Karsten A. Kusterer

Sommertag

Das kleine Mädchen kniete auf dem Stuhl, der direkt am Fenster stand. Sie hatte dabei ihr Kinn in die geöffneten Hände gelegt und stütze sich über die Ellenbogen auf der Stuhllehne ab. Sie blickte durch das Fenster. Draußen war ein herrlicher, warmer Sommertag, mit einigen wenigen weißen Schönwetterwolken am Himmel. Ihr Blick glitt über die schmale Wohnstraße. Gegenüber stand eine Reihe von hübschen Wohnhäusern aus roten Ziegelsteinen mit gepflegten Vorgärten, in denen Sommerblumen mit leuchtenden Farben um die Aufmerksamkeit der Schmetterlinge warben. Ein leichter Windstoß bewegte die Äste und Blätter der Bäume. Der eigene Vorgarten war etwa drei Meter breit, mit einigen Blumenbeeten versehen, und wurde durch einen halbhohen Gartenzaun abgegrenzt. Der weiße Lack war teilweise abgeblättert. Hinter dem Gartenzaun befand sich der Bürgersteig.

 
Der Vater des Mädchens lag auf einem abgewetzten alten Ledersofa und laß dabei in dem elektronischen Informationsposter, das er in den Händen hielt. Ein alter Ledersessel befand sich ebenfalls in dem Wohnzimmer, seitlich versetzt zum Ledersofa. Ein an den Rändern ausgefranster Teppich lag auf dem gefliesten Boden. Ein Glas Wasser stand auf dem verkratzten Holztisch neben dem Sofa.
 
„Jenny! Hallo Jenny!“, rief das Mädchen plötzlich in freudiger Erregung. Der Vater blickte kurz von dem Informationsposter auf, laß dann aber wieder weiter. Der Stadtrat hatte eine weitere Dringlichkeitssitzung einberufen und bat um rege Teilnahme der Bürger in den Rathauskatakomben.

Draußen auf dem Bürgersteig näherte sich ein blondes Mädchen in einem rot-gelb-geblümten Kleid dem Wohnzimmerfenster. Es ging an der Hand seiner Mutter.

„Hallo Jenny!“, rief das Mädchen nun noch einmal etwas lauter durch das geschlossene Fenster. Jenny ließ die Hand ihrer Mutter los und lief zu dem weißen Gartenzaun. Sie rief zurück: „Hallo, hier bin ich! Hallo!“

„Wohin gehst Du, Jenny?“, wollte das Mädchen am Fenster wissen.

„Ich gehe mit meiner Mutter zum Einkaufen!“, antwortete Jenny.

„Wann kommt ihr wieder?“, fragte das Mädchen.

„Zum Mittagessen sind wir bestimmt wieder zurück.“, sagte Jenny.

„Hast Du heute Nachmittag Zeit? Kommst Du zu mir rüber zum Spielen?“

„Das geht leider nicht.“, antwortete Jenny, „Es ist Dienstag. Heute Nachmittag habe ich doch Ballettstunde.“

„Ach ja richtig.“, antwortete das Mädchen.

„Vielleicht kann ich ja morgen vorbeikommen.“, sagte Jenny.

„Ja, das wäre toll.“

 Jennys Mutter griff nun nach der Hand ihrer Tochter und begann sie vom Zaun wegzuziehen. „Wir müssen jetzt weiter“, rief Jenny. „Bis morgen!“

„Ja, bis Morgen. Auf Wiedersehen!“ Das Mädchen am Fenster winkte. Jenny winkte zurück und setzte mit ihrer Mutter den Weg fort. Sie verschwanden aus dem Blickfeld des Fensters. Das Mädchen hatte seinen Kopf nun wieder wie vorher aufgestützt und blickte weiter aus dem Fenster.
 
„Ha!“. Der Vater stieß ein kurzes verächtliches Lachen aus. Sein Blick ging durch das etwas spärlich eingerichtete Wohnzimmer. Als ob Jenny morgen hierher zu Besuch kommen würde, dachte er. Sie wird morgen nicht kommen und auch übermorgen nicht. Genau so wenig wie auch in der Vergangenheit. Sie verspricht es jeden Tag, und am nächsten Tag hat sie dann wieder eine andere Ausrede. Der Vater fragte sich, warum seine Tochter von dieser Jenny noch nicht die Nase voll hatte.
 
Das Mädchen hatte nun lange genug aus dem Fenster gesehen und kletterte von dem Stuhl herunter. Sie verließ das Wohnzimmer. Der Vater legte das Informationsposter auf den Tisch und erhob sich vom dem Ledersofa. Er nahm einen Schluck Wasser aus dem Glas und begab sich dann zum Fenster. Er stoppte die Sommertagsimulation seiner Tochter und startete statt dessen sein Lieblingsprogramm. Im Fenster erschien ein Ausblick auf einen weißen Sandstrand mit Palmen. Die Wellen des Ozeans bewegten sich auf den Strand zu, wo sie sanft ausliefen.

„Das ist schon viel besser!“, sagte er, während er sich mit einer Hand an der Bunkerwand neben dem Fenster abstützte. Am Meer ist es bei der Hitze sowieso viel angenehmer, dachte er. „Ha! Als ob ich jemals in meinem Leben wirklich am Meer gewesen wäre!“, sagte er und legte sich wieder auf das Sofa in seinem Wohnbunker.

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