Johannes Hegel

Arkadien

 

 Benjamin spazierte am Strand entlang. Und er tat es wiederum auch nicht.

Das alles war noch immer äußerst verwirrend für ihn, denn dieser Strand existierte nicht wirklich, ebenso wenig wie das Schloss aus Muscheln und Sand, das in seinem Rücken lag und in dem er die Nacht verbracht hatte. Und genau so wenig existierte der riesige Wald im Inneren der Insel oder das azurblaue Meer um sie herum. Und dennoch gab es dies alles doch.

Der Ort, an dem Benjamin sich befand, war Realität irgendwo zwischen Raum und Zeit, irgendwo zwischen dem Hier und Jetzt, und er war das erste gewesen, was Raziel geschaffen hatte, nachdem sich sein Geist mit Benjamins verbunden hatte.

Es war noch immer höchst irritierend, nicht mehr alleine zu sein. So lange Zeit hatte Benjamin mit fast niemandem geredet, seine Kommunikation mit der Außenwelt hatte sich stets nur auf das Allernötigste beschränkt, während er in seine Arbeit versunken gewesen war, um die Schatten der Vergangenheit zu verscheuchen.

Und nun, da er besessen war, war er nie mehr allein, denn sein Geist (und nicht nur der, auch seine Erinnerungen und ein nicht unbedeutender Teil seiner Seele) hatte sich mit den Erinnerungen, dem Geist und der Seele eines anderen verbunden, war mit ihnen in einer Art Symbiose eng umschlungen und zu einer seltsamen Einheit verschmolzen.

Seltsam deshalb, weil „besessen“ vielleicht das falsche Wort war. Benjamin hatte noch immer seinen eigenen Willen und sein eigenes Bewusstsein und musste sich mit dem Willen und dem Bewusstsein Raziels auseinandersetzen. Auch war die Verbindung der beiden nicht wirklich vollständig, was die fremden Erinnerungen betraf. Sehr zäh und schleppend nur, mitunter auch recht schmerzhaft, hielten sie Einzug in seinem Geist.

Während er über den Strand spazierte, den warmen Sand unter den nackten Sohlen spürte und dem beruhigenden Schlagen der Wellen lauschte, blickte Benjamin an sich herab.

Dies war sein Körper. Und er war es wiederum auch nicht.

Hier, an dem Ort, den Raziel als ihr Refugium geschaffen hatte, gemahnte nichts mehr an den schmächtigen Anwalt, der Benjamin eigentlich gewesen war. Seine Beine steckten in enganliegenden, ledernen Beinkleidern, der freie muskulöse Oberkörper und die kräftigen Arme glänzten in der Sonne. Schwarzes Haar fiel bis zur Hüfte zwischen den schwarzen Rabenschwingen hinab. Und überall waren Narben, kleine und große, sanfte Striche und tiefe Risse, wie von dem leidenschaftlichen Kratzen einer Geliebten und von den scharfen Hieben einer geißelnden Peitsche.

Benjamin hielt inne und blickte auf das Meer. All diese Narben.

Viele von ihnen stammen noch aus der Zeit vor dem Fall, Benjamin Livesay.

Benjamin erinnerte sich. Die Zeit vor dem Fall. Ja. Damals als er (er?) noch nicht in Ungnade gefallen war. Er sah sich (sich?) unter den Menschen schreiten auf den Märkten und in den Gassen, erinnerte sich, wie er und die anderen sie gelehrt hatten, sie geliebt hatten. Welch prächtige Bilder! Sie waren damals nicht gefürchtet gewesen, sondern stets willkommen mit den Gaben, die sie brachten. Mit Feuer und Zirkel, mit Pflug und mechanischen Wundern, die so groß waren, das kein menschlicher Geist sie heute mehr erfassen konnte.

