Yvonne Habenicht

Die Ratte Gina

Während der Jahrzehnte, die sie hier wohnte, hätte Hermine Rabenstolz eine ganze Bibliothek mit ihren Kenntnissen all dessen, was das Straßenpflaster berührte, füllen können. Wenn sie in ihrem Zimmerchen saß, zogen an ihrem Fenster alle Arten menschlicher Füße vorüber: Stöckelschuhe, Stiefel, staubige Arbeitsschuhe, Turnschuhe, abgetragene Schuhe mit schiefen Absätzen, Hochglanzschuhe über denen sich Hosenbügelfalten streckten, zierliche, bunte Sandalen an schlanken, braunen Frauenbeinen, erste, zweite, dritte Kinderschuhe, aber auch jede Art von Hundebeinen, Räder von Kinderwagen, Tretrollern, Dreirädern, Zweirädern. In Gänze sah sie nur die Spatzen und die Tauben, von den Hunden vielleicht noch die Dackel. Ging sie nahe ans Fenster, sah sie natürlich mehr. Dann konnte sie zu den Leuten über den Füßen emporschauen. Hermine wohnte im allertiefsten Souterrain, den man sich denken konnte. Vor ihrem Fenster gab es einen kleinen, eingefassten Grünstreifen, der steil abfiel und sein Ende an ihrem Fensterbrett fand, auf dem sie im Sommer einen Kasten mit roten Geranien, im Winter Tannenzweige zu stehen hatte.
Hermine Rabenstolz, oder Oma Rabenstolz, wie manche im Hause sie nannten, hatte aber nur ein mitleidiges Lächeln, wenn jemand ihr antragen wollte, sie solle doch besser eine schöne, moderne Wohnung beziehen. Sie liebte ihr Heim über alles. Sie hing an jeder Erinnerung, die die zwei kleinen Zimmer für sie bewahrten. Sie liebte das Dämmerlicht dieser Wohnung, in der sie fast ständig ein kleines Lämpchen brennen hatte, denn es war weich und warm und schmerzte ihre alten Augen nicht. Sie fütterte des Morgens die Spatzen vor ihrem Fenster und freute sich an ihrem eifrigen Gezänk, und all die Füße deprimierten sie überhaupt nicht, sondern sie betrachtete sie und dachte sich ihren Teil über die Leute, zu denen sie gehörten.
Wenn sie abends zu Bett ging, nahm sie eine Illustrierte und legte sich eine Packung Kekse auf den Tisch, denn Kekse im Bett waren ihre unumstrittene Leidenschaft. Wie viele, alte Menschen, hatte Hermine einen leichten Schlaf. So erwachte sie auch von dem leisen Knarren irgendwo im Zimmer. Sie lag ganz still, um sicher zu gehen, dass es nicht das Bett war, das knarrte. Das Knarren und Schaben ging aber weiter, dann war es still und es folgte ein Geräusch, das sie nicht einordnen konnte. Sonderlich ängstlich war sie nicht. Vor was sollte man in ihrem Alter noch Angst haben? Schließlich meinte sie jedoch neben sich auf dem Tisch ein Rascheln zu vernehmen. Nun reicht’s, dachte Hermine, und drückte auf den Schalter der Lampe.
Die Ratte war überrascht, geblendet oder einfach nicht die schnellste ihrer Art. Jedenfalls duckte sie sich nur ein wenig und starrte Hermine über den Rand des Kekspapiers an. Für Sekunden verharrten sie so still, die Ratte und die Frau. Dann gab die Ratte so was, wie ein leises Fauchen von sich.
