Dominic Memmel

Der Alte im Park

Interessanter Weise sterben die
Menschen so und so. Es gibt kein Schema, selbst wenn wir nur diejenigen
betrachten, welche eines 'natürlichen' Todes sterben. Die Glücklichen möchte
man sagen, wie sie friedlich entschlummern, vor Gott treten und ihm ein
gelebtes Leben vorweißen können. Mit Abspann, sozusagen. (Dies wiederum bringt
mich auf den Gedanken, wie unverständlich es für mich ist, wenn die Leute aus
dem Kino hetzen, ist kaum die letzte Klappe gefallen. Als wären sie Buddhisten
und im nächsten Moment gäbe es im Filmsaal nebenan einen weiteren Film, ein
weiteres Leben anderer Leute. Diesen gehetzten Leuten unterstelle ich, dass sie
sich bei ihrem eigenen Ende ans Leben klammern werden, eine Zugabe fordern,
einen zweiten Teil...)
Doch es gibt Tode, wie sie nicht
jeden ereilen. Der vom Löschflugzeug aufgesaugte Taucher, zum Beispiel. Oder
die immer wieder in der Zeitung stehenden Blitzschlagopfer.
Oder...
 
Ich saß in einem Park und beobachtete einen alten Mann. Er
war klein, vielleicht einen und einen halben Meter hoch, doch war sein Rücken
so sehr gekrümmt, dass man ihn mit Gewalt bestimmt auf einen Meter
fünfundsiebzig hätte strecken können. Er trug einen dunklen, zerfaserten
Filzmantel, der ihm bis zu den Knöcheln reichte, und an den Füßen trug er zu
große, ausgetretene Lederstiefel. Auf dem haarlosen Köpfchen saß eine
rot-schwarz-grünes Müte.
Es war Sommer, ein sehr kalter
August mit Regen und verärgerten Urlaubern, doch für Filz und Wolle war es in
meinen Augen noch nicht kalt genug. Dem Männchen schien es nichts auszumachen.
Ich sitze gerne etwas abseits,
was nicht heißt alleine, und beobachte das bunte, oftmals auch farblose Treiben
der Menschen. Ich trinke mein Bier und mache Notizen. Nach dem dritten Bier
beginne ich exzessiv den Leuten Lebensgeschichten anzudichten. Diese
Lebensgeschichten basieren meist einzig auf einen Augenblick - eine Frau
schwebt durch den Raum, sie lässt sich feiern, ihre Wimpern tragen zu viel Tusche,
ihr Blick ist gehetzt, sie flieht vor ihrem Freier - und blieben, würde ich
mich mit den Betreffenden in einen Dialog verstricken, unhaltbar. Man hätte
mich schon von manchem Empfang entfernt, hätte ich einen Projektor auf dem
Kopf, welcher meine Gedanken projiziert. Manches mal gar klappe ich wie
selbstverständlich mein Notizbuch zu, wenn sich jemand neben mich setzt (zum
Beispiel die Prostituierte, die vor ihrem Freier flieht.) Nun kam der alte Mann
auf mich zu.
"Setzen Sie sich," bot
ich ihm den leeren Platz neben mir an.
"Ist der Platz
besetzt?" entgegnete er mit ausgesuchter Höflichkeit. Aus der Nähe
erkannte ich sein zernarbtes, alkoholkrankes Gesicht als das Antlitz eines
Besessenen. Seine Stimme dagegen war so weich, als wäre sie der Gegenpol zu
seinem rauen Äußeren.
"Nein. Schon lange nicht
mehr."
Er stutzte.
"So setzen Sie sich
doch," forderte ich ihn weiterhin auf. Schließlich war er recht
zielstrebig zu mir gekommen. Mit meinem Angebot wollte ich nicht mehr, als ihm
eine Peinlichkeit ersparen. "Der Platz ist frei und sie stören mich
nicht."
"Danke." Er bleib
stehen und fixierte mich. Lange waren wir uns so gegenüber, das stehende
Männchen kaum höher als ich, sitzend auf der Bank. Wir blickten uns tief in die
