Lars Schmitt

Schulze hat den Kaffee auf

„Ihr habt noch zwanzig Minuten!“, Schulzes Gesicht nahm jetzt wieder einen entspannten Ausdruck an und seine Füße standen mit einem Winkel von exakt 60 Grad auf dem Boden. Ein kurzer Blick aus der Zeitung in die Runde genügte, um zu realisieren, was unmittelbar in seinem Umfeld so abging.

Der kleine Robert Korte steckte unbemerkt seinen Spicker weg. Unbemerkt für wen? Schulze hatte das wohl sofort gesehen, hütete sich aber, einzugreifen. Er war die endlosen Diskussionen mit seinen Schülern schlichtweg leid: ‚Lass sie doch schummeln’, dachte er, ‚sollen sie doch später mal sehen, wie sie zurecht kommen in ihrem Leben.’

Schulze nahm jetzt einen großen Schluck aus der Tasse und verzog sein Gesicht. „Alles nur kalter Kaffee“, brummelte er vor sich hin, und leckte sich mit der Zunge das klebrige Zeug aus dem Bart. ‚Da schleift man fünfeinhalb Stunden so’nen blöden Mathe LK durch die Klausur, und dann schmeckt die braune Brühe noch nicht mal.“

Pflichtbewusst wie er war legte er die Zeitung weg, quälte sich aus seinem Stuhl und schlurfte durch den Raum. Schleppenden Schrittes, so dass alle ihn rechtzeitig hörten und entsprechende Vorsorgemaßnahmen treffen konnten, andererseits aber glaubten, er wolle nur einmal kontrollieren, wie weit sein Kurs vorangekommen ist. ‚Korte, Korte, Korte!’, dachte er, bei seinem Sorgenkind Nummer eins angekommen, ‚dich kriegen wir auch noch durchs Abitur! Da kann ja mein Zahnarzt besser Wurzeln ziehen.’

Der Gedanke daran ließ ihn für einen kleinen Augenblick zusammenzucken. Zahnarzt! War es erst eine Woche her, dass er mir diesen verdammten Zahn gezogen hat? Die Stelle schmerzte immer noch, und in regelmäßigen Abständen pumpte Schulze eine Schmerztablette in sich hinein, um wenigstens einmal in seinem Leben das Gefühl eines schmerzfreien Moments auskosten zu können.

Wäre es nach seiner Mutter gegangen, wäre er Arzt geworden. Psychiater. „Auch die werden gebraucht, mein Kind!“, pflegte seine Frau Mama bei Diskussionen über sein zukünftiges Berufsleben immer zu sagen. Aber ihr Sohn hatte keine Lust, in den Seelen irgendwelcher Fremden rumzudoktern. Stattdessen entschied er sich dazu, Lehrer zu werden, tauschte also seinen Platz neben der Couch mit dem Platz auf der Couch.

Der Lehrerberuf hatte schon so seine Vorzüge. Wenngleich auch die Klausurkorrektur nicht immer so einfach war. Manchmal hatte Schulze auch einfach seinen Kaffee auf, weil er in der vermeintlichen Korrektur keinen Sinn mehr sah: ‚Was geb ich mir eigentlich immer die Mühe und berichtige alles, wenn es meine Schüler sowieso nicht schnallen?’. Seine pädagogische Grundhaltung orientierte sich früher am „Fördern durch Fordern“-Prinzip. Mittlerweile hatte sich Schulze auf das Fördern beschränkt, und ließ seine Kollegen fordern.

Nach seinem Studium der Physik und Mathematik bekam er einen Lehrerjob an der Johann-Kelberg-Gesamtschule in Bielefeld. War zwar nicht ganz so seine Traumschule, er wollte früher immer an ein Kleinstadtgymnasium, aber aus Bequemlichkeit, und weil er eigentlich doch ganz zufrieden war, hielt er es nicht für nötig, sich an einer anderen Schule zu bewerben.

