Nadine Feil

Die Tragödie

Wie sehr hatte sie sich diesen Tag herbeigesehnt. Jahrelang hat sie darauf gewartet. Nun war er endlich da, der erwartete Tag - doch alles kam anders, als geplant. Viele Pläne wurden geschmiedet, Geld wurde gespart, alle Verwandten und Freunde waren eingeladen – und nun das! Traurig wischte Sybille sich ihre verschmierte Wimperntusche von den Wangen. Sie sah blass aus, müde und erschöpft. Ihre Augen waren dick angeschwollen, so sehr hatte sie geweint. Noch immer flossen die Tränen unaufhaltsam über ihr Gesicht und benässten ihre freien Schultern. Sybille hatte sich ein wunderschönes Kleid gekauft – extra für diesen Tag. Das lange Gewand erstreckte sich über den Fußboden ihres Badezimmers. An der Brust waren kunstvolle Stickereien angebracht, die mit silbernen Paletten bestückt waren. Die Taille war figurbetont zugeschnitten und zeichnete ihren schlanken Körper wunderbar ab. Sie sah prachtvoll aus in diesem Kleid. Es hatte sie ein Vermögen gekostet, aber das war ihr egal. Jahrelang hatte sie heimlich dafür gespart. Stefan hatte nichts davon bemerkt, dass sie monatlich einen Teil ihres Einkommens auf ihr heimliches Hochzeitskonto einzahlte, das sie extra für diesen großen Tag eingerichtet hatte. Dieser Tag sollte für sie unvergesslich bleiben, doch er wurde zum absoluten Albtraum. Sie stöhnte laut vor Erschöpfung auf und begutachtete ihre Haare, die wild durcheinander und zottelig lagen. Der Friseur hatte sich heute Morgen solch eine Mühe gegeben. Ihr schulterlanges, blondes, kräftiges Haar wurde auf große Kunststoffwickler aufgedreht und anschließend hochgesteckt. Die Haare am Oberkopf wurden vorher leicht antoupiert, um eine optisch größere Haarfülle zu erreichen. Strähne für Strähne wurde verarbeitet und gekonnt zu einer romantisch verspielten Brautfrisur zusammengesteckt. In die Haarkrone wurde der Schleier eingearbeitet. Die Frisur wirkte perfekt mit den einzelnen, heraushängenden gewellten Strähnen und dem locker hochgesteckten Zopf. Alles lief nach Plan.
Müde löste sie jede einzelne Spange aus ihren Haaren. Von der mühsam hochgesteckten Brautfrisur war nichts mehr zu erkennen. Ihre Haare waren zerzaust und nass. Auch ihr teures, neues Hochzeitskleid wies dunkle, schmierige Flecken auf. Ihre Augen hatten jeden Glanz verloren und schauten müde drein. Sie konnte kaum ihr eigenes Spiegelbild ertragen. Aber noch unerträglicher war das, was sie heute erfahren musste. Sie konnte es noch imnmer nicht glauben und füllte sich wie im Trance. Er war einfach nicht gekommen! Aufgeregt stand sie vorne in der Kirche und wartete bis die Musik einsetze und sie ihn überglücklich empfangen konnte – doch er kam nicht. Es sollte ihr großer Tag werden, Stefan und Sybille würden sich heute gegenseitig das Jawort geben – doch er kam nicht. Am Eingang der Kirche konnte sie ihren zukünftigen Stiefvater erkennen. Peter ging aufgeregt auf und ab und schaute dabei unablässig auf die Uhr. Er war schon seit vielen Jahren Pastor in dieser Gemeinde und ihm gehörte das Kirchengebäude- Er war stolz darauf, seinen Sohn heute trauen zu dürfen. Dies war ein großer und wichtiger Moment für ihn. Sein Junge war nun erwachsen. Noch heute würde Stefan mit seiner Braut in eine gemeinsame Wohnung ziehen. Bei diesem Gedanken fühlte Peter einen kleinen Stich im Herzen, denn sein Sohn war in der Gemeinde aufgewachsen. Sein Kinderzimmer war vom Gemeindesaal nur von einer Wand getrennt. Oft hörte er bei Abendveranstaltungen christliche Lobpreismusik. Als Kleinkind lag er oft in seinem Bett und lauschte interessiert den Klängen und Gesängen der .Anbetungslieder, die im Raum nebenan gespielt wurden. Wenn er diese wohltuenden Töne vernahm, konnte er immer beruhigt einschlafen und hatte keine Angst mehr vor bösen Träumen. Oft sah man ihn nachmittags mit seinem Bobby-Car in der Gemeinde herumfahren. Das machte ihm besonders viel Spaß.
