Eine
Zeit lang hatte sie versucht sich und ihre Situation zu verändern.
Sie
hatte sich Mut gemacht, hatte sich gut zugeredet und dachte bei sich
„vielleicht klappt es mit Willensstärke“, „vielleicht kann ich etwas ändern,
vielleicht kann ich mich selbst ändern“. Im gleichen Moment wusste sie aber,
dass der Versuch nichts taugte, vielleicht war auch das der Grund, warum sie es
nicht oft versuchte. Zuerst etwas häufiger, dann immer weniger, bis sie nur
noch träumte, es sich vorstellte.
Ein rostiges Messer
Eine
Zeit lang hatte sie auch nur ihre Situation ändern wollen, wenigstens das. Aber
auch der Versuch verlief im Sande. Er zerrann, rieselte aus ihren Fingern und
bleib am Boden hängen, bis der Wind ihn davontrug, bis er ins Nichts
verschwand. Also ließ sie es. Sie dämmerte in den Tag hinein, versuchte ihn
irgendwie hinter sich zu bringen, andererseits dachte sie bei sich, „warum
nur?“, „was bringt es mir?“. Die Tage vergingen, mit Schlafen, mit Essen –
Schlafen und Essen musste sie, das konnte sie nicht verleugnen, auch wenn sie
keinen großen Appetit hatte und auch wenn sie nicht wirklich gut schlief. Sie
träumte viel, träumte von einer Veränderung, die sich nicht erfüllte. Wenn sie
schlief, schlief sie unruhig. In der ersten Zeit schlief sie nur unterbrochen
vom Weinen. Dann träumte sie nur noch, dass sie weinte, ihr liefen im Schlaf
die Tränen die Wangen runter, sodass sie am nächsten Morgen von der Kälte auf
ihrem Kissen aufwachte.
Die
restliche Zeit dachte sie nach.
Dachte
über sich nach, dachte über ihre Lage nach, dachte über das Buch nach. Sie
hatte nur ein Buch bei sich, es war immer bei ihr, war es schon immer gewesen.
Sogar in ihren Träumen sah sie es vor sich.
Der Geruch des Waldes
Es
verfolgte sie könnte man meinen. Ihre Versuche das Buch zu zerreißen,
anzuzünden oder unkenntlich zu machen, misslangen ihr, denn sie brachte es
einfach nicht über sich ein Buch zu zerstören. „Außerdem“, dachte sie bei sich
„ist es das Einzige, was ich noch habe“. Also hütete sie es, als wäre es mit Gold
aufzuwiegen, als wäre es die Lösung.
Alles
andere verdrängte sie.
Manchmal
im Kerzenschimmer, wenn sie in dem Buch las, tauchten Fragmente des Realen auf,
sekundenlang und verschwanden dann wieder. Diese Fragmente häuften sich, je
müder sie wurde, versuchten in ihren Schlaf einzudringen. Dann dachte sie
verkrampft an etwas anderes, bis sie verschwanden. Allmählich hatte sie sie
unter Kontrolle. Jeder Mensch braucht etwas, das er unter Kontrolle halten
kann, auch sie. Und sie war stolz. „Vielleicht war es ja auch ein Selbstschutz,
von dem alle Menschen immer reden, aber nein es war doch nichts. Kein
Selbstschutz, nur Kontrolle.“ Dieser Gedanke verging, wie er gekommen war, ins
Nichts und blieb dort, bis er wieder auftauchte. Er lauerte, schlich sich an,
wartete auf eine Gelegenheit.
Das
war nicht schlimm, sie war daran gewöhnt, war dagegen gewappnet.
Das
Schlimmste war die Einsamkeit.
Sie
wusste, dass sie nicht immer allein war, aber sie war immer einsam.Sie
mochte die Einsamkeit, als sie nicht einsam war. Jetzt wünschte sie sich, dass
sie sie mochte, auch wenn sie einsam war.
Ein rundes Loch im Boden
Allein
gelassen mit ihren Gedanken, mit dem Buch mit dem Kerzenschimmer. Es waren
viele Kerzen gewesen, der Beweis lag in einer Ecke, dort war ein kleiner Haufen
mit Kerzenstümpfen. Es war ein friedliches Bild, ohne Gefahr. Die Kerzenstümpfe
waren tot, konnten ihr nichts anhaben. Sie zeugten davon, dass sie mal gebrannt
haben, dass sie ihr Wärme und Licht geschenkt haben.
Dunkelheit
Kälte
Licht zum Lesen. Licht um sich
selbst zu sehen, ihre Hände, ihre Beine, ihren gesamten Körper, aber nicht ihr
Gesicht. Sie wusste nicht mehr wie sie aussah, wusste nur dass es ihre Haare
sind und fühlte, dass es ihr Gesicht ist.
