Martina Schwarz

Das Buch

Das Buch
 
   
Sie wusste nicht mehr wie lange schon, sie wusste nur dass es in ihren Augen schon Ewigkeiten her war, dass sie sich wirklich gut gefühlt hat. Ihr kamen Sekunden wie Minuten vor, Minuten wie Stunden, Stunden wie Tage, Tage wie Monate und Monate wie Jahre. In der ersten Zeit wusste sie durch ihren Schlaf- und Wachrhythmus, ob es Tag oder Nacht war. Als sich ihr Tagesablauf änderte, wusste sie selbst das nicht mehr. Nur abundzu wurde sie sich dessen bewusst, dass es Tag war, obwohl sie schlief und es Nacht war, obwohl sie wach war. Wenn sie dieses erkannte, stellte sie sich wieder auf das Normale ein, bis es sich wieder, langsam aber sicher veränderte.
                                                                                                                                Ein dunkler Umriss 
Jeder Tag brachte das Gleiche wie der vorige, ohne dass sie irgendeinen Einfluss darauf hatte. Er war nach Außen hin unterschiedlich, doch Im Inneren spürte sie, dass sie sich ähnelten, nur vorgaben etwas Neues zu bringen. Sie wusste, dass sie keinen Einfluss darauf hatte. Egal, was sie auch machte, unternahm oder versuchte, sie war machtlos.
Eine Zeit lang hatte sie versucht sich und ihre Situation zu verändern.
Sie hatte sich Mut gemacht, hatte sich gut zugeredet und dachte bei sich „vielleicht klappt es mit Willensstärke“, „vielleicht kann ich etwas ändern, vielleicht kann ich mich selbst ändern“. Im gleichen Moment wusste sie aber, dass der Versuch nichts taugte, vielleicht war auch das der Grund, warum sie es nicht oft versuchte. Zuerst etwas häufiger, dann immer weniger, bis sie nur noch träumte, es sich vorstellte.
                                                                                                                               Ein rostiges Messer 
Eine Zeit lang hatte sie auch nur ihre Situation ändern wollen, wenigstens das. Aber auch der Versuch verlief im Sande. Er zerrann, rieselte aus ihren Fingern und bleib am Boden hängen, bis der Wind ihn davontrug, bis er ins Nichts verschwand. Also ließ sie es. Sie dämmerte in den Tag hinein, versuchte ihn irgendwie hinter sich zu bringen, andererseits dachte sie bei sich, „warum nur?“, „was bringt es mir?“. Die Tage vergingen, mit Schlafen, mit Essen – Schlafen und Essen musste sie, das konnte sie nicht verleugnen, auch wenn sie keinen großen Appetit hatte und auch wenn sie nicht wirklich gut schlief. Sie träumte viel, träumte von einer Veränderung, die sich nicht erfüllte. Wenn sie schlief, schlief sie unruhig. In der ersten Zeit schlief sie nur unterbrochen vom Weinen. Dann träumte sie nur noch, dass sie weinte, ihr liefen im Schlaf die Tränen die Wangen runter, sodass sie am nächsten Morgen von der Kälte auf ihrem Kissen aufwachte.
Die restliche Zeit dachte sie nach.
Dachte über sich nach, dachte über ihre Lage nach, dachte über das Buch nach. Sie hatte nur ein Buch bei sich, es war immer bei ihr, war es schon immer gewesen. Sogar in ihren Träumen sah sie es vor sich.
                                                                                                                        Der Geruch des Waldes 
Es verfolgte sie könnte man meinen. Ihre Versuche das Buch zu zerreißen, anzuzünden oder unkenntlich zu machen, misslangen ihr, denn sie brachte es einfach nicht über sich ein Buch zu zerstören. „Außerdem“, dachte sie bei sich „ist es das Einzige, was ich noch habe“. Also hütete sie es, als wäre es mit Gold aufzuwiegen, als wäre es die Lösung.
Alles andere verdrängte sie.
Manchmal im Kerzenschimmer, wenn sie in dem Buch las, tauchten Fragmente des Realen auf, sekundenlang und verschwanden dann wieder. Diese Fragmente häuften sich, je müder sie wurde, versuchten in ihren Schlaf einzudringen. Dann dachte sie verkrampft an etwas anderes, bis sie verschwanden. Allmählich hatte sie sie unter Kontrolle. Jeder Mensch braucht etwas, das er unter Kontrolle halten kann, auch sie. Und sie war stolz. „Vielleicht war es ja auch ein Selbstschutz, von dem alle Menschen immer reden, aber nein es war doch nichts. Kein Selbstschutz, nur Kontrolle.“ Dieser Gedanke verging, wie er gekommen war, ins Nichts und blieb dort, bis er wieder auftauchte. Er lauerte, schlich sich an, wartete auf eine Gelegenheit. Das war nicht schlimm, sie war daran gewöhnt, war dagegen gewappnet.
Das Schlimmste war die Einsamkeit.
Sie wusste, dass sie nicht immer allein war, aber sie war immer einsam.Sie mochte die Einsamkeit, als sie nicht einsam war. Jetzt wünschte sie sich, dass sie sie mochte, auch wenn sie einsam war.
                                                                                                                   Ein rundes Loch im Boden 
Allein gelassen mit ihren Gedanken, mit dem Buch mit dem Kerzenschimmer. Es waren viele Kerzen gewesen, der Beweis lag in einer Ecke, dort war ein kleiner Haufen mit Kerzenstümpfen. Es war ein friedliches Bild, ohne Gefahr. Die Kerzenstümpfe waren tot, konnten ihr nichts anhaben. Sie zeugten davon, dass sie mal gebrannt haben, dass sie ihr Wärme und Licht geschenkt haben.
                                                                                                                                                Dunkelheit
                                                                                                                                                          Kälte
