Maria Peters

Vergangenheit (9. Kapitel)

 
9. Geschichten aus der Vergangenheit
 
„Ich warte!“, sagte Aidan, als sie abermals vor der riesigen Tür im Untergeschoss der Organisation standen.
Sie nickte einverstanden, klopfte und trat schließlich ein.
„Cassie, meine Liebe.“, begrüßte der alte Mann sie, von dem sie nicht wusste, was sie von ihm halten sollte. „Ich hätte etwas früher mit dir gerechnet. Aber nun gut… jetzt bist du ja da!“
Er stand auf und kam zu ihr.
„Setz dich doch bitte. Ich muss etwas mit dir besprechen.“, begann er erneut und wies ihr einen Sessel zu, der vor dem Schreibtisch stand.
Er selbst ging durch den Raum. Cassie war leicht nervös, denn sie konnte ihn nicht sehen. Sie konnte lediglich lauschen, was er tat.
Sie hörte, wie er eine Schranktür öffnete. Etwas klimperte und raschelte und dann erneut Schritte, die nur zu bedeuten hatten, dass er wieder zu ihr kam.
„Das, meine Liebe, ist deine neue, alte Ausrüstung.“, sagte er schließlich und legte ihr einen schwarzen, langen Trenchcoat, wie auch Aidan ihn hatte, auf seinen Schreibtisch.
Danach stellte er ihr ein paar knielange Stiefel dazu, eine passende schwarze Hose, einen Gürtel mit Halterung und zu guter letzt hielt er ihr eine Waffe hin.
„Nimm sie. Es ist deine!“, forderte er sie auf, nachdem sie nur ungläubig auf dieses todbringende Teil starrte.
„Aber…“, begann sie zu stottern und hob die Hand, doch nehmen wollte sie die Waffe irgendwie nicht, auch wenn etwas anderes in ihr sie dazu förmlich trieb.
„Nun mach schon. Wir haben nicht ewig Zeit!“, machte der Mann nun weiter und kam mit der Waffe ein Stück näher. „Ich wette, wenn du sie erst einmal wieder in den Händen hältst, wirst du sie nicht mehr hergeben wollen.“
Und genau davor habe ich Angst, gestand sie sich ein und überwand letztlich ihre Angst.
Sie nahm die Waffe vorsichtig in die Hand und umklammerte ihren Griff. Mit langsamen Bewegungen musterte sie dieses kleine Ding, das in so kurzer Zeit einen Menschen töten konnte. Sie strich an der Mündung entlang, bis hin zum Abzug und wieder zurück.
„Ach, und was ich noch vergessen habe… dein Lieblingsspielzeug.“, fiel dem Boss schließlich ein und verschwand kurzerhand noch einmal in der Dunkelheit seines Zimmers.
Kurz darauf kam er auch schon wieder und legte zu den Sachen noch einen anderen, kleineren Gürtel, in dessen Halterung ein Messer steckte.
Sie sah erneut ungläubig zu ihm auf.
„Oh, ja… du guckst genau richtig… dein Lieblingsspielzeug. Und du hast es nicht gerade wenig benutzt.“, erzählte er ihr und zog es heraus.
In Erinnerungen schwelgend drehte er es in den Händen hin und her und bestaunte die noch immer scharfe und blanke Klinge.
„Es ist wunderschön.“, machte er leise weiter und reichte es ihr. „Du weißt nicht, woher du es hast, hab ich Recht?“
Cassie schüttelte den Kopf und bestaunte den Griff. Er war zwar nicht sonderlich verziert und dennoch hatte er etwas, was sie in ihren Bann zog.
„Alle fünf Jahre treffen wir ins in Amerika. Dort ist der Hauptsitz. Dort hat alles begonnen.“
„Ich weiß.“, unterbrach Cassie ihn und auch sie bestaunte nun die Klinge.
„Gut. Du warst gerade mal… hmm, lass mich überlegen… du musst ein gutes Jahr hier gewesen sein und hattest noch lange nicht den Ruf, den du heute hast. Ich wusste aber ganz genau, dass du Talent hast. Alles an dir zeigte mir das. Also beschloss ich, dich mitzunehmen.“
Nun blickte Cassie gespannt auf.
„Du musst wissen, dass man zu dieser Konferenz meist immer den Mann oder die Frau mitnimmt, die der Organisation in diesem Bezirk am meisten Ehre macht.“
„Also, sprich: Man nimmt den oder die Beste mit, richtig?“, fragte Cassie und der Mann nickte.
