Lothar Krist

Altherrenkick

Altherren-Kick.
(Ein Beispiel für eine Geschichte, die in einer Schlagzeile der Lieblingszeitung von uns Ösis ihre erste Inspiration gefunden hat.)
 
Die Schlagzeile der Kronen Zeitung, Abendausgabe, Samstag, 3. Juni 2006, die auf der Bar liegt, schlägt mir wild entgegen. In ganz großen Buchstaben verlettert sich in dunklem Schwarz: „Todesfahrt im Schmugglerbus.“ Mein Dichter-Ich, der buji, schreit auf ganz laut: „Hey, Lothar, hau dich auf den Barhocker hin und schreib! Ich diktier dir ein Gedicht!“
 
Ich, Lothar, denk erst mal ganz cool: „Ach, buji, bitte, nicht so schnell! Ich bin ja noch gar nicht da. Ich muss mich doch erst einmal akklimatisieren!“ Ich kam gerade an, im Smaragd. Ich schaue mich daher erst einmal um. Noch keine engen Freunde da. Bekannte? Ein paar, aber auch keine „engen“. Ich nicke stumm.
 
In meinem Kopf da wurlt es herum. Die Buchstaben fliegen wie aufgescheuchte Fledermäuse in ihrer Geisterhöhle wild umher. Sie bekitzeln dabei das Nervengeflecht an meiner Schädeldecke. Ich bin süchtig nach diesem Zustand und genieße ihn daher.
 
Ich bin dicht. Hundert Gedanken rasen hin und her. Ich konzentriere mich. Ich mache, wie beim Computer schnell ein paar Dokumente zu. Dann geht es. Ich blicke endlich den Kellner an, der schon wartet, lächle ihn an, ordne noch schnell die richtigen Buchstaben aneinander und bestelle ein Vierterl Cola-Weiß. Es kommt ganz schnell. Mein ganzer Mund ist trocken. Ich denke nur noch an Trockenzeit und Wüste. Meine Zunge schaufelt den Sand am Gaumen hin und her. Ich träume die rettende Oase und rette mich in einen großen Schluck. Das Glas ist gleich zu Hälfte leer.
 
Mein Dichter-Ich, der buji, dieses so zart stinkende Füarzchen auf die Zustände in unserer Welt, zappelt unruhig in mir herum. Er will was tun, er will lästig sein und was diktieren. Ich ignoriere ihn und lass ihn wissen: „Du kannst mich mal! Ich möchte heute wieder einmal etwas Schönes schreiben. Die Geschichte von Gestern war schließlich traurig genug. Du weißt doch, mein lieber buji, nach so einer Geschichte braucht meine Seele Erholung! Dieser Menschenschmuggel interessiert mich heute nicht. Das will ich nicht einmal lesen.“ Er zieht den Kopf wissend ein, tut ein wenig schuldbewusst, mockt ein bisschen, zappelt aber weiter in mir herum und lässt mich dabei fühlen, dass jedenfalls nicht er die Schuld daran trägt, wenn uns eines Tages nichts mehr einfallen sollte. Dann meint er jedoch voll buckelnder Verbindlichkeit, wohl wissend, dass ohne mich nichts geht, dass es ihm eh völlig EU wäre, was wir schreiben würden, Hauptsache, es würde geschrieben werden. Na super, solche Leute „liebe“ ich.
 
„Hey, Lothar! Guck!“ Ich gucke. Ja, was steht denn da noch auf diesem Titelblatt: „Die Ösis ohne WM-Leiberl!“ Ich verstehe nicht gleich. So viel ich über den heutigen Fußball weiß: Diese Ösis fahren doch gar nicht zur WM! Oder doch? Habe ich da etwa gar etwas falsch mit gekriegt? Das interessiert mich! Was ist da gemeint? Diese Welt wird doch nicht etwa gar schon wieder einmal gemein zu uns so armen Ösis sein? Hat sie uns etwa gar schon wieder boykottiert? Hat etwa gar unser oberbraver EU-Gutmensch, dieser Vogi, der Voggenhuber, der Aufsichtsbehörde gegen Widerbetätigung im Nazi-Sein die natürlich strafrechtlich zu verfolgende Mitteilung gemacht, dass diese Ösi-Kicker allesamt keine linken Beine hätten?!
 