Licht zum Lesen. Licht um sich selbst zu sehen, ihre Hände, ihre Beine, ihren gesamten Körper, aber nicht ihr Gesicht. Sie wusste nicht mehr wie sie aussah, wusste nur dass es ihre Haare sind und fühlte, dass es ihr Gesicht ist.
                                                                                                                                    Sternenschimmer
                                                                                                                                 Eine dunkle Gestalt
In der Schüssel auf dem Boden war schmutziges Wasser, in dem ein paar Blätter trieben, erst schnell, aufgewirbelt. Aber sie wusste, dass sich das Wasser schnell beruhigen würde. Das tat es jedes mal, wenn sie sich gewaschen hatte. Es war eine Abwechslung das Wasser zu beobachten, eine Abwechslung zu den Steinwänden, die sich nicht bewegten, die still da standen. Eine Abwechslung zur Kerze, die flackerte und vorgab lebendig zu sein, aber es nicht war. Sie dachte an einen Spruch aus einem Schulbuch „Wasser ist der Ursprung allen Lebens“. Daran dachte sie und beobachtete das Wasser, wie es schwappte. Und die Blätter, wie Schiffe auf hoher See, sich über dem rauen Meeresspiegel haltend, bis sie unweigerlich darin versanken. Diesmal konnte sie das Schauspiel beobachten, davor nicht.
Jetzt hatte sie Zeit dazu.
                                                                                                                                                 Das Buch 
Sie hatte viel Zeit, „viel Zeit, wofür eigentlich?“. Zum Lesen, sie konnte das Buch schon auswendig, konnte jede Seite wiederholen und wusste wann eine bestimmte Stelle auftauchen würde. So als wenn sie ihr Lieblingsbuch las, dass sie heiß und innig liebte und immer wieder lesen musste, weil es ihr so gut gefiel.
Aber dies war nicht ihr Lieblingsbuch. Nein, sie wollte jetzt nicht lesen. Sie sträubte sich dagegen. Stattdessen zählte sie die Steine an den Wänden, es waren immer dieselben Steine, die sie fast genauso gut kannte wie das Buch. Aber sie zählte nicht immer dieselben, mal zählte sie nur die Steine, auf die die Kerze traf, dann wieder alle insgesamt.
                                                                                                                                                 Die Kerze 
„Sie alle erzählten von mir, sie alle beobachteten mich“, dachte sie und sie wünschte mit ihnen reden zu können, einfach nur damit sie jemanden hatte mit dem sie reden könnte. Sie vermisste das Reden, hoffte, dass sie ihre Sprache nicht verlernte. Manchmal versuchte sie sich selbst etwas vorzulesen oder sich selbst ausgedachte Geschichten zu erzählen, nur um zu hören, wie ihre Stimme klang. In der Dunkelheit und inmitten der Steinwände klang ihre Stimme fast wie eine fremde und sie stellte sich vor, dass jemand bei ihr wäre, mit dem sie reden könnte. Der sie über das Alles hinweghalf und sie umsorgte, der ihr vorlas. Als sie sich selbst nicht mehr täuschen konnte, sie sich an die fremde Stimme, an ihre fremde Stimme gewöhnt hatte, sprach sie mit den Steinen. Über ihre vielen Gedanken, ihre Gefühle, ihr einsames Leben.
Aber auch nur über das Wasser, die Blätter, den Kerzenschein und das Buch.
                                                                                                                                  Die dunkle Gestalt 
Bald wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte. Sie hatte schon über Alles geredet, was sie dachte, was sie sich vorstellte und was sie sah. Auch über ihr früheres Leben hatte sie geredet, solange bis es ihr unwirklich vorkam. Wie aus dem Leben einer anderen Person, eine interessante Person, die man bewunderte, über die es sich lohnte zu reden, wie man es früher in jeder Zeitung gelesen hat. Aber sie bekam keine Antwort von den Steinen, die Steine blieben stumm, kalt und leer wie vorher.
Jetzt fühlte sie es wieder.
Diese merkwürdigen leeren Gefühle, ohne Aussage „nein nicht leer“, sondern ständig da. Sie verschwanden niemals, auch wenn sie ihr nicht mehr auffielen, schon lange nicht mehr. Einfach da, als wenn sie schon immer da gewesen sind, sie zu ihr gehörten. Sie fühlte sie nicht mehr, sie lebte sie. Das einzige Leben, das sie noch kannte, noch wahrnahm, ohne dass sie jemals den Sinn begreifen wollte, und sie die Möglichkeit hatte, darüber reden zu können, davon erzählen zu können.
Nicht mal darüber nachdenken wollte.
                                                                                                                                              Schmerzen 
Also nahm sie wieder das Buch in die Hände, nicht um eine Beschäftigung zu suchen, sondern um ihre Gedanken zu fesseln. Sie schaute nach der Kerze, sie brannte weiter ohne jemals etwas von den Gedanken mitbekommen zu haben, brannte und verbreitete Wärme und Licht. Und sie begann zu lesen …      
 
 
Sie wusste nicht mehr wie lange schon, sie wusste nur dass es in ihren Augen schon Ewigkeiten her war, dass sie sich wirklich gut gefühlt hat. Ihr kamen Sekunden wie Minuten vor, Minuten wie Stunden, Stunden wie Tage, Tage wie Monate und Monate wie Jahre...       

 
 
 
Ende
 
 
© Written by Martina Schwarz 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.01.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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