„Es hängt auch viel mit Vertrauen zusammen. Immerhin müssen wir eine lange Reise antreten und das wir keine Feinde haben ist schließlich auch gelogen. Es gibt immer welche, die vor einem Anschlag nicht zurückschrecken. Und würde mir oder einem anderen höherem Tier etwas passieren, dann wäre das fatal. Wir wurden schließlich über längerem Zeitraum geprüft, ausgesucht, unterrichtet, geschult… das ist ein langer Prozess. Ein Prozess, in dem auch das höchste Tier lernen muss, uns zu vertrauen. Denn, wenn er es nicht kann, ist die Chance, dass du zu einem Boss ernannt wirst, gleich null. Aber das führt jetzt zu weit!“
Er machte eine kurze Pause und ging um den Tisch herum. Leise setzte er sich in seinen Stuhl.
„Also nahm ich dich mit, um dir zu zeigen, wie viel Ausmaß wir wirklich haben. Erst wolltest du nicht. Du warst eben doch ein wenig anders, als die, die schon seit längerem hier arbeiten. Ständig musstest du dich von allen abheben. Und, meiner Meinung nach, hat das später auch zu deinem Erfolg geführt. Aber, nun gut… als wir in Washington ankamen, schienen alle, die dich gesehen haben, weniger beeindruckt. Immerhin warst du noch grün hinter den Ohren, auch wenn du alles getan hast, das zu verstecken.“
„Aber ich muss ja die Herausforderung gemeistert haben, denn sonst hätten die mich doch sicher gleich herausgeschmissen, oder?“, fragte Cassie nun dazwischen und der Boss lächelte.
„Oh, nein… du bist in ein Fettnäpfchen nach dem anderen getreten.“, gestand er und Cassie lief etwas rot an. „Es gab nichts, was du nicht ausgelassen hast. Du musst wissen, der höchste Chef aus Washington taucht nie auf. Wir haben ihn noch nie gesehen. Er gibt uns nur die Anweisungen und weist uns auf Probleme hin, die innerhalb der fünf Jahre aufgetaucht sind. Somit können wir darüber tagen und uns Lösungen ausdenken. Die werden ihm dann durch seinen Assistenten überbracht.“
„Seinem Assistenten?“, wiederholte Cassie etwas amüsant.
„Ja, er ist der gefährlichste und der meist begabte Mann, den diese Organisation je gesehen hat. Um dir einmal ein Bespiel zu bringen: Wenn du hier die Nummer 1 bist, dann hat diese Stellung bei weiten nicht seine Ranghöhe erreicht, auch wenn er als Nummer 1 bezeichnet wird. Er ist nun einmal der allerbeste der besten.“
Er schwieg kurz, dann fuhr er fort.
„Und mit diesem Mann hast du dich angelegt.“
Cassie sah geschockt aus und doch schien ihr das irgendwie bekannt vorzukommen.
„Mit anderen Worten: Du hast ihn gereizt, so dass er dich herausgefordert hat.“
„Und ich habe diese Herausforderung sicherlich angenommen, richtig?“, mischte sie sich ein.
„Oh, ja… das hast du und beinahe wärst du drauf gegangen. Hast du dich nie gefragt, warum du diese Narbe an deiner linken Bauchseite hast?“ Sie nickte. „Daher. Es war ein Duell auf Leben und Tod. Und der einzige Grund, warum er so gezielt hat, dass du keine inneren Verletzungen oder bleibenden Schäden davonträgst, ist, dass auch er dein Talent erkannt hat. Keiner hat nur annähernd zehn Minuten gegen ihn durchgehalten. Doch du hattest entweder nur Glück oder doch Talent, das dich gerettet hat. Ganze zwei Stunden hast du gegen ihn bestanden und warst damit eine der ersten.“
„Also hat er letztlich auf mich geschossen, um all dem ein Ende zu bereiten?“, wollte Cassie wissen  und dachte an ihre breite Narbe.
„Wer hat etwas von schießen gesagt? Er ist ein Mensch, der nur sehr ungern zur Waffe greift, obwohl er das im Ernstfall immer tun würde. Nur warst du nicht wirklich ein Ernstfall… Aus einer Reichweite von knappen dreißig Metern hat er dieses Messer auf dich geworfen und damit bist du letztendlich zu Boden gegangen.“
Er schwieg erneut und musterte ihre Gesichtzüge, die sich nur kaum veränderten. Sie sah lediglich auf das Messer, das sie noch immer in ihren Händen hielt.