Also zutrauen würde ich diesem Schandmaul so eine Gemeinheit ja schon, aber ich kann es mir nicht recht vorstellen, denn wenn unsere Kicker zwei ordentliche rechte Haxen hätten, dann würden sie den Ball öfter treffen und ich wäre als Linzer noch immer ein stahlharter Fußball-Fan, wie damals, als der VÖEST-Stahl auf dem Grünen Rasen noch zaubern konnte, ehe er von einer schmierigen Saubande von bloß linksfüßigen Intellektuellen ins finanzielle Total-Desaster geführt worden ist.
 
Ich kann diese Intellektuellen von Heute ja nicht mehr ausstehen und die von Gestern schon gar nicht. Es gibt heute ja kaum noch Bereiche in unserem Leben, in dem sich nicht diese Gutmenschen einer jeden Art und Weise wichtig machen. Sie lullen uns mit ihrem Schönsprech-Gesülze ein. Dabei geht es ihnen in Wahrheit immer wieder nur um die Selbstbeweihräucherung und als Letztes dann natürlich um die Selbstbereicherung, also die Große Abzocke. Sie leben den so viel gepriesenen Individualismus aus und am Ende ist eine Gesellschaft wieder um eine geliebte Schönheit ärmer.
 
Diese im einäugigen Individualismus geschulten Intellektuellen von Heute machen alles kaputt, was sie anfassen. Sogar meine Liebe zum Fußball hat dieses Gesindel auf dem Gewissen. Ich war ja selber einmal mit Leib und Seele so ein Fußballer, wenn auch nur einer mit zwei linken Haxen. Aber ich hatte mein Herz am rechten Fleck, haha.
 
Nun ja, egal. Ich habe jedenfalls bis zu meinem vierundvierzigsten Lebensjahr Fußball gespielt. Doch dieses Jahr 2001 war dann extrem gemein zu mir, es wurde irgendwie zu meinem persönlichen World-Trade-Center. Dieses Jahr hat mich aus meinem bis dahin so bieder angepassten Bürgerleben hinaus gebombt.
 
Oh, wie habe ich doch dieses Fußballspielen geliebt. Bis zuletzt habe ich so eine Ledernudel mindestens zwei Mal pro Woche aus meiner ganzen Leidenschaft heraus hin und her genudelt, so als wäre sie mein einziges Ich. Und weil ich diese Nudel so sehr geliebt habe, hat sie mir wohl auch den Abschied leicht gemacht. Ich träume zwar immer noch manchmal nachts von so einem geilen, harten Krieg, ach ja, Kick, aber …. na ja, irgendwie habe ich es überwunden, was ich mir in den letzten Jahren davor kaum zugetraut hätte, schließlich habe ich immer geglaubt, ich könnte ewig Fußball spielen. Auf dem Fußballfeld als Fußballkrieger aufrecht sterben! Mann o Mann, ja, das ist immer mein schönster Traum gewesen.
 
Doch irgendwie wurde mir dann doch bewusst: damit wird es wohl nichts werden. Mein linkes Knie schwoll nach jedem Spiel immer dicker an und auch die rechte, schon vier Mal gebrochene große Zehe wollte nicht mehr so. Dort herrschte ein ganz, ganz böser Nervenstrang. Dort bohrte am nächsten Tag eine spitze Nadel herum, so dass ich kaum mehr auftreten konnte. Aber ich war so geil auf dieses Kicken, dass ich diesen immer geiler und geiler werdenden Schmerz nahezu ein halbes Jahrzehnt brav ausgehalten habe.
 
Dabei war ich ja nie ein besonders guter Kicker. Das Herum-Dribblen in einer Telefonzelle lag mir nie so sehr. Ich habe ja zwei ziemlich lange Haxen. Ich bin einen Meter zweiundneunzig lang. Und zwischen hundert und hundertzwölf Kilo brachte ich früher auch auf die Waage. Mit meinen nicht ganz neunzig Kilo von Heute bin ich da ja ein richtig zartes Bürschchen geworden. Aber ich hatte einmal so ganz nebenbei auch einen Dan in Karate, war somit gut austrainiert. Also, so einem in sich selbst verliebten Ballkünstler den Ball abnehmen, ehe er sich womöglich selbst „geschleppt“ hat, wenn auch oft ein wenig (zu) brutal, also, so etwas schaffte ich alle Mal. Und laufen konnte ich auch, und wie. Also raus die Brust, die body-building-gestylten Arme weit weg gestreckt, so dass jedem Verteidiger selbst die lang hinein gekretschten Beinderln zu kurz geworden sind, den Ball in ein Loch geschickt und ab die Post und durch, ab Richtung Tor und Flanke oder einfach Bummmmmm. Genau das war mein Ding.
 
