„Ihr habt noch
zwanzig Minuten!“, Schulzes Gesicht nahm jetzt wieder einen entspannten Ausdruck
an und seine Füße standen mit einem Winkel von exakt 60 Grad auf dem Boden. Ein
kurzer Blick aus der Zeitung in die Runde genügte, um zu realisieren, was
unmittelbar in seinem Umfeld so abging.
Der kleine
Robert Korte steckte unbemerkt seinen Spicker weg. Unbemerkt für wen? Schulze
hatte das wohl sofort gesehen, hütete sich aber, einzugreifen. Er war die
endlosen Diskussionen mit seinen Schülern schlichtweg leid: ‚Lass sie doch
schummeln’, dachte er, ‚sollen sie doch später mal sehen, wie sie zurecht
kommen in ihrem Leben.’
Schulze nahm
jetzt einen großen Schluck aus der Tasse und verzog sein Gesicht. „Alles nur
kalter Kaffee“, brummelte er vor sich hin, und leckte sich mit der Zunge das
klebrige Zeug aus dem Bart. ‚Da schleift man fünfeinhalb Stunden so’nen blöden
Mathe LK durch die Klausur, und dann schmeckt die braune Brühe noch nicht mal.“
Pflichtbewusst
wie er war legte er die Zeitung weg, quälte sich aus seinem Stuhl und schlurfte
durch den Raum. Schleppenden Schrittes, so dass alle ihn rechtzeitig hörten und
entsprechende Vorsorgemaßnahmen treffen konnten, andererseits aber glaubten, er
wolle nur einmal kontrollieren, wie weit sein Kurs vorangekommen ist. ‚Korte,
Korte, Korte!’, dachte er, bei seinem Sorgenkind Nummer eins angekommen, ‚dich
kriegen wir auch noch durchs Abitur! Da kann ja mein Zahnarzt besser Wurzeln
ziehen.’
Der Gedanke
daran ließ ihn für einen kleinen Augenblick zusammenzucken. Zahnarzt! War es
erst eine Woche her, dass er mir diesen verdammten Zahn gezogen hat? Die Stelle
schmerzte immer noch, und in regelmäßigen Abständen pumpte Schulze eine
Schmerztablette in sich hinein, um wenigstens einmal in seinem Leben das Gefühl
eines schmerzfreien Moments auskosten zu können.
Wäre es nach
seiner Mutter gegangen, wäre er Arzt geworden. Psychiater. „Auch die werden
gebraucht, mein Kind!“, pflegte seine Frau Mama bei Diskussionen über sein
zukünftiges Berufsleben immer zu sagen. Aber ihr Sohn hatte keine Lust, in den
Seelen irgendwelcher Fremden rumzudoktern. Stattdessen entschied er sich dazu,
Lehrer zu werden, tauschte also seinen Platz neben der Couch mit dem Platz auf
der Couch.
Der Lehrerberuf
hatte schon so seine Vorzüge. Wenngleich auch die Klausurkorrektur nicht immer
so einfach war. Manchmal hatte Schulze auch einfach seinen Kaffee auf, weil er
in der vermeintlichen Korrektur keinen Sinn mehr sah: ‚Was geb ich mir
eigentlich immer die Mühe und berichtige alles, wenn es meine Schüler sowieso
nicht schnallen?’. Seine pädagogische Grundhaltung orientierte sich früher am
„Fördern durch Fordern“-Prinzip. Mittlerweile hatte sich Schulze auf das
Fördern beschränkt, und ließ seine Kollegen fordern.
Nach seinem
Studium der Physik und Mathematik bekam er einen Lehrerjob an der
Johann-Kelberg-Gesamtschule in Bielefeld. War zwar nicht ganz so seine
Traumschule, er wollte früher immer an ein Kleinstadtgymnasium, aber aus
Bequemlichkeit, und weil er eigentlich doch ganz zufrieden war, hielt er es
nicht für nötig, sich an einer anderen Schule zu bewerben.