Augen und wieder lief in meinem Kopf eine gesamte Lebensgeschichte herunter. Es
war keine gute Geschichte, vielmehr handelte sie von Tod und Verlust, Leid,
Gewalt und versagter Liebe. Man hatte seine Kinder erschossen, als er zwanzig
war. Mit vierzig wurde er obdachlos. Heute morgen aß er halbe Äpfel aus einer
Tonne. Plötzlich lachte er laut auf und sein fauler Atem schien mir schier das
Gesicht zu zerfressen.
"Keine Ahnung hast du!"
rief er und setzte sich neben mich. "Keine Ahnung von nichts."
Wieder blickten wir uns an. Er
hob den rechten Zeigefinger, ein krummes Ding, braun wie Erde, und ich dachte,
er wolle mir etwas am Himmel zeigen. Wolken. Die Sonne, vielleicht. Oder
Zugvögel. Doch bevor ich nach oben schauen konnte, da bohrte sich ein
pechschwarzes Spinnebein aus seiner erhobenen Fingerkuppe, wurde länger und
länger, zehn, zwanzig Zentimeter, züngelte den Wolken entgegen und neigte sich
bald herab um meinem Gesicht einen Besuch abzustatten. Der Alte zeigte keine
Regung.
Was sollte ich tun? Ich sprang
auf und fiel rücklings in den Schotter des Fußweges. Kleine Steinchen spritzen
unter mir davon, meine Handballen brannten fürchterlich und schon begann das
Blut zu fließen. Ich bohrte meine Füße in den Schotter und schleuderte mich
fort von der Bank und dem Alten. Das Spinnenbein war mittlerweile über einen
Meter lang geworden, vielgliedrig und verfolgte mich gleich einem Unwetter:
gemächlich und unaufhaltsam. Ich strampelte weiter davon, spürte bald kaltes,
feuchtes Gras unter mir und meine Handballen waren dankbar dafür.
Nach einigen Metern stieß ich mit
dem Rücken an die Rinde eines Baumes. Gleich einem filigranen Bogen aus dem
höllischsten Alptraum eines kranken Geistes überspannte das Spinnenbein den
Gehweg, an seinem einen Ende der Finger des Alten, der noch immer in Filz und Wolle
schier unbeteiligt auf der Bank saß, und am anderen Ende eine teuflisch
züngelnde Spitze, keinen halben Meter von mir entfernt.
Die Sackgasse, in welche ich
geraten war, schenkte mir einen verzweifelten Mut. Ich sprang auf, packte das
Ende des Spinnenbeins mit solcher Gewalt, dass es brach und arbeitete mich auf
diese Weise voran, dem Alten entgegen. Entgegen meiner Vorstellung war das
Spinnenbein schwach und leistete kaum Widerstand, so dass ich nach wenigen
Sekunden vor dem Alten stand und seinen erhobenen Zeigefinger hielt. Kalte Luft
umströmte meinen aufgeheizten Körper, mein eigener Mantel flatterte und so kam
es, dass ich mit dem Spinnenbein nicht endete. Ich brach dem Alten den Finger,
die Hand, Unterarm, Oberarm, Schulter, griff unter den Mantel, rammte meine
Hand in sein faules Fleisch, brach Rippe für Rippe, das Rückgrat, setzte meine
Knie gegen seine Beine und irgend wann, als ich aus meinem Rausch erwachte war
die Bank voll Blut und Knochensplitter. Von dem Alten war nichts weiter mehr
übrig.
Ich ging nach Hause, wusch mich,
wusch meine Kleidung und legte mich schlafen.
  Ich träumte von einer kleinen Spinne über meinem Bett. Sie sagte:
"Du hast keine Ahnung," hob ihr Spinnenbein und ein kleiner
menschlicher Arm wuchs daraus hervor, packte mich am Kragen und würgte mir die
Seele aus dem Leib...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.01.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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