Oder eben wie bei meinem letzten Spiel. Ein Baum im Strafraum und ich nicht ballverliebt. Nette Schnörkerl waren meine Sache nie. Schon in der vierten Minute zappelte der Ball ein wenig hilflos in einem Meer von Beinen herum. Der Boden im Strafraum war nicht gerade eben. Der Ball hüpfte wild herum und spielte: „Sucht mich, Fußerln, sucht!“ Ich pfiff wieder einmal auf jede Ästhetik und haute einfach mit unansehlich geilem Spitz drauf. Tor! Und kurz darauf habe ich sogar einmal im Gewimmel abgenickt. Wieder Tor! Ich tanzte wild herum vor Glück. Wie geil! Ich habe einfach abgenickt, dabei waren Kopfballtore nicht gerade meine Stärke, schließlich bin ich Brillen- bzw. Linsenträger. (Einmal ist mir bei einem Kopfball sogar eine Kontaktlinse verloren gegangen.) Es war wohl einfach Abschiedsglück!
 
Mann o Mann, ich hüpfte also vor Freude die Outlinie entlang und ließ mich abknutschen. Und was musste ich da hören? Ich fasste es nicht! Da schrie doch der Spielertrainer der gegnerischen Mannschaft von der Outlinie so wild und böse und so laut herein: „Hey, ihr Dodeln, jetzt deckts do endlich a moi den oiten Maunn!!!“ Er hat es dann noch ein paar Mal geschrieen.
 
Wow! Und noch einmal WoW! Wahnsinn! Meine vierundvierzig Jahre alte Brust fühlte sich überhaupt nicht beleidigt, ja, im Gegenteil. Sie schwoll an vor Stolz. Ich dachte: „Jetzt oder nie! Dies wird heute mein Bühnenabgang! So schön wird Fußball für mich nie wieder sein!“ Mir taten nämlich meine „scheiß Knie“ schon wieder weh, und dies schon nach noch nicht einmal dreißig Minuten. Aber egal. Ich hatte dann noch zwei gute Chancen in der ersten Halbzeit, und das, obwohl ich eigentlich nur noch blöd herum gestanden bin. Mit Vierundvierzig ist man schließlich kein flotter Dauerläufer mehr. So lange spielen eigentlich nur die echten Deppen. Doch das habe ich erst später begriffen. Ich bin deshalb heute ein halber Krüppel. Ich leide schwer daran. Knie, große rechte Zehe, Kreuz und Nacken, eh schon wissen. Mein ganzer Fortbewegungsapparat ist fußballdeppenhin.
 
Nun ja, die zweite Halbzeit begann. Da hat sich dieser vorlaute Herr Spielertrainer, der auch schon fast so ein alter Depp war, wie ich, doch glatt selber als mein Herr Bewacher aufgestellt. Er sprintete sofort frisch und munter, wie er halt nach seinem Ersatzbankdrücken war, zu mir her und fauchte mich böse, so ururböse an, so als wäre ich der letzte noch lebende Kinderschänder auf diesem von diesen so sehr geschändeten Planeten: „Du machst ab jetzt keinen Stich mehr! Ab jetzt decke ICH dich.“
 
Ich beachtete ihn nicht und dachte: „Wow! Ich bin hundemüde. Ich kann eigentlich nicht mehr. Ich gehe sowieso in zehn, höchstens fünfzehn Minuten vom Feld. Und dann kommt unser alter Strafraumkiller dran, der einmal beim LASK gespielt hat und der selbst heute noch brandgefährlich ist, zumindest für eine halbe Stunde. Der Saufjogel hat sich ja schon als Fünfundzwanzig-Jähriger selbst ins Ersatzteillager hinein gesoffen, leider. Er hätte sonst wohl als Kicker weltberühmt werden können. Na ja, egal. Aber für eine halbe Stunde reicht seine Kettenraucherlunge noch alle Mal. Also, wenn ich dir schon kein Tor mehr mache, dann staubt mit Sicherheit unser Rotschädel noch eins ab, und du, du Möchtegern-Verhinderer schaust nach, haha.“
 