„Noch eine
knappe Viertelstunde!“, ein lautes Stöhnen ging durch den sonst so stillen
Klassenraum. Während die ersten Schüler bereits ihre Hefte abgaben – die Frage,
ob denn alles noch mal nachgerechnet worden sei, verkniff sich Schulze -, wurde
der Großteil des Kurses hektisch und nervös. Die Schüler rutschten auf ihren
Stühlen hin und her und spielten frustriert mit ihren Zirkeln. ‚Sie haben es
bisher nicht gebacken gekriegt, und jetzt schieben sie Panik!’, dachte Schulze,
und das völlig zu Recht. ‚Dabei ist das doch alles kalter Kaffee, was wir hier
machen.’ Schulze dachte gerade an seinen Kollegen Meier, der ein absoluter
Kaffeehasser war. Den Ausdruck „kalter Kaffee“ verwendete Meier dementsprechend
auch nicht, er sprach immer vom „Schnee von gestern“. Auch sehr interessant,
aber gerade in den Ohren der Schüler sehr gefährlich. Besonders in Verbindung
mit „weißer Schnee“ – aber Moment? War Schnee nicht eigentlich immer weiß? Oder gab es auch bei diesem interessanten
Phänomen verschiedene farbliche Abstufungen? Doch was anderes sollte Meier auch
sagen? Gut, er war passionierter Teetrinker, aber den Ausdruck „kalter Tee“
hatte selbst Schulze noch nicht gehört. ‚Wäre ja auch irgendwie Quatsch’,
dachte er, ‚schließlich gibt es doch Eistee. Und der ist irgendwie wieder
cool.’
Schulze hatte
jetzt seinen ursprünglichen Platz an der Stirnseite des Raumes eingenommen und
schlug erneut die Zeitung auf. „Kaffeepreise schon wieder gestiegen“, vernahm
er dem Titel eines Artikels. Darunter das Sonderangebot eines örtlichen
Supermarktes, das einen Satz Kaffeefilter bewarb.
‚In der Physik’,
dachte Schulze, ‚arbeitet man auch mit Filtern. Nur nimmt man dort für
gewöhnlich keine Kaffeefilter. Wäre etwas strange, obwohl… gehen müsste das
doch auch.’ Während er so nachgrübelte, schien ihm sein gesamtes bisheriges
Leben mehr und mehr sinnlos vorzukommen. Er fühlte sich wie eine Spiegelung
seiner selbst. Sein Auftritt in der Klasse glich einer einzigen Farce.
Er schaute auf
die Uhr. In zehn Minuten war Pause, danach kam nur noch die sechste Stunde. Doch
die war für ihn heute uninteressant, hatte er doch freitags immer nach der
fünften frei. „Zehn Minuten noch, dann gebt Ihr bitte ab!“, oh, hatte er da
eben ‚bitte’ gesagt? Er ließ den Blick durch den Raum kreisen, dessen Decke in
einem undefinierbaren Braun gestrichen war. Altbau halt. Dabei hatte die Farbe
doch irgendwie etwas von… Kaffee? Oder meinte er gerade nur Schokolade und
hatte das Wort ‚Kaffee’ lediglich projiziert? Sein Durst auf das braune Getränk
wurde jetzt stärker denn je und seine Finger umschlossen fest den Griff der
Tasse, in der sich die kalte braune Brühe befand, die er sich zu Anfang der
Klausur aus dem Lehrerzimmer mitgebracht hatte.
Nach der Schule
ging Schulze gewöhnlich noch einen Kaffee trinken. Seine Devise lautete, jedes
Café in Bielefeld einmal auszuprobieren. Er hatte also ein volles Programm, das
bis zu seiner Pensionierung reichen dürfte, denn schließlich kamen jeden Tag
neue Cafés hinzu und altbewährte, zumindest alte, schlossen ihre Türen.
Einmal hatte er
sich das Miner’s ausgesucht, nicht zuletzt durch den starken Internetauftritt.
Die machten zurzeit einen Kurzgeschichtenwettbewerb und Schulze hätte eine
Menge dafür gegeben, einmal in seinem Leben an so etwas teilzunehmen.
‚Germanist müsste man sein.’, hatte er so manches Mal gedacht. ‚In einer Welt
fernab jeglicher Regeln leben, einfach wild drauflos interpretieren. Das wäre
etwas, womit man Geld verdienen könnte. Nicht dabei zuschauen, wie kleine Schüler
ihren Taschenrechner quälen.’ Im Internet, auf der Seite des Miner’s, hatte er
auch über diesen tollen Wortwitz gelacht, der im Prinzip keiner war, und den
wohl auch nicht alle als solchen verstanden. Ein Miner’s gab es nämlich auch in
Hagen, was nicht weiter komisch gewesen wäre, wenn es nicht Miner’s Hagen
geheißen hätte. Als gebürtiger Soester und damit bestens vertraut mit den
Ausläufern und niederen Tiefen des Sauerlandes, die kurz hinter der Haar, genauer
gesagt südlich davon, ihren Ursprung haben, hatte Schulze dieses vermeintliche
Wortspiel als eine originelle Werbekampagne für ein solches Café in
Meinerzhagen gehalten. Er wurde jedoch beim Blick auf den Stadtplan eines
Besseren belehrt.