„Aus dreißig Metern hat er mich so getroffen, dass ich keine bleibenden oder tödlichen Schäden hatte?“, wiederholte sie noch einmal überwältigt. „Das ist Wahnsinn.“
„Genauso hast du damals auch reagiert, als du im Krankenhaus aufgewacht bist.“, gestand der Boss und lehnte sich stolz zurück.
„Aber ich verstehe nicht, warum ich es dann habe, wenn es doch seins war? Hat er es sich nicht zurückgeholt?“, machte Cassie nun weiter und erneut blitzte etwas in seinen Augen auf.
„Oh doch. Als du ohnmächtig wurdest, hat er es aus dir herausgezogen, abgewischt und wieder eingesteckt.“, erklärte der Boss weiter. „Doch wenige Tage später geschah etwas, mit dem selbst ich nicht gerechnet hätte. Du lagst bereits im Krankenhaus…“
Er schwieg eine gute Minute, bis er erneut Luft holte und weitermachte.
Trainiere und irgendwann kämpfen wir noch einmal gegeneinander…! Das waren seine Worte. Und kurz bevor er ging, hat er dir sein Messer dagelassen. Ab diesem Tag an hast du trainiert und trainiert und wurdest immer mehr diejenige, die heute alle so schätzen.“
„Und, was wurde aus unserem Kampf? Hab ich gewonnen?“, fragte sie nun gespannt nach, doch der Boss schüttelte den Kopf.
„Kurz bevor das nächste Treffen war, hast du dich entschieden, auszusteigen. Du hast bis heute nicht gegen ihn gekämpft.“
Sie senkte ihren Kopf und blickte auf die Klinge, die in dem Licht der Schreibtischlampe leicht aufblitzte. Sie drehte das Messer und ließ es dann wieder in die Halterung gleiten.
„Also steht dieser Kampf noch aus, ja?“, hakte sie noch einmal nach und er nickte.
Plötzlich stand sie auf.
„Ich werde weiter trainieren, bis ich wieder die Form erreicht habe, mit der ich gegangen bin. Dann werde ich abermals gegen ihn antreten. Und dieses Mal lass ich mir keine Narbe verpassen!“, entschied sie sich schließlich.
Sie war mehr als nur entschlossen. Es war ein neues Ziel, das sie sich gesetzt hatte. Ein Ziel, das sie unter allen Umständen erreichen wollte.
Dankend nickte sie ihm zu, nahm sich ihre restlichen Sachen und wollte zur Tür gehen, als er sie aufhielt.
„All das war aber nicht der Grund, warum ich dich hierher bringen lassen hab.“, erklärte er und wies sie erneut an, sich zu setzen.
Cassie blickte ihn unverwandt an und bewegte sich fast wie in Trance zu ihrem Platz zurück.
„Ich möchte, dass du dir von Aidan helfen lässt.“, begann er nun sichtlich ernster.
„Wobei soll ich mir helfen lassen?“
„Dich zu erinnern.“
„Aber… ich habe mir doch das Serum schon spritzen lassen. Ich sehe Bilder. Was soll ich denn noch tun?“, fuhr sie ihn an und war fast drauf und dran sich zu erheben, doch er hielt sie mit einer einzigen Handbewegung davon ab.
„Das alles reicht nicht. Die Sache ist die… ich brauche dich schon bald. Und ich kann nicht warten, bis das Gegenmittel erst nach und nach seine Wirkung zeigt. Das könnte nämlich dazu führen, dass du einen Tod stirbst, der so nicht für dich vorgesehen ist, hast du verstanden?“
„Was soll ich denn ihrer Meinung nach noch tun?“, machte Cassie aufgebracht weiter. „Soll ich Aidan bei mir wohnen lassen? Soll ich seine Verhaltensweisen studieren, damit ich mich an meine eigenen wieder erinnern kann? Sollen wir ein Team bilden, damit er mir zeigt, was ich damals alles getan habe? Sollen wir uns so verhalten, wie wir es damals getan haben?“
Sie sah den Mann an, der ihr noch immer regungslos gegenüber saß. Sein Blick sagte ihr bereits, das, all das, was sie gesagt hatte, zutraf.
„Das ist nicht ihr Ernst.“, sagte sie nun ungläubig und stand auf.
Kurz bevor sie die Tür erreichte, hörte sie, wie der Boss sich erhob.