„Na, na“, flüsterte Hermine sanft. „Wer bist denn du?“
Die Ratte gab das Fauchen auf. Eigentlich hatte sie erwartet, eins übergebraten zu bekommen, wie es Ratten gewöhnlich von Menschen erwarten. Sie war sehr verwundert, freundlich angesprochen zu werden. Hermine machte nicht den kleinsten Versuch, sie zu verscheuchen. Das geheimnisvolle Geräusch war aufgeklärt. Warum sollte das kleine Tier nicht von den Keksen naschen. Hermine rührte sich nicht. Sie war gespannt, wie es weiter ging. Das Tier merkte, dass hier keine Gefahr drohte, und begann heftig an einem Keks zu zerren. Wenn man ihr schon nichts tat, so dachte die Ratte, dann konnte sie wenigstens noch einen dieser wunderbar duftenden Kekse mitnehmen. Dann huschte sie mit dem Keks davon. Hermine vermutete, unter den Schrank. Sie gähnte und löschte die Lampe. Die Anwesenheit einer Ratte, die nichts weiter tat, als die Kekse ebenso zu mögen, wie sie selbst, beunruhigte sie nicht im Geringsten.
Am kommenden Morgen wurde Hermine klar, dass das Tier noch in der Wohnung war, denn als sie ihr Frühstücksgeschirr ins Zimmer trug, und das Brot aus der Küche holen wollte, lag eine Scheibe auf dem Boden, und Hermine hätte schwören können, es sei etwas unter den Küchenschrank gehuscht.
„Du solltest wenigstens warten, bis Wurst auf dem Brot ist“, murmelte die alte Frau, „wenn du schon da bist, musst du auch kein trockenes Brot essen. Also komm wieder raus. Ts, ts, ts?“
Die Ratte hockte unschlüssig unter dem Küchenschrank. Hatte sie es nun hier wirklich mit einem seltenen Exemplar der Gattung Mensch zu tun, das Ratten zugetan war, oder heuchelte das menschliche Wesen, um sie womöglich zu vergiften, wie es schon mancher ihrer Schwestern widerfahren war. Jedoch dufteten Wurst, Käse, Butter und Brot so unwiderstehlich, dass sie ganz vorsichtig und flink hinter der Frau ins Zimmer huschte. Die Frau biss genussvoll in ein belegtes Brot, trank einen Schluck Milchkaffee und fiel nicht um.
„Ts, ts... , komm schon, ich habe dich entdeckt“, sagte sie und legte vom gleichen Brot ein kleines Stückchen auf den Teppich.
Es wäre zu viel, von einer Ratte zu verlangen, einen solchen Leckerbissen auszulassen. Die Ratte kam also herbei gehuscht, schnappte nach dem Brot und verschwand unter dem Schrank, wo man sie genüsslich schmatzen hörte. Hermine belegte sich alsdann ein Käsebrot, nicht, ohne gleich ein Eckchen abzuschneiden und auf dem Teppich zu deponieren.
Vielleicht bin ich schon vergiftet und im Rattenhimmel, dachte die Ratte, dies ist, bei Gott, das tollste Frühstück, das ich je hatte. Falls sie also schon im Rattenhimmel war, brauchte sie nichts mehr zu fürchten, und wenn nicht, so sagte sie sich, dann war sie vielleicht die glücklichste Ratte auf Erden. Warum also zögern?
So ließ sie alle Bedenken, angeborenen und anerzogenen Fluchtinstinkte fallen und vertilgte diesmal das Käsebrot unter Hermines freundlichem Blick. Die Furchtlosigkeit wurde umgehend belohnt, denn Hermine schnitt noch ein Eckchen Salami ab und legte es vorsichtig vor ihren Fuß.
Ein Sekündchen noch zauderte die Ratte, dann ließ sie alle Hemmungen fallen, lief zu der Wurst und begann glücklich zu nagen. Dabei schaute sie immer mal mit ihren schwarzen, glänzenden Knopfaugen zu Hermine auf. Doch die Frau machte keine Anstalten, sie zu vertreiben.
„Na, so was Gutes hast du wohl lange nicht bekommen, was? Von mir aus, es reicht für uns beide. Aber, dass du mir nicht noch hundert Schwestern herholst.“
Bin doch nicht blöd, dachte die Ratte. Weißt du nicht, dass Ratten klug sind?
