Jabl Williams

Zufall oder Schicksal? (1)



Sie
kam völlig erschöpft vom Sport nach Hause. Heute hatte sie es eindeutig
übertrieben, aber sie musste irgendwo den angestauten Stress herauslassen. Sie
packte ihre Sportsachen gleich aus der Tasche in die Waschmaschine. Sie musste
mal wieder Waschen. Nachdem sie ihre Kleider ausgezogen hatte, stieg sie in die
Dusche. Langsam beschlugen die Duschwände von dem heißen Wasser. Ihr ging alles
Mögliche durch den Kopf... die Schule, ihr nerviger Geschichtsvortrag, der noch
immer nicht fertig war, ihr Geburtstag, der seltsame Typ aus dem Chat, dessen
Launen eher an eine menstruierende Frau erinnerten als an einen Mann, ihre Oma,
die sie noch anrufen wollte und das Lied, was sie in letzter Zeit ständig
hörte.


Sie
stieg aus der Dusche und trocknete sich ab, als sie in den Spiegel blicken
wollte, konnte sie nur verschwommene Umrisse ihrer selbst erkennen. Seufzend
ging sie ins Schlafzimmer und zog sich frische Sachen an. Sie hatte Lust auf
Musik. Sie suchte ein paar Songs auf dem Notebook aus und ließ sie abspielen, dabei
öffnete sie ICQ. Der seltsame Typ war online. Kurz überlegte sie, ihm zu
schreiben, aber sie verwarf den Gedanken wieder und föhnte ihre Haare. Nun
hatte sie aber doch Lust mit ihm zu sprechen.


 

„hi“
„hallo“
„und,
was haste du heute noch vor?“
„ich
treffe mich gleich mit meinen kollegen beim italiener.“
„ach
so. na dann viel spaß!“


 

Mist,
sie wollte sich doch heute mit ihren Freunden beim Italiener treffen und ihren
Geburtstag nachfeiern! Hektisch schaute sie auf ihre Uhr. Es war bereits
Viertel vor Acht. Sie brauchte bis dorthin mindestens eine Stunde! Wann wollten
sie sich noch mal treffen? Sie suchte auf dem Schreibtisch in dem Zettelhaufen
nach dem richtigen Blatt.
 


Samstag,
25.11.06


21:00
Uhr – Essen im Italiener
 


„21
Uhr“, murmelte sie. Das wird aber knapp! Sie rannte ins Bad, zog einen
schwarzen Lidstrich um ihre tief dunkelbraunen Augen. Im Arbeitszimmer
durchsuchte sie eilig den Boden nach ihrem Handy, dem Autoschlüssel und ein
paar Sachen zum Anziehen, denn sie würde den ganzen Weg gewiss nicht
zurückfahren. Nicht heute Nacht. Anna würde schon einen Schlafplatz für sie
finden. Kurz nach 8 Uhr saß sie in ihrem Auto und fuhr los. Sie liebte die
Geschwindigkeit und außerdem war sie sehr in Eile. Würde sie es irgendwann
einmal schaffen, nicht eine Akademische Viertelstunde zu spät zu kommen? Sie
trat auf das Gaspedal. Die Landschaft zog an ihr vorbei. Es war bereits um 9
Uhr. Immerhin war sie schon in der Stadt angekommen, nur wo fand sie jetzt
diesen Italiener? Warum hatte sie nur so eine schlechte Ortkenntnis. Bestimmt
war sie wieder zu früh abgebogen. Sie fuhr zurück zur letzten Kreuzung.
Erleichtert seufzte sie als sie das Schild mit der Aufschrift „La Dolche Vita“
las. Sie blickte wieder auf ihre Uhr 21:15 Uhr. Schnell stieg sie aus dem Wagen
und betrat das Restaurant. Suchend sah sie sich um, als Andreas laut ihren
Namen rief: „Lea!“ Sie lächelte freundlich als sie ihn sah. „Wirst du jemals
pünktlich sein?“ – „Ich glaube nicht.“ Peinlich berührt sah sie zu Boden. Die
anderen Gäste schauten zu ihnen herüber. Bevor noch irgendetwas passierte,
setzte sie sich lieber. Anna fragte neugierig, ob sie sich wieder verfahren
habe, woraufhin Lea gestehen musste, dass sie wieder einmal zu früh abgebogen
war. Das passierte ihr jedes Mal.


Wie
viele Frauen doch Lea hießen, ging es ihm nach dem Ruf eines Mannes durch den
Kopf. Lea war zwar ein recht schöner Name, aber deshalb muss doch nicht
überall, wo er auftauchte, jemand so heißen. Vor allem müssten sie nicht alle
dieselben Eigenschaften haben – Unpünktlichkeit, schlechte Ortskenntnis. Er
schaute sich um, damit er Lea erblicken konnte. Gerne wollte er einmal ein Foto
von ihr sehen, doch direkt fragen wollte er nicht. Würde es sowieso welche im
Internet von ihr geben, hätte er nach dem Link gefragt, aber es gab nur eine
Zeichnung von ihr. Auf der sie zwar gut aussah, aber nach der man sie nicht
hätte erkennen können. Er wandte sich wieder seinem Kollegen zu, der gerade
über die Schulleitung herzog. „Die interessieren sich doch gar nicht dafür, ob
wir für dieselbe Arbeit weniger Geld bekommen! Und dann diese
Rechtfertigungen... alles Unsinn!“ Er hätte sie vorhin fragen sollen, was sie
heute Abend vorhat. Vermutlich ist sie Feiern gegangen, sie war letztes
Wochenende schon nicht unterwegs. Er trank einen Schluck aus seinem Weinglas.
Wieder widmete er sich den Ausführungen seines Kollegen. Er selbst war nicht
der Typ, der hinter dem Rücken anderer über sie redete. Er war ehrlich und
direkt. Meistens zumindest.


„Fotografiere
mich doch nicht ständig!“, empörte sich Andreas und hielt sich die Hände vor
das Gesicht. „Ach, komm schon! Ich muss doch meine neue Digicam testen!“,
verteidigte sich Lea. Er gab widerwillig nach und ließ sich ablichten.
Zufrieden wurden ihre Lippen von einem Lächeln umspielt. „Was ist das eigentlich
für eine?“, wollte er neugierig wissen. „Eine Canon Power Shot A 630”
– “Wow. Nicht schlecht. Du musst ja Geld
haben.”


Das
gab es doch nicht. Oder erinnerte er sich falsch? Nein, sie wollte sich doch
eine Canon Power Shot kaufen. Doch er konnte sich beim besten Willen nicht an
das Modell erinnern. Er verwarf seine Gedanken. „Entschuldigt mich bitte!“, er
stand auf und ging Richtung Toiletten.


„Ich
muss erst mal auf Toilette.“, erklärte sie und stand auf. „Wieso müssen Frauen
eigentlich ständig aufs Klo?!“, fragte Andy in die Runde. Sie ging die Treppen
hinunter und betrat den Waschraum.


Er
stand am Waschbecken und fuhr sich durch die Haare. Seit zwei Stunden war er
nun schon hier, dabei hatte er noch so viel zu tun. Er trocknete seine Hände
und öffnete noch immer in Gedanken die Tür.


Sie
sah in den Spiegel. Irgendwie sah sie heute seltsam aus, irgendwas war anders.
Vermutlich sah sie einfach nur k.o. aus und interpretierte es falsch. Sie nahm
ihre Tasche und ging zur Tür. Immer klingelte ihr Handy im ungünstigsten
Moment. Suchend öffnete sie die Tür bog nach links, um zur Treppe zu gelangen.
Unsanft wurde sie von jemandem gestoppt. Sie blickte auf, „Oh, entschuldigen
Sie bitte. Ich habe überhaupt nicht aufgepasst. Es tut mir leid. Haben Sie sich
weh getan?“


Von
dem Stoß aus den Gedanken gerissen, schaute er auf. Lea. Was hatte sie gerade
gesagt? Er konnte ihr so schnell gar nicht folgen, doch schließlich erwiderte
er ihr doch etwas: „Nein, es ist nicht so schlimm. Ich habe selbst nicht
richtig Acht gegeben.“ Sie lächelte und stieg die Treppe nach oben. Er folgte
ihr und ging wieder zu seinem Tisch. Jetzt waren sie bei den Kollegen
angekommen und diskutierten über die neusten Gerüchte. Nichts hasste er so
sehr, wie Gerüchte, die sowieso nicht stimmten. Er hätte die Chance eben nutzen
sollen, um sie zu fragen, ob sie die Lea ist, die er kannte. „Die Meier hat
schon wieder einen anderen.“, ertönte es von seiner Kollegin - „Ach ja.“,
erwiderte er abwesend. Vielleicht war es auch besser, dass er sie nicht gefragt
hatte. Immerhin kannte sie ihn vom Sehen ja nicht und ein Treffen hatten sie
auch noch nie in Betracht gezogen. Es gab auch nie einen Grund dazu. Warum
hatte sie vorhin eigentlich nicht erwähnt, dass sie den Italiener in seiner
Stadt besuchen wird. Entweder sie war es gar nicht oder sie wollte ihn nicht
sehen. Beide Gründe sprachen dafür, dass er das Richtige getan hatte und so
nahm er wieder aktiv am Gespräch teil.