„Fünf Minuten
noch, also findet ein Ende!“, jetzt gab auch der kleine Robert sein Heft ab.
Schulze beäugte seine Schrift mit einem kritischen Blick. „Was soll ich denn
damit?“, fragte er verwundert. „Kaffeesatz lesen?“. Die Schrift war wirklich
miserabel, und der Pädagoge Schulze hatte so seine eigene Idee. „Das dient
alles der Fehlervertuschung“, hatte er einmal seinen Kurs eingeweiht. „Wer
nicht ordentlich schreibt, hat Angst, etwas falsch zu machen und schreibt
deshalb undeutlich. Das gibt Abzüge von mir in der B-Note.“
Jetzt schaute er
wieder auf Kortes Heft, das ein Verwirrspiel aus Zahlen und Strichen
darstellte. An allen möglichen Stellen war etwas durchgestrichen, wieder neu
gerechnet, dann wieder durchgestrichen. Doch merkwürdigerweise schien der Junge
mit vier Blättern auszukommen, bei einer Leistungskursklausur, in der seine
Mitschüler sieben oder acht Blätter verwendeten.
„Die Zeit ist
um!“, Schulze stand auf und sammelte die restlichen Hefte ein. Nun aber nichts
wie raus hier, fünf Stunden Schülerschweiß können einen schon mal umbringen.
Halt! Vorher
natürlich noch schnell im Lehrerzimmer vorbei, den Kollegen einen mitleidigen
Blick zuwerfen, weil sie noch in die sechste Stunde müssen, und die
Arbeitshefte schön ordentlich in einem großen Stapel in den mitgebrachten
Baumwollbeutel (Schulzes Mutter sagte immer Jute dazu) legen.
Den Weg zum heutigen
Café fand Schulze relativ schnell, hatte er ihn sich doch erstens bereits auf
dem Umgebungsplan im Internet angeguckt, und lag es zweitens doch direkt um die
Ecke seiner derzeitigen – und wahrscheinlich auch einzigen – Wirkungsstätte.
Das Innenleben des Cafés versetzte Schulze in großes Staunen. Es war
freundlicher und heller eingerichtet als die meisten anderen Cafés, die er so
kannte, und die Bedienungen sahen alle wie frisch gebadet aus. Schulze gab
seine Bestellung auf und schaute sich genauer um. Er schien so ziemlich der
einzige Gast zu sein, was ihn allerdings nicht weiter störte. Aber die
tratschenden Omis vermisste er schon irgendwie. Dies änderte sich auch nicht,
als es mittlerweile auf das Ende der sechsten Stunde zuging, und die ersten
Schüler am Café entlang nach Hause gingen. Schulze warf einen Blick durch die
großen Glasscheiben und entdeckte ein bekanntes Gesicht im mittäglichen
Gedränge der Menschen.
Dann passierte
etwas, womit weder Schulze, noch irgendjemand anderes in diesem Café, gerechnet
hätte: Die Tür ging auf, und Kollege Meier kam hinein. Er erkannte Schulze,
begrüßte ihn mit einem Nicken und setzte sich ungefragt an seinen Tisch. „Na,
Sie haben Ihren Kaffee wohl schon auf, Herr Kollege!“, bemerkte Meier
süffisant, und Schulze kam nicht umhin, sich ein Lächeln zu verkneifen. ‚Humor
hat der Meier ja, das muss man ihm lassen.’ Dann erschien die frisch gebadete
Bedienung und Meier gab zu Schulzes großer Verwunderung seine Bestellung auf:
„Bringen Sie mir bitte einen kalten Kaffee! Der hat letztes Mal so gut
geschmeckt.“
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.12.2006.
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Tanz der Zauberfee
von Hartmut Pollack
Hier ist ein Buch geschrieben worden, welches versucht, Romantik in Worten zu malen. Gefühle in Worte zu fassen, die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fantasie zu überschreiten, ist immer wieder für den Poeten eine große Herausforderung. Zur Romantik gehört auch die Liebe, welche im zweiten Teil des Buches Platz findet. Liebe und Romantik sind und werden stets die treibenden Kräfte im menschlichen Leben sein. Hartmut Pollack legt ein neues poetisches Büchlein vor, das die große Bandbreite seiner lyrischen Schaffenskraft aufzeigt. Der Poet wohnt in der Nähe von Northeim in Südniedersachsen in der Ortschaft Echte am Harz. Die Ruhe der Landschaft hilft ihm beim Schreiben. Nach seinem beruflichen Leben genießt er die Zeit als lyrischer Poet. In kurzer Zeit hat er im Engelsdorfer Verlag schon vier Bände mit Gedichten veröffentlicht.
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