„Liegt es daran, dass du die Wahrheit und gleichzeitig die Vergangenheit nicht verkraften kannst?“, fragte er sie und brachte sie dazu, innezuhalten.
Sie wandte sich um und blickte ihn durch die Dunkelheit hin an.
„Ich kann die Wahrheit sehr wohl ertragen.“, log sie. „Und auch die Vergangenheit kann ich akzeptieren. Es ist nur…“
„Was?“, wollte der Mann wissen, als sie ins Schweigen verfiel.
„Ich habe Kinder und einen Mann.“
„Einen Mann, der dich nicht liebt. Oder sehe ich das falsch?“, mischte er sich weiter ein und brachte Cassie dadurch immer mehr auf die Palme.
„Woher wollen Sie das wissen?“, keifte sie ungehalten.
„Vor mir bleibt nichts verborgen. Das solltest du endlich kapieren. Nichts, was du tust.“, erklärte er ihr und ging verdächtig langsam um seinen Tisch herum.
„Also können Sie mir auch sagen, warum ich die Organisation verlassen habe, richtig?“, fragte Cassie nun fast bedrohend, doch erreichte damit nur ein zaghaftes Lächeln bei ihrem Gegenüber.
„Vielleicht kann ich es dir sagen…“, begann er ruhig. „Vielleicht aber auch nicht.“
Cassie schwieg.
„Wenn du es erfahren willst…“
Er machte eine Pause und kam ihr näher. Als er vor ihr hielt, griff er ihr so schnell an die Kehle, dass sie es noch nicht einmal kommen gesehen hatte. Ihre Sachen waren zu Boden gefallen und auch Aidan vernahm von draußen das Poltern und das dumpfe Geräusch, als ihr Rücken gegen die Tür schlug.
So gebrechlich und alt er auch aussah, er hatte so viel Kraft in seinen Armen, um Cassie wenige Zentimeter über dem Boden an die große Tür zu drücken.
„… dann hast du gefälligst zutun, was ich dir sage.“, vollendete er seinen Satz zischend. „Haben wir uns da verstanden? Ich dulde keine Leute, die sich mir widersetzen. Vor allem, in dieser Zeit, wo ich jede Hilfe gebrauchen kann!“
Cassie hörte ihm nur mit einem Ohr zu, denn sie war mehr damit beschäftigt, sich nicht erwürgen zu lassen.
„Ich hoffe, wir haben uns verstanden?“, startete er noch einen Versuch und Cassie nickte so gut, wie sie konnte.
Langsam ließ er sie runter, doch seine Hand ließ er an ihrer Kehle.
„Und, was gedenkst du nun zutun?“, fragte er sie probeweise.
„Ich werde zu Aidan gehen. Ich werde bei ihm wohnen, solange, bis ich meine sämtlichen Erinnerungen wieder habe.“, legte sie los und zum Glück zur Zufriedenheit des Bosses. „Ich werde mir alles zeigen lassen, was ich vergessen habe und nichts auslassen.“
„Und in einer Woche, wirst du wieder vor mir erscheinen. Bis dahin will ich dich nicht mehr sehen… es sei denn, ich rufe dich zu mir!“, fügte der alte noch hinzu und ließ sie schließlich los.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Maria Peters).
Der Beitrag wurde von Maria Peters auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.12.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

Bild von Maria Peters

  Maria Peters als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Philippo oder die Meise auf dem Blechschrank von Swen Oliver



In diesem Roman schildert der Autor authentische Erlebnisse über sexuellen Missbrauch und die Folgen davon. Schicksale, die unter die Haut gehen, werden begleitet von psychologischen Erläuterungen. Die Mechanismen, die durch sexuellen Missbrauch ausgelöst werden, befinden sich meist im Abseits der konventionellen Gesellschaft, an und jenseits der Grenze der Legalität.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Fantasy" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Maria Peters

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Vergangenheit (1. Kapitel) von Maria Peters (Fantasy)
Der schwarze Ritter von Bernd Mühlbacher (Fantasy)
Eine Lanze für drei Polen von Karl-Heinz Fricke (Autobiografisches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen