Marek Heindorff

Der Fall Marie

Sie machte den großen Schritt nach vorn. Körperlich zumindest, denn gedanklich machte sie viele tausend Schritte zurück. Vor ihr stand ihr Vater, sie sah zu ihm hoch und wusste, er würde sie lieb haben. So lieb, wie sie es bei keinem der anderen Väter je gesehen hatte. So sehr ihr Vater sie auch liebte, sie hasste ihn. Und wer mit Hass lebt, braucht zum Überleben Liebe. Liebe kann so wehtun, dachte sie und die Erinnerung an ihre Mutter, die sie oft als großen Hoffnungsschimmer im Türspalt sah, bestätigten ihre Gedanken. Wie nur konnte sie diese Frau lieben, diese Frau, die es nie geschafft hat, die Tür zu öffnen. Nein, diese Frau hatte es jedesmal bei einem Spalt belassen und alles was sie je getan hatte, war einen Blick hindurchzuschicken. Ein Blick voller Trauer und Hass, geschwemmt mit Tränen. Ein Blick der sie dazu brachte, sie weiterhin zu lieben, wie man eine Mutter liebte. Ein Blick, der eben nur ein Blick blieb und somit ihr ganzes Leben zerstörte, dachte sie.
 
Den Lärm der Großstadt nahm sie nicht wahr, denn der Wind, der an ihren Ohren vorbeirauschte übertönte alles.
 
Begleitet von diesem Rauschen, huschten ihre Erinnerungen durch das „Haus Regenbogen“. Ein wunderbares Haus. So viel schöner, als jenes, in dem man sie alarmierend abgemagert und halb verblutet gefunden hatte. Nur das „Haus Regenbogen“ kann das Elternhaus ersetzen, dachte sie und auch in diesem Haus, wurden Kinder geliebt. Die Liebe ging nie soweit, wie die ihres Vaters, doch es fehlte nicht viel. Was aber fehlte war der Türspalt und der tränengeschwemmte Blick ihrer Mutter. 11 Jahre lebte sie am Ende des Regenbogens und es ist grausam, ihn ständig vor Augen zu haben, ihn aber nie betreten zu können, dachte sie.
 
Sie sah an die Wand und ihr Spiegelbild spielte mit ihr Verstecken. Kurz war es da, dann wieder fort, kurz wieder da, schon wieder fort.
 
Wie ihr Spiegelbild, blitzten Erinnerungen auf, in denen sie ihre erste große Liebe wiedersah. Wirklich ein liebenswürdiger Mann und als würde das Gerücht stimmen, dass Menschen unbewusst  einen Lebenspartner auswählen, der Merkmale der Eltern vorweist, so hatte ihrer viele Merkmale ihres Vaters vorzuweisen. Liebe kann so gewaltig sein, dachte sie. Doch im Gegensatz zu ihrem Vater, brauchte ihre große Liebe ein ordentliche Menge Alkohol, um seine Frau derart zu lieben. Nüchtern war er wirklich ein herzenguter Mensch, dachte sie.
 
Ein Blick nach unten veriet ihr, dass der menschengefüllte Platz größer und größer wurde.
 
Auch die Erinnerung an ihren Sohn wurde größer und größer, bis sie ihn durch einen Türspalt hindurch beobachtete. Er stand vor seinem Vater und sah zu ihm hoch. Er dachte, dass sein Vater ihn lieb hatte, doch sie wusste, es war nicht so. Wie ihre Mutter zuvor, schickte sie nichts als einen tränengeschwemmten Blick durch den Türspalt.
 
Sie warf noch einen Blick in die Kantine. Dann folgte schnell das unter der Kantine liegende Erdgeschoss. Sie schlug auf!

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