Mann, den wir noch fanden. Als mein Ehemann mit einem Messer bewaffnet vor uns stand, schloß ich die Augen.
Von den Italienerinnen hatten wir gehört, daß sie von einigen hundert Männern aus den Schlachtfeldern um Asyl gebeten worden waren. Als sie in Italien angekommen waren, waren ihre Knochen schon zu schwach zum Kämpfen. Jegliche Nahrung war verbraucht, jegliche Waffen zurückgelassen worden. Sie bettelten förmlich um etwas zu Essen. Zwei Monate hatten ihre Reisen gedauert, bis wir abschätzen konnten, wie viele Männer übriggeblieben waren. Wir schätzten auf 600 000. Die, welche den Weg geschafft hatten und nicht verseucht oder verreckt waren in irgendeiner zerbombten Stadt.
Die meisten von ihnen hatten sich an der Grenze Italiens versammelt, wenige waren auch noch in der Schweiz und Umgebung gesichtet worden.
Jeweils zwei Frauen aus den verbliebenen Ländern entsandten wir nach Italien mit der Aufgabe, die neue Welt zu repräsentieren, auf die wir schon zu dem Zeitpunkt so stolz waren. Zehn beliebige Männer wurden zusammengesucht um die männliche Seite zu vertreten. Zusammen sollten sie über die Zukunft entscheiden, über unsere Zukunft.
Fünf Tage später erhielten wir das Ergebnis und alle Überlebenden, Frau als auch Mann, stimmten diesem zu.
Italien wurde von den Frauen geräumt. Der dortige Boden war nicht verseucht und die Männer konnten Nahrung anbauen. Die Italienerinnen zogen in die anderen von Frauen regierten Länder. Erkannte Frau militärische oder sonstige Schritte gegen sich aus Richtung Mann, so wurden die restlichen Raketen gen Italien gefeuert. Unsere Repräsentantinnen kamen mit den Italienerinnen zu uns zurück und wir erschufen in nicht einmal ein Dutzend Ländern eine neue Welt. Ohne Männer. Der neue Garten Eden.
«Wollen Sie ihn sehen?» bietet sie mir an.
«Darf man es denn schon?»
Etwas an ihr verriet mir, daß ich ihr zu folgen hatte, als sie losschriet.
«Er steht noch unter Quarantäne, solange wir die Ergebnisse noch nicht haben. Aber ansehen könnten wir uns ihn doch, nicht?»
Links und rechts von mir war der Raum gefüllt mit Regalen, die wiederum gefüllt mit Kästen, Maschinen und Gläsern waren, an denen das blaue Licht zersplitterte und mit anderen Splittern kollidierte. Diese ganzen Gerätschaften waren mir fremd. Ich hatte sie nie angerührt, obwohl ich doch hier arbeite. Ich brauchte sie eben nicht. Die anderen taten das. Ich benutzte meine Augen, und meinen Verstand. So wurde ich schnell als Psychologin eingeteilt. Weil ich Frauen gut einschätzen kann. Hoffentlich auch ihn.
Sie hielt vor einer Tür, aus deren Fenster schwaches Licht schien. Es war ein richtiges Zimmer, was sich dahinter verbarg, mit Bett, Toilette, Stuhl und Tisch. Sogar ein Bild hing an der Wand. Es war eine alte Malerei, deren Farben schon verblichen waren. Man sah eine Frau und einen Mann, beide nackt unter einem Apfelbaum sitzend, und der Mann biß in einen Apfel. Schon in Eden fand das Leid den Anfang.
Dem Bild verdankt der Trakt seinen Namen. Der Eden-Trakt. Ich finde ihn abscheulich. Es klingt nach Gefängnis und nach Verwerfung. Ein Name, welcher selbst schon tausend Vorurteile schürt. Früher hatten wir hier die ersten neuen Mädchen großgezogen.
Ich hingegen nenne es die Romeo-Passage. Ein so schönes Buch. Mann und Frau im Tod vereint und im Leben für die Liebe gestorben. So passend für diesen Bereich. Schließlich ist es das Einzige, was uns noch an sie erinnert. Und nun bildet er den einzigen Kontakt zwischen Frau und Mann, der noch geblieben ist. Um die Menschheit zu erhalten. Um Kinder in die Welt zu setzen. Meiner Ansicht nach ebenso traurig wie das Buch.
Er schläft. Regungslos liegt er da, seinen Körper umhüllt und vor unseren Blicken geschützt durch die Decke, die durch ihre Wölbung erahnen läßt, wie sehr die Reise an seinem Leib gezehrt hat. Sein Haar ist lang und dunkel und verdeckt sein Gesicht. Er muß sehr erschöpft sein um hier so ruhig schlafen zu können. Wie von fremder Hand geführt wende ich mich diesem Bild ab um nicht zu stören.
«Was ist?» fragt sie mich.
«Er schläft», antworte ich ihr.
«Natürlich. Aber was ist ihr Eindruck?»
Ich beginne zurückzulaufen, um sie vom Fenster zu locken.
«Er ist sehr erschöpft. Wir sollten ihn in Ruhe lassen.»
«Wie in Ruhe lassen?»
Ich war wieder bei der ersten Tür. «Bis es ihm besser geht. Und bis wir die Ergebnisse haben.»
Leicht enttäuscht sah sie mir hinterher als ich sie verließ.
Morgen spreche ich mit ihm.