Sternenschimmer
Eine dunkle Gestalt
In
der Schüssel auf dem Boden war schmutziges Wasser, in dem ein paar Blätter
trieben, erst schnell, aufgewirbelt. Aber sie wusste, dass sich das Wasser
schnell beruhigen würde. Das tat es jedes mal, wenn sie sich gewaschen hatte. Es
war eine Abwechslung das Wasser zu beobachten, eine Abwechslung zu den
Steinwänden, die sich nicht bewegten, die still da standen. Eine Abwechslung
zur Kerze, die flackerte und vorgab lebendig zu sein, aber es nicht war. Sie
dachte an einen Spruch aus einem Schulbuch „Wasser ist der Ursprung allen
Lebens“. Daran dachte sie und beobachtete das Wasser, wie es schwappte. Und die
Blätter, wie Schiffe auf hoher See, sich über dem rauen Meeresspiegel haltend,
bis sie unweigerlich darin versanken. Diesmal konnte sie das Schauspiel
beobachten, davor nicht.
Jetzt
hatte sie Zeit dazu.
Das Buch
Sie
hatte viel Zeit, „viel Zeit, wofür eigentlich?“. Zum Lesen, sie konnte das Buch
schon auswendig, konnte jede Seite wiederholen und wusste wann eine bestimmte
Stelle auftauchen würde. So als wenn sie ihr Lieblingsbuch las, dass sie heiß
und innig liebte und immer wieder lesen musste, weil es ihr so gut gefiel.
Aber
dies war nicht ihr Lieblingsbuch. Nein, sie wollte jetzt nicht lesen. Sie
sträubte sich dagegen. Stattdessen zählte sie die Steine an den Wänden, es
waren immer dieselben Steine, die sie fast genauso gut kannte wie das Buch.
Aber sie zählte nicht immer dieselben, mal zählte sie nur die Steine, auf die
die Kerze traf, dann wieder alle insgesamt.
Die Kerze
„Sie
alle erzählten von mir, sie alle beobachteten mich“, dachte sie und sie
wünschte mit ihnen reden zu können, einfach nur damit sie jemanden hatte mit
dem sie reden könnte. Sie vermisste das Reden, hoffte, dass sie ihre Sprache
nicht verlernte. Manchmal versuchte sie sich selbst etwas vorzulesen oder sich
selbst ausgedachte Geschichten zu erzählen, nur um zu hören, wie ihre Stimme
klang. In der Dunkelheit und inmitten der Steinwände klang ihre Stimme fast wie
eine fremde und sie stellte sich vor, dass jemand bei ihr wäre, mit dem sie
reden könnte. Der sie über das Alles hinweghalf und sie umsorgte, der ihr
vorlas. Als sie sich selbst nicht mehr täuschen konnte, sie sich an die fremde
Stimme, an ihre fremde Stimme gewöhnt hatte, sprach sie mit den Steinen. Über
ihre vielen Gedanken, ihre Gefühle, ihr einsames Leben.
Aber
auch nur über das Wasser, die Blätter, den Kerzenschein und das Buch.
Die dunkle Gestalt
Bald
wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte. Sie hatte schon über Alles
geredet, was sie dachte, was sie sich vorstellte und was sie sah. Auch über ihr
früheres Leben hatte sie geredet, solange bis es ihr unwirklich vorkam. Wie aus
dem Leben einer anderen Person, eine interessante Person, die man bewunderte,
über die es sich lohnte zu reden, wie man es früher in jeder Zeitung gelesen hat.
Aber sie bekam keine Antwort von den Steinen, die Steine blieben stumm, kalt
und leer wie vorher.
Jetzt
fühlte sie es wieder.
Diese
merkwürdigen leeren Gefühle, ohne Aussage „nein nicht leer“, sondern ständig
da. Sie verschwanden niemals, auch wenn sie ihr nicht mehr auffielen, schon
lange nicht mehr. Einfach da, als wenn sie schon immer da gewesen sind, sie zu
ihr gehörten. Sie fühlte sie nicht mehr, sie lebte sie. Das einzige Leben, das
sie noch kannte, noch wahrnahm, ohne dass sie jemals den Sinn begreifen wollte,
und sie die Möglichkeit hatte, darüber reden zu können, davon erzählen zu
können.
Nicht
mal darüber nachdenken wollte.
Schmerzen
Also
nahm sie wieder das Buch in die Hände, nicht um eine Beschäftigung zu suchen,
sondern um ihre Gedanken zu fesseln. Sie schaute nach der Kerze, sie brannte
weiter ohne jemals etwas von den Gedanken mitbekommen zu haben, brannte und
verbreitete Wärme und Licht.
Und
sie begann zu lesen …
Sie wusste nicht
mehr wie lange schon, sie wusste nur dass es in ihren Augen schon Ewigkeiten
her war, dass sie sich wirklich gut gefühlt hat. Ihr kamen Sekunden wie Minuten
vor, Minuten wie Stunden, Stunden wie Tage, Tage wie Monate und Monate wie
Jahre...
Ende
© Written by Martina Schwarz