Nach dem Frühstück ging Hermine zum Einkaufen aus, und die Ratte legte sich unter dem Sofa zum Schlafen nieder. Sie träumte von riesigen Würsten und Butterbroten. Doch, es sollte noch besser kommen. Als die Mittagszeit herankam, zogen aus der Küche wunderbare Düfte durch die Wohnung, und endlich kam Hermine wieder ins Zimmer. Sie trug vorsichtig ein Tablett herein, auf dem ein Teller mit dampfenden Kartoffeln, Möhren und einem knusprigen Stück Fleisch stand. Sie deckte sich den Tisch, füllte ein Saftglas und schaltete den Fernseher ein. Als sie die erste Gabel mit Fleisch zu Munde führte, sah sie geradewegs in ein sehr vorwurfsvolles Rattengesicht.
„Ja, da bist du ja wieder. Na, warte. Das kann ich nicht auf den Teppich legen.“
Und Hermine holte ein kleines Tellerchen aus dem Schrank, auf dem sie der Ratte von allem etwas zerkleinerte. Die einzigen Teller, von denen die Ratte je genascht hatte, waren, die zum Abwasch stehenden, abgegessenen Teller in der Pizzeria an der Ecke gewesen. Nie hätte sie sich träumen lassen, jemand würde ihr eigens einen Teller füllen und vor die Nase setzten.
„Ja, wenn du nun bei mir in Kost und Logis sein willst“, sagte Hermine, „dann solltest du wenigstens einen Namen haben. Wenn ich bloß wüsste, ob du ein Mädchen oder ein Junge bist.“
Die Ratte gab ein leises, glückliches Fiepen von sich, und die alte Frau entschied, dies höre sich eigentlich ganz nach einem Mädchensopran an.
„Was hältst du von Gina?“
Gina ist gut, dachte die Ratte, das kann man sich prima merken, und wieder fiepte sie leise.
Von nun an hatte Hermine ein Haustier. Gina hatte entschieden, wenn es ihr schon so gut ging ohne, dass sie etwas zum Lebensunterhalt beitragen musste, so müsse sie wenigstens besonders nett sein und sich gut benehmen, damit die Wohltaten kein Ende nähmen. Hermine konnte somit befriedigt feststellen, dass eine Ratte nicht der schlechteste Hausgenosse war. Gina wurde von Tag zu Tag zutraulicher. Sie wagte es sogar auf den Sessel zu kommen und über Hermines Schulter hinweg die bunten Fernsehbilder zu verfolgen. Manchmal fiepte sie leise. Dann strich Hermine ihr über den runden Kopf mit den großen Ohren, sah ihr in die Knopfaugen und fragte: „Na, Gina, geht es dir gut?“
Und ob, dachte Gina, und kitzelte ihrer Menschin dankbar mit den borstigen Barthaaren das Ohr. Abends bekam sie ein kleines, altes Kissen auf den Sessel gelegt, mit einem Keks darauf. Sie begriff sehr schnell, dies sollte ihr Schlafplatz sein. Ab und an zog sie aber doch die dunkle Ecke unter dem Schrank vor.
„Du bist ein praktisches Tier“, sagte Hermine eines Tages zu ihr. „Man muss dich nicht an der Leine bei Wind und Wetter ausführen, ich brauche kein besonderes Futter für dich, du bist fein leise, und dass es in der Küche ein bisschen nach Nager riecht, weil du da dein Eckchen hast, das stört mich nicht. Du bist ja eine Feine, dass du mir nicht überall in die Wohnung machst.“
Im Gegensatz zu Hermine, die gern mal hinaus ging, sei es nur zum Einkaufen und um mit der Zeitungsfrau einen Schwatz zu halten, zeigte Gina nicht das geringste Interesse, ihr Himmelreich auch nur einen Schritt weit zu verlassen. Sie saß im offenen Fenster, wenn die Spatzen gefüttert wurden. Dabei wurde sie sich immer aufs Neue ihres Glücks gewahr, dass sie mit niemandem um ihre Köstlichkeiten streiten musste. Sah sie nur von Weitem eine ihrer Artgenossinnen vorbeihuschen, so versteckte sie sich flugs, damit keine von denen wittern konnte, wie wunderbar es sich hier leben ließ. Es war ihr nicht im Geringsten nach Rattengesellschaft. Im Gegenteil. Die Barthaare sträubten sich ihr, wenn sie an die Zeiten dachte, als sie angstvoll durch Gasthausküchen huschten, um ein paar Bissen zu ergattern oder gar hinter stinkigen Mülltonnen nach Brot- und Obstresten wühlten, stets die Gefahr vor Augen, ein gutes Essen könne giftig sein. Von früh bis spät hatten sie nur zu tun gehabt, Futter zu ergattern und das nackte Leben von einem Tag zum anderen zu retten. Nein, nicht mal der Rattenhimmel konnte schöner sein, als dieses Heim mit ihrer Menschin und all den wunderbaren Dingen.