Eigentlich
komisch, dachte sie. Da sitze ich nun in seiner Stadt im Italiener und er
vermutlich auch. Ob es hier viele Italiener gibt? „Anna? Wie viele Italiener
gibt es hier eigentlich?“ – „Ich kenne nur vier!“, antwortete sie. Also betrug
die Wahrscheinlichkeit 25 %, dass er hier war. Jetzt fing sie schon wieder mit
dieser sinnlosen Rechnerei an. Sie schaute sich um. Ihr Blick blieb bei dem
Mann hängen, den sie vorhin fast umgerannt hatte. Er schaute sich um, direkt in
ihre Richtung. Sie begann zu lächeln und er erwiderte es, dann wandte er sich
wieder seinen Tischnachbarn zu. Ob das seine Freunde waren?, fragte sie sich.
Sie wusste nicht einmal genau wie alt er war, noch wie er richtig hieß. Sie
erkannte, dass diese Suche doch ziemlich sinnlos war und schaute auf ihr Glas.


Ob
sie ihn erkannt hatte? Oder ob sie einfach nur genauso gelangweilt war wie er?
Vermutlich schaute sie ihn nur an, weil sie vorhin ineinander gelaufen
waren.  Er schaute auf die Uhr, es war
erst eine Stunde später als vorhin. Normalerweise wäre er gegangen, aber
stattdessen schaute er wieder zu Lea. Sie hatte ihren Kopf auf dem linken Arm
aufgestützt. Vermutlich saß sie im Unterricht manchmal genauso da, bei diesem
Gedanken grinste er. Im Prinzip hatte sie keine Chance ihn zu erkennen. Sie
kannte kein Foto von ihm. Wie sie wohl reagieren würde?  Vermutlich schreiend wegrennen. Sein Grinsen
wurde auf diese Vorstellung hin noch breiter. „Was belustigt dich so sehr,
Daniel?“ – „Ach nichts weiter.“ – „So, wollen wir langsam aufbrechen?“ Sie
bestellten die Rechnung.


Auch
das nachträgliche Geburtstagsessen wurde beendet. Anna und Lea waren wie immer
die letzten. Sie gingen zur Tür, Lea folgte Anna durch das Restaurant. Im
Vorbeigehen verabschiedete sie sich höflich von dem Mann, der am heutigen Abend
ihre Ungeschicktheit abgekommen hatte. „Tschüss.“ – „Tschau“, erwiderte er und
sah ihr nach.


Zusammen
mit seinen Kollegen verließ er das Lokal und machte sich mit ihnen auf den Weg
nach Hause, da sie ihre Autos vor seinem Haus geparkt hatten. Er schloss die
Haustür auf und ging die Treppe zu seiner Wohnung hinunter. Er öffnete die Tür
und zog seine Sachen aus. Er ging zu seinem Notebook und startete ICQ. Sie war
nicht online. Sprach das nun dafür, dass sie es wirklich war? Vermutlich war
sie heute Abend einfach nur bei sich unterwegs und er machte sich Gedanken um
gar nichts. Er klappte das Notebook zu und ging zu Bett. Er war nicht einfach.
Manchmal konnte er sogar richtig eklig sein, vor allem wenn er viel zu tun
hatte. Er wusste es, aber er bemerkte es, wenn überhaupt, dann erst viel
später. Sie hatte schon öfter den falschen Moment erwischt und es auch zu
spüren bekommen. Doch er konnte das einfach nicht abstellen. Ob sie es ihm
eigentlich jemals übel genommen hatte? Sie schien nie böse, wenn er mit ihr
sprach.


„Was ist eigentlich mit dir los? Du bist schon den ganzen Abend nicht
wirklich hier.“ – „Ach, ich bin nur etwas geschafft.“, antwortete Lea müde. Sie
zog sich ein T-Shirt über und legte sich ins Bett. Sie schloss die Augen und
sah den Tag noch einmal vor ihren Augen ablaufen... den Weg, den sie heute
gejoggt war, der Chat mit dem launischen Typen, mit dem sie sich aber doch
recht gut verstand, die Straßen, die sie hergefahren war und den Mann, den sie
im Italiener getroffen hatte. Sie schaute auf die Uhr. Fast 12 Uhr. Sie drehte
sich um und wollte schlafen. Sie hörte etwas Ticken. Es machte sie verrückt!
Sie hasste tickende Uhren, wenn sie schlafen wollte! Sie stand auf und suchte
nach dem Übeltäter. Sie hängte die Uhr ab und brachte sie ins andere Zimmer.
Dann legte sie sich wieder ins Bett. Er hätte es genauso gemacht, das wusste
sie.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.11.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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