Alle Augen waren zum Eingang der Kirche gerichtet. Die Uhr schlug zehn nach zwei. Stefan war schon zehn Minuten überfällig. Besorgnis schlug sich auf den Gesichtern der Anwesenden nieder und das Stimmenwirrwarr wurde nun immer lauter. Im Gemeindesaal machte sich eine Anspannung breit und allmählich rutschten die Gäste auf ihren Stühlen ungeduldig hin und her. Die Musiker am Mischpult waren bereit für ihren Einsatz. Sie sollten das Lied "Until I found you" beim Eingang des Bräutigams auflegen. Bei diesem Lied hatten Stefan und Sybille zum ersten Mal miteinander getanzt und es war um sie beide geschehen. Sybille bestand darauf, dass dieses Lied direkt am Anfang der Trauung gespielt werden sollte.
14.30 Uhr – Stefan war noch immer nicht da. Sybille setzte sich neben ihre Mutter, die mit ihrer Familie in der ersten Reihe saß. Sie versuchte Sybille zu trösten, doch auch sie war den Tränen nahe. Hatte er auf einmal Bedenken bekommen und es sich anders überlegt? Was war nur los, dass er nicht kommt? Sybille konnte es nicht fassen. Am Abend vor der Hochzeit saßen sie noch gemeinsam bei einem Abendessen zusammen. Stefan hatte sie mit einem Candlelight-Diner im örtlich gelegenem Restaurant überrascht. Tränen der Freude flossen beiden über die Wangen. Morgen würde der große Tag sein! Nach vierjähriger glücklicher Partnerschaft würden sie nun endlich ein Ehepaar werden.
Plötzlich lief Peters Bruder zielstrebig Richtung Ausgang der Kirche. Nach wenigen Sekunden kehrte Peter rennend zurück und verschwand in seiner Wohnung, von der man direkt in den Gemeindesaal gelangen konnte. Nun hörte es auch Sybille: Das Telefon klingelte! Wer konnte das nur sein und auch noch gerade jetzt. Werden wir nicht schon genug durch Stefans Unpünktlichkeit aufgehalten? dachte Sybille genervt. Die Stimmung im Raum wurde immer bedrückender. Hin und wieder hörte man, wie jemand ausgiebig in sein Taschentuch schneuzte. Es verstrichen 5 Minuten, aber Sybille kam es wie eine Ewigkeit vor. Peter kehrte mit besorgtem Gesicht zurück. Seine Wangen waren blass und er sah aus, als würde er jeden Moment umfallen. Er setze sich auf eine der beiden Stühle am Altar, die eigentlich für Stefan und Sybille bestimmt waren. Sein Atem war kurz und hastig, als hätte er gerade einen Marathonlauf hinter sich. Im Raum waren keine Geräusche zu hören, alle Laute verstummten innerhalb weniger Sekunden. Alles blickte auf Peter, der verkrampft auf seinem Stuhl saß und sich –immer noch hastig atmend - mit seinem linken Arm an der Lehne abstützte. Er holte tief Luft und begann zu sprechen. "Ich habe gerade einen Anruf bekommen ... Die Polizei war am Apparat", seine Stimme zitterte als er weitersprach, "sie sagten, Stefan sei auf dem Weg zur Trauung tödlich verunglückt. Ein LKW-Fahrer hatte die Ampel-Rotphase an der Sternfelder-Straße mißachtet und ist frontal mit Stefans Auto zusammengestoßen..."
"Nein! Nein, das darf nicht wahr sein. Das ist alles nur ein böser Traum ... Nein!" Sybilles ohrenbetäubender Schrei hallte im Gemeindesaal wider. Sie hechtete aus der Kirche. Draußen regenete es in Strömen, aber das nahm sie nicht mehr wahr. So schnell sie konnte lief sie die verlassenen Straßen entlang. Es waren noch gut 4 Kilometer zur Sternfelder Straße, dem Ort, an dem Stefan ums Leben kam. Völlig durchnäßt und fertig kam sie dort an. Stefan lag bereits im Krankenwagen, eingehüllt in einem schwarzen Leichen-Plastiksack mit einem Reißverschluss verschlossen. Eine riesige Menschenmenge stand dort. Sybille bahnte sich einen Weg durch die Masse. Dort stand sie nun mit ihrer ruinierten Brautfrisur und dem schwarzweiß befleckten Hochzeitskleid. Alle Hilfe kam für Stefan zu spät. Nur zehn Minuten nach dem schrecklichen Zusammenstoß erlag er seinen schweren Verletzungen. Durch die Wucht des Aufpralls wurde er aus seinem Wagen geschleudert. Er flog 10 Meter durch die Luft und schlug mit dem Hinterkopf auf dem Straßenbeton auf. Sybilles Hochzeitstag wurde zu einem Alptraum, den sie nie vergessen wird.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.11.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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