„Noch eine knappe Viertelstunde!“, ein lautes Stöhnen ging durch den sonst so stillen Klassenraum. Während die ersten Schüler bereits ihre Hefte abgaben – die Frage, ob denn alles noch mal nachgerechnet worden sei, verkniff sich Schulze -, wurde der Großteil des Kurses hektisch und nervös. Die Schüler rutschten auf ihren Stühlen hin und her und spielten frustriert mit ihren Zirkeln. ‚Sie haben es bisher nicht gebacken gekriegt, und jetzt schieben sie Panik!’, dachte Schulze, und das völlig zu Recht. ‚Dabei ist das doch alles kalter Kaffee, was wir hier machen.’ Schulze dachte gerade an seinen Kollegen Meier, der ein absoluter Kaffeehasser war. Den Ausdruck „kalter Kaffee“ verwendete Meier dementsprechend auch nicht, er sprach immer vom „Schnee von gestern“. Auch sehr interessant, aber gerade in den Ohren der Schüler sehr gefährlich. Besonders in Verbindung mit „weißer Schnee“ – aber Moment? War Schnee nicht eigentlich immer weiß?  Oder gab es auch bei diesem interessanten Phänomen verschiedene farbliche Abstufungen? Doch was anderes sollte Meier auch sagen? Gut, er war passionierter Teetrinker, aber den Ausdruck „kalter Tee“ hatte selbst Schulze noch nicht gehört. ‚Wäre ja auch irgendwie Quatsch’, dachte er, ‚schließlich gibt es doch Eistee. Und der ist irgendwie wieder cool.’

Schulze hatte jetzt seinen ursprünglichen Platz an der Stirnseite des Raumes eingenommen und schlug erneut die Zeitung auf. „Kaffeepreise schon wieder gestiegen“, vernahm er dem Titel eines Artikels. Darunter das Sonderangebot eines örtlichen Supermarktes, das einen Satz Kaffeefilter bewarb.

‚In der Physik’, dachte Schulze, ‚arbeitet man auch mit Filtern. Nur nimmt man dort für gewöhnlich keine Kaffeefilter. Wäre etwas strange, obwohl… gehen müsste das doch auch.’ Während er so nachgrübelte, schien ihm sein gesamtes bisheriges Leben mehr und mehr sinnlos vorzukommen. Er fühlte sich wie eine Spiegelung seiner selbst. Sein Auftritt in der Klasse glich einer einzigen Farce.

Er schaute auf die Uhr. In zehn Minuten war Pause, danach kam nur noch die sechste Stunde. Doch die war für ihn heute uninteressant, hatte er doch freitags immer nach der fünften frei. „Zehn Minuten noch, dann gebt Ihr bitte ab!“, oh, hatte er da eben ‚bitte’ gesagt? Er ließ den Blick durch den Raum kreisen, dessen Decke in einem undefinierbaren Braun gestrichen war. Altbau halt. Dabei hatte die Farbe doch irgendwie etwas von… Kaffee? Oder meinte er gerade nur Schokolade und hatte das Wort ‚Kaffee’ lediglich projiziert? Sein Durst auf das braune Getränk wurde jetzt stärker denn je und seine Finger umschlossen fest den Griff der Tasse, in der sich die kalte braune Brühe befand, die er sich zu Anfang der Klausur aus dem Lehrerzimmer mitgebracht hatte.

Nach der Schule ging Schulze gewöhnlich noch einen Kaffee trinken. Seine Devise lautete, jedes Café in Bielefeld einmal auszuprobieren. Er hatte also ein volles Programm, das bis zu seiner Pensionierung reichen dürfte, denn schließlich kamen jeden Tag neue Cafés hinzu und altbewährte, zumindest alte, schlossen ihre Türen.

Einmal hatte er sich das Miner’s ausgesucht, nicht zuletzt durch den starken Internetauftritt. Die machten zurzeit einen Kurzgeschichtenwettbewerb und Schulze hätte eine Menge dafür gegeben, einmal in seinem Leben an so etwas teilzunehmen. ‚Germanist müsste man sein.’, hatte er so manches Mal gedacht. ‚In einer Welt fernab jeglicher Regeln leben, einfach wild drauflos interpretieren. Das wäre etwas, womit man Geld verdienen könnte. Nicht dabei zuschauen, wie kleine Schüler ihren Taschenrechner quälen.’ Im Internet, auf der Seite des Miner’s, hatte er auch über diesen tollen Wortwitz gelacht, der im Prinzip keiner war, und den wohl auch nicht alle als solchen verstanden. Ein Miner’s gab es nämlich auch in Hagen, was nicht weiter komisch gewesen wäre, wenn es nicht Miner’s Hagen geheißen hätte. Als gebürtiger Soester und damit bestens vertraut mit den Ausläufern und niederen Tiefen des Sauerlandes, die kurz hinter der Haar, genauer gesagt südlich davon, ihren Ursprung haben, hatte Schulze dieses vermeintliche Wortspiel als eine originelle Werbekampagne für ein solches Café in Meinerzhagen gehalten. Er wurde jedoch beim Blick auf den Stadtplan eines Besseren belehrt.