Ich lachte ganz zart in mich hinein und bewegte mich dabei nicht. Ich ging nicht mehr einen einzigen Schritt. Und wenn mich deshalb ein Kamerad anblickte, so in der Art von: „Beweg dich!“ da zwinkerte ich zurück und flüsterte unhörbar mit den Lippen: „Einen einzigen halbwegs guten Pass noch! Den Rest mach ich!“ Die Jungs kannten mich zum Glück schon lange, außerdem hatte ich meine Arbeit ja eigentlich schon erledigt, also zwinkerten sie zurück. Sie waren ja auch schon alle in einem gewissen Alter, halt noch nicht ganz so alt wie ich.
 
Echt, nichts auf der Welt ist so geil, wie so ein Altherren-Kick. Der Typ ging mir nicht mehr von der Seite. Er trabte kampflustig um mich herum. Ich stand nur da, minutenlang, auf einem Fleck. Ich drehte mich nur immer ganz leicht und beobachtete den Ball. Er beleidigte mich andauernd: „Na, alter Mann! Keine Puste mehr? Sind leicht die alten Knochen schon leicht eingerostet?“ Und so weiter und so fort.
 
Ich stand bloß auf meinem Fleck herum und rührte mich nicht. Die Augen am Ball, der irgendwo und so irgendwie so sinnlos durch die Gegend kugelte. Zweite Halbzeit. Dazu Altherren-Fußball. Also Vollprofis, die den Gegner, der noch jünger und agiler war, bis in die totale Bewegungslosigkeit hinein einlullen und dann urplötzlich, wie aus einem Nichts heraus, explodieren konnten. Und hinten drin in der Verteidigung standen ja unsere zwei Eisenfüße. Eine blecherne WM-Medaille und paar Goldene als Staatsmeister markierten unseren Vorstopper. Er hat sie sich mit einundzwanzig Jahren als Judoker im Schwergewicht verdient. Zu mehr hat es dann leider nicht mehr gereicht. Er war ja eine „wüde Sau“ als Biker. Er hat an einem herrlich schönen Sommersonnensonntag auf der Hochalpenstraße nach Bad Ischl seine Lieblings-S-Kurve wieder einmal eng und „blind“ genommen. Aus unserem Eis lutschen und dabei vielleicht einen feschen Hasen aufreißen, ist dann leider nichts mehr geworden. Er ist geradewegs in einen an Sonntagen so seltenen Lastwagen hinein gerauscht, bzw. hat er sich gerade noch irgendwie an der Seitenwand entlang knutschend und vorbei geschmuggelt. Ix Knochenbrüche. Und nach dem LKW kam dann König Asphalt. Wer Motorrad fährt, der hat eine Ahnung von dem, was ich meine. Seine Lederkluft hängt heute zur allgemeinen Erinnerung an die schönen alten Zeiten in Fetzen in seinem Partykeller angenagelt an der Wand. Teilweise hat er dann schon mit den nackten Knochen gebremst. Haut und Fleisch hat er in schön leuchtendem Rot schön blutig auf der Straße aufgeteilt. Brrrrhhh, mir war dann allein vom Hinsehen schon schlecht, und dabei musste ich ihn dann auch noch stückchenweise vom Boden kratzen. Brrrhhh, ich kriege jedes Mal eine Gänsehaut, wenn ich daran denke.
 