Und gleichsam kehrte die Erinnerung an den Schutz zurück, den sie den Menschen gewährt hatten. Die strahlenden, glorreichen Reihen der Armeen der Rechtschaffenen, von denen er (er?) ein Teil gewesen war. Benjamin verschlug es fast den Atem, als sich vor seinem geistigen Auge die Bilder von gewaltigen Schlachten auftaten, Schlachten gegen Wesen, die jeder Beschreibung spotteten und deren Bösartigkeit ihm noch jetzt, hier in diesem Refugium und so weit von damals entfernt, den Atem raubte.

Doch in den Geruch von Schwefel, Tod und Verwüstung, der Benjamin bei diesen Erinnerungen überkam, mischte sich ein anderer Duft. Ganz leicht nur aber dennoch deutlich wahrnehmbar. Der Duft von Jasmin.

Und Benjamin erinnerte sich an sie. An Al-Anat.

Eine tiefe Traurigkeit verdrängte die Erinnerungen an die Schlachten mit einem Paukenschlag, überflutete ihn, füllte ihn gänzlich aus, bis er meinte überfließen zu müssen vor Trauer. Fast gemahnte in dieses überwältigende Gefühl an seine eigenen Erinnerungen an Cynthia und die Kinder, doch eben nur fast.

Regungslos verharrte Benjamin in der Traurigkeit. Minutenlang. Stundelang. Tagelang. Durch Jahrhunderte hindurch.

Als er wieder zur Besinnung kam, war das Gefühl des vollständigen Verlustes noch immer präsent.

Warum hat sie uns (uns?) verlassen?

Das hat sie nicht, Benjamin Livesay. Ich habe sie verlassen, als ich dem Lichtbringer Gefolgschaft leistete. Sie ist immer auf Seiten der Rechtschaffenen geblieben.

Benjamin dachte lange über Raziels Einwand nach. Er verstand vollkommen und mehr gab es nicht zu sagen. Oder doch?

Das große Brandmal auf seiner Brust begann jäh zu schmerzen. Es brannte wie damals, als das Zeichen der Verräter ihm mit glühenden Eisen sein Fleisch versengt und ihn auf immerdar gezeichnet hatte.

So viel Schmerz. So viel Trauer. So viel Einsamkeit.

Gräme dich nicht, Benjamin Livesay. Ist es nicht immer das, was wir am meisten lieben, das uns den größten Schmerz bereitet und uns hassen lässt?.

Benjamin horchte in sich hinein.
 Doch da ist kein Hass.
 Ich sprach auch nicht von uns, Benjamin Livesay. Wir existieren nur in Trauer und Einsamkeit und Schmerz und Wut. Ich sprach von ihr.
Al-Anat. Ja.
 Tief in seinem Inneren bäumte sich Benjamin gegen das Verlustgefühl auf und zwang sein Bewusstsein dazu, einen neuen Weg einzuschlagen, eine andere Frage aufzuwerfen, die vielleicht von der Trauer ablenken mochte.
 Wieso bist du hier?
 Weil dies unsere Zuflucht ist, die ich für uns geschaffen habe. Weil ich zu Kräften kommen und weil ich mich ausruhen muss nach den Strapazen der Flucht, Benjamin Livesay. Weil Du Dich ausruhen musst, bevor wir uns der Welt zuwenden
Nein. Das meine ich nicht. Wieso bist Du hier? In mir.
Hast Du denn noch nicht begriffen? Weil ich das suche, was jeder sucht, Benjamin Livesay. Weil ich das suche, was auch Du suchst.
Und Benjamin dämmerte es, als die Trauer um Al-Anat der Trauer um Cynthia wich und er spürte, dass es nun seine Einsamkeit und seine Wut und sein Schmerz waren, die ihn an den Rand des Wahnsinns zu treiben schienen .
 Weil ich suche, was auch Du suchst.
 Was jeder sucht.
 Erlösung.

 

Diese Geschichte gehört zum Zyklus von Erzählungen um Raziel und Al-Anat, sie ist sozusagen die Zwillingsgeschichte zur Erzählung "Purgatorium", die in Kürze hier erscheint..
bisherie Reihenfolge:
1.Buy-Out (Prolog)
2. Al-Anat
3. Arkadien
Johannes Hegel, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.01.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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