Beim Betreten der Zelle frage ich mich, wieso er wie ein Gefangener behandelt wird. Die Ergebnisse sind da. Was haben wir zu befürchten? Noch zu befürchten? Und doch habe ich selbst Angst in seiner Gegenwart. Es ist wie damals.
Vorsichtig nähere ich mich ihm. Er sitzt an dem Tisch mit dem Rücken zu mir. Ich setze mich. Sein Haar beschattet sein Gesicht, aus dem irgendwie befriedigt seine Augen stechen. Sie erzählen meinen, daß sie die gleichen Dinge gesehen haben. Seine Haut ist dunkel und faltig. Auf mich wirkt er krank, ausgezehrt.
Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich ihn begrüßen soll oder direkt frage, warum er hier ist. Insgeheim hoffe ich, er beginnt das Gespräch. Und so ist es:
«Ihr habt es also geschafft.»
«Was?» frage ich verdutzt.
«Wir haben es nicht geschafft.»
«Was geschafft?»
«Draußen habe ich Frauen gesehen. Sie waren höchstens dreißig.»
Mir wird klar, was er meinte, und ich erklärte es ihm: «Sieben Jahre später ist es uns gelungen, eine Frau mir der DNS einer anderen Frau zu befruchten.»
«Wir schafften es nicht», erzählt er mir regungslos.
«Wieso bist du hier?» frage ich. Seine Antwort zögert.
«Ich war der Jüngste von uns. Jetzt bin ich der Älteste. Wir konnten uns nicht vermehren. Nun sind alle anderen höchstwahrscheinlich tot. Als ich meine Reise antrat, waren noch drei am Leben, sie lagen im Sterben. Und sie baten mich, es wenigstens zu versuchen. Sie hatten mich gebeten, ich bin freiwillig hier. Den ganzen, weiten Weg.»
Ich war ein wenig geschockt.
«Um was gebeten?»
«Das Aussterben zu verhindern. Aber das habt ihr ja schon. So sterben wohl nur wir aus.»
«Wer ist wir?» wollte ich wissen.
«Wir Männer. Oder habt ihr sie irgendwo eingesperrt wie mich?»
Mir war bewußt, was er meinte. Nicht einmal darüber nachgedacht hatten wir, neue Männer großzuziehen, wozu? Wir waren so stolz auf das, was wir geschafft hatten. Ganz ohne sie.
«Nein. Es wurden nur Mädchen geboren.»
«Und die wissen nicht einmal, was Männer sind, nicht wahr?»
«Was man nicht kennt, kann man nicht vermissen. Sie kennen keine gebrochenen Herzen, keine Kriege und keine Unterdrückung. Keine Hexenverbrennung oder Vergewaltigungen. Und keine falsche Liebe.»
«Und die richtige Liebe?»
«Die bekommen sie von uns.»
Er fing an zu lachen.
«Wie könnt ihr euch nur so belügen. Damit schlagt ihr den gleichen Weg ein, den wir wählten. Der Weg, der wieder zurückführt. Wir sind verloren, ihr eingeschlossen. Die Erde ist bald allein.»
«Wie allein?»
«Mit mir werdet auch ihr sterben.»
Wie aus Reflex springe ich von meinem Stuhl auf und flüchte zur Tür. In meinem Kopf erscheinen die Bilder der alten Zeit, vom Krieg und von der Verwüstung. Die Männer waren schon immer unberechenbare Tiere gewesen, voller unlogischer und unmenschlicher Handlungen. Wollte der letzte von ihnen verbliebene uns irgendwie mit in sein Schicksal reißen? Hatte ich mich doch in ihm geirrt?
«Ich dachte, ihr Frauen wärt nicht mehr so schreckhaft und sensibel nach so einem geleisteten Werk», spricht er vollkommen ruhig, «Dabei habe ich euch doch gar nicht gedroht. Es ist Tatsache. Gottes Schicksal.»
Seine Worte wurden trauriger: «Ihr wißt ja gar nicht, wie sehr Mann und Frau sich brauchen.»
Dieser Satz zog mich zurück in seinen Bann, so setzte ich mich wieder. Und in der nächsten halben Stunde erzählte er mir die Geschichte des männlichen Volkes, des stetig älter gewordenen Volkes. Wie sie wieder und wieder versuchten, künstliche Eizellen herzustellen. Wie sie immer weiter forschten, um doch noch einen Weg zu finden, die männliche Art zu erhalten. Und wie sie sozusagen als ‹Nebenprodukt› herausfanden, daß die Natur es verbietet, nur ein Geschlecht leben zu lassen. Ganz konnte ich ihm nicht folgen, ich bin keine Ärztin, nur eine Psychologin. Und die sagte, er hatte nicht gelogen. Also holte ich eine Doktorin.
Seine Theorie wurde überprüft, Atemtests wurden durchgeführt. Und er behielt Recht. Ohne Männer können wir nicht überleben. Ein Kongreß wurde zusammengestellt, auf dem die Ärztin erklärte, jedes der beiden Geschlechter gäbe einen bestimmten Stoff über die Atemwege an die Natur ab, den das andere Geschlecht zum Überleben brauche, jedoch in sehr niedrigen Mengen. Eine Frau könne Milliarden von Männern versorgen. Und umgekehrt. Null Frauen können aber keinen einzigen Mann am Leben erhalten. Das Gleichgewicht der Natur. Eine Art Absicherung gegen die Technik.
Zwei Tage und zwei Nächte lang beriet der Kongreß über seine Situation. Auf keinen Fall wolle man zurückkehren zum alten Leben zwischen Mann und Frau. Niemals. Das Leid der Frauen war zu groß gewesen um es zu vergessen. Und da es so groß gewesen war, sei es ethisch vertretbar, es zu tun. Einen einzelnen Mann für Millionen von Frauen leiden zu lassen. Und so wurde er eingesperrt. Für sein Leben lang. Einer versorgt Millionen. Und die meisten erfuhren nie etwas darüber. Wie so oft. Wie damals. Und wenn er stirbt, züchten wir uns einen neuen. Die Technik haben wir. Und bei der Natur noch etwas gut.

Ende

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.08.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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