Nun ja, EU. Aber zwei Jahre später war er beim Fußballspielen wieder eine Mauer, von der jeder Nationaltrainer träumt. Ja, und dann hatten wir ja auch noch als Libero eine Silberne Olympia-Medaille im Freistil-Ringen aus Athen dabei, eine Laufmaschine, die ohne Lunge ausgekommen ist, wie es mir oft geschienen hat. Auch an dem musste so eine gegnerische Stürmerhoffnung erst einmal vorbeikommen. Dazu muss man wissen: ich hatte ja ein irres Glück, ich durfte als Karateka meine letzten fünfzehn Jahre in der Hobby-Mannschaft eines Ringervereins mitspielen. Das war erste Sahne. Da war manch einer dabei, der hätte es auch als Fußballer ganz nach oben geschafft, wenn Fußball sein Hauptsport gewesen wäre. Sie waren alle beinhart, aber fair. Und wenn wir mit unserer besten Mannschaft angetreten sind, dann waren wir kaum zu besiegen. Einmal haben wir sogar die Kampfmannschaft eines Vereins der ersten Landesliga in einem Aufbauspiel völlig demoralisiert vom Feld geschickt. Acht zu zwei, und die zwei Tore haben wir ihnen auch erst in den letzten fünfzehn Minuten geschenkt. Manchmal denke ich: Wirklich schade um diese herrlich schöne Zeit.
 
Aber EU, egal. Ich habe dann jedenfalls den Ball vom Robert vorher gesehen. Meine neue, frische und noch so leicht bewegliche Bewachung wieselte frisch und hurtig um mich herum. Ich bewegte mich nicht. Er hasste mich mit seinen stechenden, so wasserblauen Augen an. Ich habe ihm bis dahin noch kein einziges Mal in die Augen geschaut. Ich dachte nur: Dir schieße ich noch ein Tor, du Arsch, mein letztes, und dann höre ich mit dem Kicken auf. Mir war endlich bewusst: ich bin zu alt dafür. Und ich wusste: morgen tut mir wieder einmal Alles weh.
 
Und da habe ich dann Robert aufschauen gesehen. Er suchte mich, schaute mir eine tausendstel Sekunde lang in die Augen. Da wusste ich: jetzt oder nie. Jetzt oder nie wieder!
 
Ich bewegte mich. Mein Bewacher hat den Ball nicht gesehen, er sah ja nur mich. Er hatte sich schon so gewöhnt an mich. Er hatte mich, diese so ausgelaugte Bewegungslosigkeit total in sich verinnerlicht. Er dachte wohl: der alte Mann ist hin.
 
Ich war schnell, fast so schnell, wie zu meinen besten Zeiten. Ich war schon gut zehn Schritte von ihm weg und schon fast am rechten Strafraumeck. Irgendwo weit links und leicht vor mir krebste noch ein Verteidiger herum, auch ein schon etwas älterer und müder Herr. Zweite Halbzeit, Altherren-Kick, also eh schon wissen. Ich wusste: ich bin nicht abseits. Da kam der Ball geflogen. Da wachte mein Bewacher endlich auf. Ich fühlte es in meinem Rücken. Ich lachte innerlich. Dann hörte ich, wie er schrie: „Hey, ihr Deppen, deckts den oiten Maunn!“
 
Da fiel mir schon der Ball direkt vor die Füße. Und siehe da, er sprang sogar so auf, wie er seiner Flugbahn entsprechend aufspringen musste. Dazu muss man wissen, dass wir auf einem richtigen Krautacker gespielt haben. Da kam es schon einmal vor, dass der Ball sogar wieder zurück gehüpft ist, wenn man Pech hatte. Doch dieser Ball, das wusste ich, es war schließlich mein letzter Kick, mein letzter Ball gehörte mir.
 
Oh Gott, war das geil. (Ich vermisse es heute oft so sehr. Manchmal träume ich davon.) Ein irre irres Gefühl schoss wie eine Warmflut durch meinen Körper. Ich spürte mich nicht mehr. (In diesen Augenblicken tat mir auch nie ein Knochen weh.) Dabei war ich jedoch eiskalt. Der Tormann kam mir entgegen. Ich wusste: du bist nicht die Nummer Eins der Welt, selbst in Ösiland gibt es tausende bessere wie dich. Ich kam gut zwei Meter vor ihm wieder an meinen vorgelegten Ball. Wahnsinn. Das war wie bester, geiler, geilster Sex. Ich sah ihm zwischen die Beine und deutete einen Schuss an. Doch: ein Zupferl nur, ganz leicht mit dem rechten Fuß nach links. Der Ball war brav, ganz brav. Mir ging fast Einer in die Hose ab, echt, kein Schmäh. Und hinter mir hörte ich ihn wieder schreien: „Hey, so deckts do den oiten Maunn!“
 