„Fünf Minuten noch, also findet ein Ende!“, jetzt gab auch der kleine Robert sein Heft ab. Schulze beäugte seine Schrift mit einem kritischen Blick. „Was soll ich denn damit?“, fragte er verwundert. „Kaffeesatz lesen?“. Die Schrift war wirklich miserabel, und der Pädagoge Schulze hatte so seine eigene Idee. „Das dient alles der Fehlervertuschung“, hatte er einmal seinen Kurs eingeweiht. „Wer nicht ordentlich schreibt, hat Angst, etwas falsch zu machen und schreibt deshalb undeutlich. Das gibt Abzüge von mir in der B-Note.“

Jetzt schaute er wieder auf Kortes Heft, das ein Verwirrspiel aus Zahlen und Strichen darstellte. An allen möglichen Stellen war etwas durchgestrichen, wieder neu gerechnet, dann wieder durchgestrichen. Doch merkwürdigerweise schien der Junge mit vier Blättern auszukommen, bei einer Leistungskursklausur, in der seine Mitschüler sieben oder acht Blätter verwendeten.

„Die Zeit ist um!“, Schulze stand auf und sammelte die restlichen Hefte ein. Nun aber nichts wie raus hier, fünf Stunden Schülerschweiß können einen schon mal umbringen.

Halt! Vorher natürlich noch schnell im Lehrerzimmer vorbei, den Kollegen einen mitleidigen Blick zuwerfen, weil sie noch in die sechste Stunde müssen, und die Arbeitshefte schön ordentlich in einem großen Stapel in den mitgebrachten Baumwollbeutel (Schulzes Mutter sagte immer Jute dazu) legen.

Den Weg zum heutigen Café fand Schulze relativ schnell, hatte er ihn sich doch erstens bereits auf dem Umgebungsplan im Internet angeguckt, und lag es zweitens doch direkt um die Ecke seiner derzeitigen – und wahrscheinlich auch einzigen – Wirkungsstätte. Das Innenleben des Cafés versetzte Schulze in großes Staunen. Es war freundlicher und heller eingerichtet als die meisten anderen Cafés, die er so kannte, und die Bedienungen sahen alle wie frisch gebadet aus. Schulze gab seine Bestellung auf und schaute sich genauer um. Er schien so ziemlich der einzige Gast zu sein, was ihn allerdings nicht weiter störte. Aber die tratschenden Omis vermisste er schon irgendwie. Dies änderte sich auch nicht, als es mittlerweile auf das Ende der sechsten Stunde zuging, und die ersten Schüler am Café entlang nach Hause gingen. Schulze warf einen Blick durch die großen Glasscheiben und entdeckte ein bekanntes Gesicht im mittäglichen Gedränge der Menschen.

Dann passierte etwas, womit weder Schulze, noch irgendjemand anderes in diesem Café, gerechnet hätte: Die Tür ging auf, und Kollege Meier kam hinein. Er erkannte Schulze, begrüßte ihn mit einem Nicken und setzte sich ungefragt an seinen Tisch. „Na, Sie haben Ihren Kaffee wohl schon auf, Herr Kollege!“, bemerkte Meier süffisant, und Schulze kam nicht umhin, sich ein Lächeln zu verkneifen. ‚Humor hat der Meier ja, das muss man ihm lassen.’ Dann erschien die frisch gebadete Bedienung und Meier gab zu Schulzes großer Verwunderung seine Bestellung auf: „Bringen Sie mir bitte einen kalten Kaffee! Der hat letztes Mal so gut geschmeckt.“

 

Anlässlich des Poetry Awards 2006 ist diese Kurzgeschicht entstanden. Hat aber nichts gebracht...Lars Schmitt, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.12.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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