Der Winter kam. Draußen pfiff der kalte Wind, und man sah nur Stiefel vorüber gehen, die ihre Spuren in den Schnee drückten. Gina kuschelte sich abends mit in die dicke Decke, die Hermine jetzt um sich wickelte, wenn sie im Sessel vor dem Fernseher saß. Dann begann die Menschin ganz fürchterlich zu husten, und eines Tages blieb sie einfach im Bett. Gina musste in die Küche gehen und sich selbst ein Stück Brot aus dem Schrank rupfen. Eine fremde Frau kam. Sie bereitete für Hermine Essen, und Gina versteckte sich furchtsam unter dem Sofa, bis sie wieder fort war. Dann rief Hermine sie leise und ließ sie von ihrem Teller naschen, was sie ihr übrig gelassen hatte.
„Ja, Ginalein, meine Gute“, sagte sie dann wohl, „wie alt soll ich denn aber auch noch werden. Nur, was wird dann aus dir, Ginalein? Ich kann dich doch nicht einfach so verlassen. Wo lassen wir dich nur, dass es dir gut geht? Du hast bestimmt noch ein Weilchen zu leben.“
Gina fiepte traurig. Tu mir das nicht an, sollte das heißen, ich werde nie mehr so sein können, wie die anderen Ratten. Wäre ich größer, so wie du, dann würde ich dich füttern und hüten. Aber ich bin nur eine kleine Ratte. Du darfst mich nicht aus dem Paradies vertreiben.
Hermine nickte, denn nun war es oftmals so, dass sie verstand, was Gina dachte, ganz, als würde die zu ihr sprechen.
„Ginalein“, flüsterte Hermine, „wenn ich nur jemand wüsste. Es gibt doch Leute, die zahme Ratten mögen. Wüsste ich nur jemand, wohin ich dich geben kann.“
Ich will gar nicht weg von dir, fiepte Gina. Du bist meine einzige Menschin.
„Aber Menschen sterben, wenn sie alt und krank sind, Gina. Ratten auch. Wenn du mal alt bist, musst du auch gehen. Das ist so.“
Dann gehen wir zusammen, dachte Gina. Was soll es denn? Den Himmel hatte ich hier schon, warum wieder ins Elend laufen? Dann kann ich gleich in den Rattenhimmel wechseln, wo Wurst, Käse und Kuchen jeden Weg säumen. Als Gina merkte, dass Hermine nicht mehr essen konnte, der Arzt kopfschüttelnd ein- und ausging, weil sie sich strikt weigerte, in ein Heim oder Krankenhaus zu gehen, hörte auch Gina auf, den Küchenschrank zu plündern. Sie kuschelte sich an Hermines Schulter und beschloss tief zu schlafen und erst im Rattenhimmel zu erwachen.
An einem kalten Wintermorgen kam die Pflegerin zu Hermine und fand sie sanft entschlafen im Bett. Zu ihrem Entsetzen jedoch lag auf der Brust der alten Frau eine dicke, tote Ratte.
„Zustände sind das, bei manchen alten Menschen“, erzählte sie später ihren Kolleginnen. „Man hätte die Frau da längst wegbringen müssen. Stellt euch vor, eine tote Ratte im Bett! Pfui Teufel.“

Copyright© by Yvonne Habenicht 2002
Deutschland / Berlin

Bei einer einsamen alten Frau findet eine Ratte ein tierisches Himmelreich und wird für die Frau zum liebenswerten Haustier.
Yvonne Habenicht
Yvonne Habenicht, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.08.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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