Geil! Ich war am Ball. Der Tormann stand nun gut vier Meter rechts von mir weg. Das nennt man „angewurzelt“. Und dann wurde es still. Nur der Verteidiger von links raste heran. Ich haute mit meinem schlechteren von meinen zwei linken Füßen ganz leicht auf den Ball. Der Ball flog gemütlich und mit genügend Tempo Richtung Tor. Und dann sprang ich schon hoch. Ich dachte noch: nur nicht stehen bleiben, sonst bist du tot. Da krachte auch schon der Verteidiger mit voller Wucht in mich rein. Er riss mich um. Aber es geschah nicht viel, weil ich ja nicht mehr gestanden bin und all meine Muskeln angespannt hatte. Gott sei Dank!
 
So endete mein letzter Kick. Mein Ersatz, unser Strafraumkiller, hat dann auch noch ein Tor gemacht. Wir siegten 4:0. Herr Judoka und die Herren Ringer um ihn herum haben dann hinten völlig dicht gemacht. An der Strafraumgrenze war meist Endstation.
 
Ich stehe an der Bar vom Smaragd, träume vor mich hin und schau ins Narrenkasterl tief hinein. Es ist, obwohl ein Samstag ist, noch immer nicht viel los im Lokal. Vor mir liegt die Abendausgabe der Kronen Zeitung. Ach ja, was wollte ich wissen? Ach ja: „Die Ösi-Kicker haben kein WM-Leiberl!“ Ich habe dann den Artikel gelesen. Da wurde mir unser Ösi-Problem gleich klar. Die vielen Ausländer, die sich in den österreichischen Ligen wichtig machen, hatten in ihren Nationalmannschaften bei der WM keine Chance. Auch die waren dort nur Ersatz.
 
Na, das hätte ich auch so gewusst. Jedes Kind in Österreich weiß das heute schon. Hier spielt doch nur die dritte Ausländergarnitur. Die stehlen doch unseren eigenen Kindern nur den Platz und den Spaß am Fußball. Und wo, bitte, wo sollen die heute das Fußballspielen lernen. Jede Wiese von Gestern ist doch schon längst verbaut. Unseren österreichischen Kindern bleibt doch nur der Kick im Fernsehen, am Wutzeltisch oder am Spiele-PC. Wenn die einmal in meinem Alter Kreuzweh haben, dann vom vielen Sitzen. Der gelebte Individualismus zweier Elterngenerationen hat unseren Kindern von Heute doch schon längst jede auch noch so minimale Chance auf Selbstverwirklichung auf einer Fußballwiese ohne die bestimmende Ordnung durch einen von Erwachsenen dominierten Verein gestohlen.
 
Ich stehe an der Bar und trinke. Und da wird mir auf einmal klar: Ich bin wohl der letzte deutsche Dichter, der seine Sehnsucht nach einem Altherren-Kick in Worte fasst. Und selbst diese Geschichte ist nicht gut. Sie ist viel zu sehr von den negativen Einflüssen ihrer Zeit geprägt. Ich kann halt nicht aus meiner Haut heraus. Ich lebe als Dichter meiner Zeit auf einem Pulverfass. Die Lunte brennt und weit und breit kein Mensch und Politiker schon gar nicht, der fähig wäre, sie zu löschen. Und dieses Gefühl prägt jede meiner Geschichten, selbst die, die nur „schön“ sein könnten. Dieses Gefühl der Zeitenwende krankt sich in jede meiner Zeilen ein. Ich kam halt zur falschen Zeit auf diese Welt. So ein Süßholz raspelnder Dichter im Zeitalter der Romantiker und der Biedermänner, ja, das wäre das Richtige für mich gewesen. Da hätten mich Millionen Frauen freiwillig gelesen.
 
Na ja, EU. Ich will nicht unzufrieden sein. Und wer kann Das schon wissen: Vielleicht werde ich ja nach meinem Tod ein wenig mehr gelesen? Hahahaha, und da kam dann endlich ein guter Freund, der Lois, ins Lokal herein, der hat mich zu meinem Glück vor meinem still dahin sudernden zweiten Ich, dem buji, diesem Furz von einem der ersten Internet-Dichter aller Zeiten von Morgen, gerettet.
 
© Copyright by Lothar Krist (02./03.06.2006 von 22.50 – 06.00 im Smaragd, Walters und Asphalt)
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.11.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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